Conrad Bodmer, Landvogt zu Greifensee, und seine Familie bei Tisch
Im 17. Jahrhundert sah Tischzucht so aus. Das Bild von Johann Jakob Sulzer (1631 (?) -1665) zeigt Conrad Bodmer, Landvogt zu Greifensee, und seine Familie bei Tisch. Es wurde 1643 gemalt. Das Gemälde befindet sich als Depositum im Schweizerischen Nationalmuseum. Schweizerisches Nationalmuseum

Der Ekel, die Moral und die Gabel

Zur Entwicklung von Tafelkultur und Tischsitten.

Daniel Di Falco

Daniel Di Falco

Daniel Di Falco ist Historiker und Kulturjournalist. Bild: Dieter Fahrer

Samstagvormittag im Warenhaus, Lebensmittelrayon, Warten an der Käsetheke, keine besonderen Vorkommnisse. Oben auf der Theke: eine Platte mit Schimmelkäse zum Probieren, schon hebt sich die Hand ungefragt in Richtung Schimmelkäsebrocken. Zugleich vollziehen Daumen und Zeigefinger eine leichte Spreizbewegung, auch das macht die Hand automatisch: den Zugriff vorbereiten.

Jetzt aber fällt der Blick neben die Platte, ein Becher, darin Zahnstocher. Muss man die wirklich benutzen? Und noch ein Becher, für die gebrauchten. Überhaupt kein Problem, einen Käsebrocken zu greifen und dabei keinen anderen zu berühren; es geht auch unkompliziert. Weitermachen also, die Hand ist schon unterwegs. Aber die Zahnstocher. Und die Gegenwart des Verkäufers. Der Mann trägt Handschuhe, noch eine stumme Mahnung. Also doch noch umschwenken zu den Zahnstochern? Aber zu welchen? Jäher Ekel angesichts der Vorstellung, beide Becher zu verwechseln. Überhaupt: diese angespeichelten Dinger gleich neben dem frischen Käse. Zu viele ungemütliche Gedanken. Und jetzt ist auch klar, dass die Zeit bis zur Ankunft der Hand auf der Theke nicht mehr reichen wird, um das Dilemma aufzulösen.

Manöverabbruch also, im letzten Moment. Die Hand bleibt unten und der Schimmelkäse unbehelligt. Fragt sich jetzt nur, warum einem Zahnstocher ein Gewissen machen können. Woher kommt die Macht so banaler Gegenstände über menschliches Benehmen? Und warum rührt dieses Benehmen so rasch an die Reflexe, an ebenso tief sitzende wie schwer zu kontrollierende Empfindungen des Ekels und des Widerwillens?

Gott und die Gabel

Norbert Elias hat die Antwort. Den Zahnstocher erwähnt er nicht, aber der 1990 gestorbene deutsche Soziologe hat in den Dreissigerjahren eine ganze Gesellschaftstheorie aus unserer Beziehung zu Besteck und Geschirr entwickelt. Und dazu gehört auch der Umstand, dass der Mensch des Abendlands das Taschen- und nicht mehr das Tischtuch benutzt, um sich die Nase zu putzen. In solchen Formen und Normen des Verhaltens erkennt Elias exemplarisch jene epochale Entwicklung, die er in seinem gleichnamigen Buch aus den Dreissigerjahren den «Prozess der Zivilisation» nennt: In moderner werdenden Gesellschaften haben sich die Umgangsformen verfeinert. Das klingt nach blosser Etikette. Aber gerade das Beispiel der Gabel zeigt, dass die abendländische Welt seit dem Mittelalter nicht bloss einen Benimmkurs absolvierte: Tiefgreifend verändert wurde auch, was Elias einmal «Seele» nennt.

Die Gabel und das Mittelalter also. Im 11. Jahrhundert heiratet der Doge von Venedig eine byzantinische Prinzessin, und weil es in ihren Kreisen üblich ist, benutzt sie auch am venezianischen Hof Gabeln zum Essen, «goldene Gäbelchen mit zwei Zinken», wie ein Chronist berichtet. Das wird ein Skandal. Die Kirche protestiert: Gott habe die Finger geschaffen, mit ihnen sollte der Mensch seine Gaben berühren. Und als die Prinzessin wenig später schwer erkrankt, erklärt man das zur gerechten Strafe von oben. Es dauert dann noch lange, bis sich die Gabel in Italien etabliert, zumindest in der Oberschicht. Wobei man sie zunächst nur verwendet, um die Speisen aus der gemeinsamen Schüssel zu holen. Aber ab dem 16. Jahrhundert verbreitet sie sich nordwärts, zuerst nach Frankreich, später nach England und Deutschland. «Gott behüte mich vor Gäbelchen», meint Martin Luther 1518. Und auch ein englischer Reisender, der 1608 in Italien die Gabel kennen lernt und das neue Luxusobjekt nun seinen Landsleuten begreiflich machen will, erntet von ihnen noch Spott.

