Königin Bertha von Burgund, Gemälde von Albert Anker, 1888 (Ausschnitt, ganzes Bild)
Wikimedia/Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne

Königin Bertha – die Frau ohne Eigenschaften

Von der populären Burgunderkönigin ist wenig bis nichts bekannt, eine Quellenlage zum Verzweifeln. Der optimale Nährboden für Legenden. Einmal mehr: je weiter vom Ereignis entfernt, desto mehr «weiss» man. Ein faszinierendes Phänomen.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Es war einmal eine Königin. Sie hiess Bertha und lebte vor mehr als tausend Jahren. Wann sie geboren wurde, weiss man nicht. Gestorben ist sie zwischen 957 und 961 – natürlich nicht vier Jahre lang. Oder vielleicht doch? Denn obwohl Königin, hatte sie offenbar ein erbärmliches Leben. «La vie misérable de la reine Berthe» überschreiben zwei Kenner eine fundierte Studie über sie. Bertha wird zwar in mehreren Dokumenten erwähnt, aber sozusagen gar nicht als Person, sondern bloss als machtpolitische Manövriermasse.

Vom Objekt zum Subjekt

Vorübergehend wird’s leicht kompliziert. Königin Bertha von Burgund war ursprünglich Bertha von Schwaben – weil Tochter von Herzog Burchard II. von Schwaben und Herzogin Reginlinde. 919 siegt ihr Vater bei Winterthur über König Rudolf II. von Hochburgund. Drei Jahre später wird Bertha dem unterlegenen Burgunderkönig zur Frau gegeben. Nach dessen Tod im Jahre 937 heiratet sie erneut, korrekt: wird sie vermählt mit König Hugo von Italien. Die Ehe sei unglücklich, vermerkt der Bischof von Cremona, ein Zeitgenosse Berthas. Nach zehn Jahren, 947, stirbt auch ihr zweiter Mann. Bertha zieht sich daraufhin nach Burgund zurück, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbringt.

Ab jetzt wird in den Quellen über die burgundische Königin nicht mehr bloss verhandelt, als Objekt. Sie handelt nachweislich selbst, ist Subjekt. Weil für das Seelenheil nie genug getan werden kann und das letzte Hemd keine Taschen hat, verschenkt, vergabt, vermacht sie grosszügig. Damit schafft sie die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gründung des Priorats Payerne. Das von Bertha eingeleitete fromme Werk wird nach ihrem Tod von ihrer Tochter Adelheid zum Abschluss gebracht.

Legendenbildung vom Feinsten – will sagen: vom Gröbsten

Eine Königin, die in den Quellen nur erwähnt wird, wenn ihr lukratives Erbe als Mitgift diesem oder jenem Potentaten zugeschlagen wird! Selbst ein Testament von Bertha fehlt! Mh, eine eher schwierige Ausgangslage. Ob sich ein letzter Wille der Königin nachempfinden liesse? Ja, lässt sich. Fragt sich bloss, wem die Fälschung mehr nachempfunden sein soll, der bereits im 10. Jahrhundert verstorbenen Bertha oder jenen, die das Dokument im frühen 12. Jahrhundert erfinden. Genug der Fragen. Jedenfalls wird die burgundische Königin in ihrem sozusagen letzten Willen von der Förderin zur Stifterin des Klosters Payerne. Daran soll nicht mehr zu rütteln sein. Deshalb gehen die Auftraggeber auf Nummer «sicher» und lassen gleich zwei Fassungen herstellen. Die ältere Ausfertigung befindet sich heute in Lausanne, die jüngere in Freiburg. Die Lunte ist gelegt.

Payerne. Die ehemalige Abteikirche Notre-Dame gehört zu den bedeutendsten romanischen Kirchenbauten der Schweiz, ein typisches Beispiel cluniazensischer Architektur. Als armer Sünder vermeint man, in solchem Gemäuer würde man allenfalls auch eine Spur heiligmässiger. Der heutige zweite Bau stammt aus dem 11. Jahrhundert, unter Verwendung der archaischen Kapitelle der ersten Kirche aus dem 10. Jahrhundert. In dieser Zeit leitet Königin Bertha von Burgund mit ihren Schenkungen die Gründung des Klosters Payerne ein.
Wikimedia/Beckstet

Was Andere können, können wir auch

Irgendwie einleuchtend: Was in Payerne möglich war, kann andernorts nicht unmöglich sein. Nach 1400 dehnt sich der Gründungskult um Königin Bertha auf weitere burgundische Stifte aus. So werden nach und nach vier Klöster irgendwie fündig und bringen ihre Entstehung mit Bertha in Verbindung: Saint-Victor in Genf, St. Ursen in Solothurn, angeblich bereits 736 gegründet, ferner St. Mauritius in Amsoldingen bei Thun und St. Imier.

Worauf basieren solche Herleitungen? Beispiel Amsoldingen: Die Gründungsgeschichte von St. Mauritius ist zwar ebenfalls nebulös, aber es scheint, bereits Berthas erster Mann, der Burgunderkönig Rudolf II., habe hier Schenkungen gemacht. Bertha, seine Witwe, könnte danach sein Werk fortgesetzt und das Kloster gegründet haben – könnte.

Fachwissenschaftlich ist das Eis überall sehr dünn, eine Projektionsfläche, auf der Wunschvorstellungen gedeihen. Begeben sich schwitzende Historiker auf diese Eisfläche und beharren unerbittlich auf tragfähigen Quellen, schmilzt das Eis rasch.

