Jugendliche hängen in einem Wohnzimmer herum, 1972. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Flätzen statt Sitzen

Nicht nur die gutbürgerliche Stube war in den 1960er-Jahren ein Auslaufmodell, auch der Knigge wurde in Frage gestellt: Aus geradem Sitzen am Tisch wurde gemütliches Flätzen auf dem Sofa.

David Eugster

David Eugster

David Eugster ist Historiker und Kulturwissenschaftler.

Es gab im 19. Jahrhundert Bürger-Familien, die sich in den anderen Zimmern alles absparten, um Gäste in einem repräsentativen Salon empfangen zu können. Noch Ende der 1950er-Jahre wird die «gute Stube» in einer Werbung als Tabuzone dargestellt, in der Kinder nichts zu suchen haben und die wie ein Kult-Ort meist unbenutzt bleibt: Die Einfassung von Sofas in Schutzfolie sind bis heute der Inbegriff von Kleinbürgerlichkeit. Eine Karikatur in der Satirezeitschrift Nebelspalter von 1962 bringt die steigende Abneigung gegen die übliche Möblierung auf den Punkt. Zwei Künstlerexistenzen feiern Weihnachten ohne Möbel auf dem Boden und meinen, es sei zwar unbequem, aber dafür nicht so verdammt spiessig. Lieber keine Möbel als die falschen.

In den wilden 1960ern ging es der althergebrachten Möblierung an den Kragen: In Wohngemeinschaften wurden Betten durch Matratzen ersetzt, Regale durch Harassen, und Möbel vom Sperrmüll oder aus dem Brockenhaus waren keine Schande mehr, sondern zeigten anti-bürgerliche Individualität. Man war nicht mehr bereit, Geld für Möbel auszugeben, da sie ihre Repräsentationsfunktion verloren hatten und man ohnehin offen bleiben wollte für Veränderung – vielleicht reiste man ohnehin bald nach Indien. Ab 1973 würde Ikea diese Wünsche nach permanent möglicher Veränderung mit Billigmöbeln, die man selber zusammenstecken konnte, in ihrer Filiale in Spreitenbach auch in der Schweiz zu Geld machen.

In den 1960er-Jahren kam insbesondere das Sitzen in Unruhe: Die Hippies machten nicht nur mit ihrer Kleidung und ihren Haaren auf sich aufmerksam, sondern auch dadurch, dass sie demonstrativ unaufrecht auf dem Boden herum-«gammelten», Protestierende widersetzten sich der Polizei mit «Sit-ins» und an Rock-Konzerten wurden Stühle zertrümmert.

Gegen die bürgerliche Existenz: Lieber keine Möbel als die falschen. Illustration: Franco Barberis, erschienen in der Satirezeitschrift Nebelspalter, 1962

Die Problematisierung des klassischen Sitzens fand auch Eingang ins Design. In der Schweiz veranstaltete der Schweizer Werkbund 1967 einen Fantasiestuhl-Versteigerung, an der sich Robert und Trix Haussmann, Bernhard Luginbühl, Meret Oppenheim und Daniel Spoerri mit Stuhlentwürfen beteiligten. Die Jux-Veranstaltung endete für die Auktionäre etwas frustrierend, da die Stühle kaum an den Mann und die Frau zu bringen waren: Sie waren reine Absagen gegen das übliche Sitzen – ein «Pop-Aufstand gegen die Grundsätze der Guten Form».

Der erfolgreichste Affront gegen die traditionelle Sitzkultur kam aus Italien. Der Sitzsack, «il sacco» bevölkerte auch in der Schweiz der 1970er-Jahren die Wohnungen junger Leute - wer sich keinen kaufen wollte, konnte sie mit Schnittmustern selbst nachnähen. Der formlose Schlauch gefüllt mit Styroporkügelchen wurde 1968 von einer Gruppe junger Architekten, Pierre Gatti, Cesare Paolini und Franco Teodoro, designt und vom Möbelhersteller Zanotta verkauft. Sie interessierten sich für Ergonomie, orientierten sich aber auch an der Natur: Der Sacco sollte sich wie Neuschnee an den Körper anschmiegen. Die in 1960ern entwickelten Kunststoffe ermöglichten das Gestalten in neuen flexiblen Formen: Der Sacco war eines von etlichen amorphen Designexperimenten, die klassischen Formen in den 1960er-Jahren den Kampf ansagten, aber eines der wenigen, die den Eingang in den Massenmarkt gefunden hat.

Der birnenförmige Sack, der sich noch bis heute einer grossen Beliebtheit erfüllt, ist ein bescheidenes Denkmal von 1968: Er gehört zu keinem starren Ensemble und lässt sich überallhin tragen, er passt sich mit seiner Anti-Form dem Körper der Sitzenden oder Liegenden an - er gab ihnen keine Benutzungsanweisungen vor, er liess ihn in reiner Freiheit sitzen - sofern sie dies wollten, kann man damit doch auch spielen.

Der Sitzsack war ein Affront gegen die traditionelle Sitzkultur. Illustration: Jean Leffel, erschienen in der Satirezeitschrift Nebelspalter, 1969

Imagine 68. Das Spektakel der Revolution

Landesmuseum Zürich

14.09.18 - 20.01.19

Nach den erfolgreichen Ausstellungen «1900–1914. Expedition ins Glück» (2014) und «Dada Universal» (2016) zeigen Stefan Zweifel und Juri Steiner 2018 ihre Perspektive auf die 68er-Generation. Die Collage der beiden Gastkuratoren aus Objekten, Filmen, Fotos, Musik und Kunstwerken macht die Atmosphäre von 1968 sinnlich erlebbar. Die Ausstellung wirft einen umfassenden Blick auf die Kultur dieser Zeit und lässt die Besucherinnen und Besucher durch Warhols Silver Clouds ins Reich der damaligen Fantasien schweben.

Die Verweigerung des Sitzens floss auch ins Designdenken ein, wie dieser Maso-Chair von Trix und Robert Haussmann von 1967 beweist. Foto: Museum für Gestaltung

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