Serie: Das Schweizer Primar­schul­sys­tem – Teil 1

Infolge der Reformation und der Erfindung des Buchdrucks kamen im 16. Jahrhundert breitere Bevölkerungsteile in den Genuss einer Schulbildung. Bis zum heutigen «Bildungsstandard» war es jedoch ein weiter Weg.

Hans-Ulrich Grunder

Hans-Ulrich Grunder

Professor Hans-Ulrich Grunder ist Direktor des Instituts für Bildungswissenschaften der Universität Basel.

Das Schweizer Schulwesen ist seit dem Beginn seiner Existenz kantonal geregelt. Darum kennen wir in der Schweiz 26 unterschiedliche, aber immer in mindestens drei Stufen (Primarstufe, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II, tertiäre Stufe) unterteilte Schulsysteme. Neben dem Gymnasium im Bereich der Sekundarstufe II bestanden ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Primarschulen, deren Aufgabe die Grundbildung aller Kinder war. Später kamen im Bereich der Sekundarstufe I, weitgehend in grösseren Orten, Städten und Agglomerationen die Sekundarschulen (5.-9. Klassen oder 7.-9. Klassen der obligatorischen Schulpflicht) als Schultyp für Kinder hinzu, die in ihren Leistungen «erweiterten Ansprüchen» genügten.

Der hier auf die Geschichte der Primarschule gerichtete – und die anderen Schultypen, den Kindergarten, die Sekundarschule, das Gymnasium vernachlässigende Fokus – ist deshalb aufschlussreich, weil dieser Schultyp aufgrund der gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Schweiz in den vergangenen 200 Jahren erheblichen Veränderungen unterworfen war. Der permanente Anspruch, sich auf neue Anforderungen, oft auf Zumutungen von aussen, einzustellen, verlangte von ihm eine erhebliche institutionelle Veränderungsbereitschaft. Heute ist die Primarschule in der Schweiz eine bildungspolitisch konsolidierte allgemeinbildende, institutionell als Volksschule profilierte Institution.

Erster Überblick

Die heutige Primarschule, die man ab dem frühen 19. Jahrhundert Elementar- oder Gemeindeschule nannte, besuchten Kinder ab dem 6. oder 7. Altersjahr während vier bis sechs Jahren. Einer integrierten Gesamtschule vergleichbar, wurde sie in der Bundesverfassung als obligatorisch, unentgeltlich, konfessionslos und unter staatlicher Aufsicht definiert. Lernschwache und behinderte Kinder teilte man den Hilfs- und Sonderschulen zu. Die Primarschule stellte als gemischte Schule die allen Mädchen und Jungen zustehende Grundschulbildung in der Muttersprache, später auch in Fremdsprache, in Mathematik, Religion, im Bereich Mensch und Umwelt (Geschichte, Geographie, Naturkunde), im Turnen und im musisch-gestalterischen Bereich (Zeichnen, Singen) sicher. In den Primarschulen unterrichtete eine einzelne Lehrkraft fast alle Fächer.

Bis heute ist die Primarschule beauftragt, neben der Grundausbildung und der Formung einer autonomen Persönlichkeit eine Erziehung zum demokratisch denkenden und handelnden Staatsbürger zu vermitteln. Gegenwärtig bestehen die Herausforderungen an die Primarschule im Aufbau von Tagesstrukturen, aufgrund derer die Schule die Kinder und Jugendlichen über Mittag und in Randzeiten betreuen kann, sowie in der Einführung einer «Basisstufe», die den Kindergarten und die ersten beiden Jahre der Primarschule zusammenführt. Aufgrund der 2009 abgeschlossenen interkantonalen Vereinbarung zur Harmonisierung der obligatorischen Schule (Harmos-Konkordat) verpflichteten sich die beigetretenen Kantone Schaffhausen, Waadt, Glarus, Jura, Neuenburg, Wallis, St. Gallen, Zürich, Genf, Tessin, Bern und Freiburg, die obligatorische Schule in der Schweiz zu vereinheitlichen, zur Qualitätssicherung beizutragen und das Bildungswesen durchlässiger zu gestalten.