Die Gabel hatte lange nur zwei Zinken, wie auf diesem Porträt des böhmischen Malers Johann Kupetzky (1667 - 1740) gut zu sehen ist.

Ekel ist lernbar

Man kann nun über den Widerstand staunen, mit dem man der Gabel zuerst begegnet ist. Oder aber umgekehrt, und das wird aufschlussreicher, über unseren Widerstand gegen die Vorstellung, ohne Gabeln auskommen und wieder mit blossen Händen essen zu müssen. «Was wir als das Selbstverständlichste empfinden», so Norbert Elias, «musste von der Gesellschaft erst mühsam und langsam erworben und durchformt werden.» Wobei zu dieser «Durchformung» auch das starke Gefühl des Widerwillens gehört, das sich unwillkürlich und scheinbar naturwüchsig regt, wenn einer dieser Standards gebrochen wird. Dieses Gefühl ist vorher nicht da, es bildet sich erst mit dem Anstand heraus, als dessen Kehrseite. Der Ekel vor dem Ungehörigen ist kein Instinkt, sondern ein Kulturprodukt wie der Gebrauch von Besteck.

Zurück also in die Zeit, als das Mittelalter aufhört und die Neuzeit beginnt. Bis um 1800 werden sich im Wesentlichen jene Normen bilden, die heute normal sind. Es gehöre sich nicht, heisst es in einem französischen Benimmbuch von 1555, «sich bei Tisch am Kopf zu kratzen und an Hals und Rücken nach Läusen, Flöhen oder anderem Ungeziefer zu suchen und es vor den Augen anderer Leute zu töten». Ein anderes untersagt es, beim Essen zu rülpsen und sich zu übergeben. Abgenagte Knochen wirft man nicht in die gemeinsame Schüssel zurück. Gekautes behält man im Mund. Kerne spuckt man nicht aus, sondern zieht sie mit den Fingern aus dem Mund. Und die Serviette ist nicht zum Schneuzen da und auch nicht zum Reinigen der Zähne.

Das alles würde kaum geächtet, wenn es nicht weit verbreitet wäre. Und es wäre kaum verbreitet, wenn es den Mitgliedern der höfischen Gesellschaften, an die sich diese «Tischzuchten» zunächst richten, schon immer zuwider gewesen wäre. Was die ganze «Zivilisierung» nach Norbert Elias antreibt, ist etwas anderes: Es ist eine Art kulturgeschichtliche Evolution, in deren Verlauf sich die Umgangsformen zunehmend verfeinern, weil sich die Gesellschaften laufend komplexer und engmaschiger organisieren. So eine Gabel verändert eben auch die «Beziehungen von Mensch zu Mensch» (Elias). Damit schafft man Distanz, zum Essen, zum Nachbarn und, nicht zuletzt, zu sich selber.

Der Zwang wird zum «Selbstzwang»

Tatsächlich bedeutet der «Prozess der Zivilisation» auch eine zunehmende Zurückhaltung der Affekte. Elias spricht von einem «Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle». Von einer «immer differenzierteren Regelung der gesamten psychischen Apparatur». Und davon kann man sich ein Bild machen, wenn man sich die gewachsene Palette von Tischsitten und Esswerkzeugen ansieht. Es gibt ja nicht nur Gabeln. Sondern auch Schnecken- oder Hummergabeln. Zudem Tafelmesser, Buttermesser, Fischmesser, Steakmesser, Käsemesser. Und Suppenlöffel, Dessertlöffel, Kaffeelöffel. Sowie Espressolöffelchen.

Sind das Werkzeuge, die wir benutzen, um dem Comment zu folgen? Womöglich ist es umgekehrt: Sie benutzen uns, damit wir uns richtig benehmen. Norbert Elias erklärt auch, wie neue Verhaltensnormen verinnerlicht werden. Der Anstandzwang wird zum «Selbstzwang», dessen sich der Einzelne «nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewusstsein will».

Genau darum scheut der Einzelne vor dem Zahnstocher auf der Käsetheke zurück. In dem bisschen Holz tritt ihm sein Selbstzwang entgegen.

Für die Werbung werden die Tischsitten auch mal ausser Kraft gesetzt. Wie bei diesem Foto, auf dem ein Mädchen einen Bären mit Schokolade füttert. Das Werbebild für Chocolat Lucerna wurde 1893 aufgenommen. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

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