Wandernde Lehrmeister im Mittelalter

Im Mittelalter erlaubten die örtlichen Behörden wandernden Lehrmeistern (Schreiber, Studenten, Geistliche, Frauen), an (privaten) Deutschen Schulen oder Grammatikschulen zu unterrichten. Damals nannte man diese Institute auch Bei-, Winkel-, Lese- oder Schreibschulen. Die Kinder der städtischen Nichtbürger wurden in die Bauern- oder Einsassenschulen geschickt. Weil der Schulbesuch bis in die frühe Neuzeit den gehobenen Schichten vorbehalten war, waren diese, und ebenso der frühmoderne Staat, kaum am Elementarschulwesen interessiert. Darum wurde Bildung nicht zu einem gesellschaftlichen Ziel, umsomehr als die Ungebildetheit des Volks der göttlichen Weltordnung zu entsprechen schien.

Mit dem Buchdruck mit beweglichen Lettern und der Reformation entstand das Bedürfnis nach (Schul)Bildung. Während Genf die Elementarschulen 1536 im Sinn der reformierten Kirche reorganisierte, richtete man in Zürich und Bern um 1550 ständige Deutsche Schulen ein, welche Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen lehrten. In ländlichen Gemeinden hielt man anfangs des 17. Jahrhunderts die Eltern dazu an, ihre Kinder während drei Jahren, zumindest in den Wintermonaten, zur Schule zu schicken. In den ersten Landschulordnungen (Bern 1616, Aarau 1628, Zürich 1637 und 1684) waren die Schulpflicht, der Schulbesuch und die Schuldauer, die zu unterrichtenden Inhalte sowie die Räumlichkeiten geregelt.

Das von der katholischen Kirche gehütete Schulmonopol und die sozialen und wirtschaftlichen Begleiterscheinungen des Dreissigjährigen Kriegs (1618-1648) verhinderten zwar, dass eine Volksschule eingerichtet werden konnte. Allerdings förderten die Obrigkeiten die Entwicklung der Höheren Schulen und unterstützten um 1700 die Schulen einzelner Gemeinden finanziell. Im späten 18. Jahrhundert wurde das Schulwesen unter dem Einfluss der Aufklärung und namentlich Johann Heinrich Pestalozzis umgestaltet. Doch obwohl man im Unterricht die Basis einer sittlichen, sozialen und politischen Erneuerung des Volkes erblickte, blieben für den Zugang zur Bildung Stand und Geschlecht entscheidend. Deshalb entstammten die gebildeten Frauen des 17. und 18. Jahrhunderts dem Adel oder der grossbürgerlichen Schicht und besuchten private höhere Töchterschulen. Die Reformen im Elementarschulbereich bezogen sich auf die institutionelle Gestaltung des Schulwesens, die Vermehrung der Realfächer und die Aufnahme des Zeichenunterrichts in den Fächerkanon. In Luzern und in weiteren katholischen Orten engagierte sich der Jesuitenorden bis zu seiner Aufhebung für bessere höhere Schulen, während Klöster (St. Urban, Einsiedeln) und vor allem Ordensgemeinschaften wie die Ursulinen auch das Volksschulwesen förderten.

Lesen Sie Teil 2:
Der grosse Widerstand gegen das Schulsystem

Erinnerungsblatt «Zum Austritt aus der Schule», Kanton Bern, 1895. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Schulklasse mit Lehrerin im bernischen Lützelflüh, um 1937. In diesem Zimmer hat auch der Lehrer und Schriftsteller Simon Gfeller unterrichtet. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum/Wilhelm Felber

«Alex als Schüler». Das Bild stammt aus einem privaten Fotoalbum von Ignaz Herzfeld und wurde wahrscheinlich in den 1950er-Jahren aufgenommen. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Johann Heinrich Pestalozzi in einem Klassenzimmer, Lithografie von 1845. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

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