Das Beispiel Payerne machte Schule. Ausbreitung des Gründungskults um Königin Bertha seit dem 15. Jahrhundert in der Westschweiz: Genf, Solothurn, Amsoldingen bei Thun, St. Imier.

Die Welt ist voller Wunder: Aus einem Szepter wird ein Spinnrocken

Vorläufige Bilanz: Bertha ist gleich mehrfach zur «Stifterin» von Klöstern erhoben worden, aber unglücklicherweise fehlen ihr nach wie vor jegliche Eigenschaften. Das Manko zu beheben, braucht seine Zeit, etwa zweihundert Jahre. Als man sich im 17. Jahrhundert erneut über das gefälschte Testament beugt, leuchtet die Sonne zum Siege. Auf dem Siegel der Lausanner Fassung ist Berthas Szepter mit Lilien verziert, ein Lilienszepter, wie nicht selten. Aber, fragt man sich, o stille Einfalt, edle Grösse: Könnte sich der Siegler nicht vertan haben? Wollte er einen Spinnrocken darstellen, fertigte aber zerstreut ein Lilienszepter an? Es erfordert viel guten Willen für diese Vorstellung. Doch dieser Wille ist vorhanden: Bertha hält seither nicht mehr ein Lilienszepter in der Hand, sondern einen Spinnrocken. Die bis dato schmerzlich entbehrte Eigenschaft ist gefunden, Bertha das perfekte Vorbild: selbst als edle Königin fromm und fleissig. Für manche Heimarbeiter-Frau wird künftig der Gang in den feuchten Webkeller zur freudigen Pflicht, die eintönige Arbeit zum gewandten Spiel flinker Hände. «Zur Zeit, da Bertha spann». Wenn zwei Frauen spinnen, ist es eben nicht dasselbe. Aus dem Faden der einen wird ein königlicher Umhang, aus dem Faden der anderen ein Hungertuch.

Königin Bertha leitet eine Schar Mädchen zum Spinnen an. Als Vorbild für diese Darstellung dient unverkennbar das Gemälde von Albert Anker (siehe Titelbild). Mit der Postkarte von 1899 leisten die Hersteller ganze Arbeit: rechts die Kirche der ehemaligen Abtei Payerne, die zwar von Bertha nicht gegründet, aber deren Gründung von ihr eingeleitet wurde. Das Siegel des im 12. Jahrhundert gefälschten Testaments von Bertha hängt, statt an der Urkunde, am Gemälde – ein starkes Stück. (Der Text auf der Ansichtskarte ist historisch unbedeutend.)
Schweizerisches Nationalmuseum

Verehrung erfordert Reliquien

Als die Waadt 1803 als Kanton etabliert und 1815 im Bundesvertrag bestätigt wird, sind Identifikationsfiguren gefragt. Dabei kommt es, wie es kommen muss. Auf den Schild erhoben wird Bertha, die Königin von Burgund. In aufgeklärt-republikanischem Lichte betrachtet, passt das wie die Faust aufs Auge. Kaum ist die Ständegesellschaft in Europa überwunden, kaum haben die Waadtländer den alten Untertanenstand abgeschüttelt und auf ihr Kantonswappen mit goldenen Lettern LIBERTÉ geschrieben, wählen sie als Identifikationsfigur eine Königin aus dem 10. Jahrhundert.

Es sei. Unerlässlich sind jetzt allerdings nachdrückliche Zeugnisse. Prompt findet man 1817 die Gebeine Berthens – es sind «angeblich» die ihren, wie in seriösen Publikationen sofort eingeschränkt wird. Im historischen Bewusstsein der Öffentlichkeit, besonders in der ehemals burgundischen Westschweiz, ist der Siegeszug der populären «Reine Berthe» nicht aufzuhalten.

Historischer Umzug in Neuenburg, 1882. Königin Bertha und ihr Gefolge. Bei der zweiten Edeldame mit einem Spinnrocken muss es sich um die Tochter Berthas handeln, Adelheid.
Schweizerisches Nationalmuseum

Die Vielgeprüfte weiht sich ihrem Volke ganz

Das Lauffeuer der Erinnerungskultur wird zum Flächenbrand: Man lässt Königin Bertha allerorten in historisch-patriotischen Umzügen hochleben und huldigt ihr auch in literarischen Texten. Ein Gedicht von 1851 ist dafür ein besonders treffliches Beispiel:

Nicht Schlachtenruhm will ich besingen,
Nicht Waffenlärm und Todeskampf,
Nicht Schwerter, die durch Herzen dringen
Und nicht vergossnen Blutes Dampf.

Von Frauenlob mein Lied ertöne,
Von Sittsamkeit und frommer Huld,
Von Liebreiz anmuthvoller Schöne,
Gepaart mit freundlicher Geduld.

So geht es 35 Strophen fort (Die Kœnigin Bertha - e-periodica). Der Autor, ein F. Isenschmid, lässt Berthen epische Länge angedeihen und preist die Königin gegen Schluss mit den folgenden verklärenden Versen:

Im reinen Hauch der Jura-Lüfte
Und in der Alpen hellem Glanz
Erquiket sich die Vielgeprüfte
Und weiht sich ihrem Volke ganz.

Solche Hymnen animieren gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildende Künstler, die Burgunderkönigin ihrerseits in Werken zu würdigen. Die prominententesten von ihnen: Albert Anker (1831–1910, Auftaktbild) und Karl Jauslin (1842–1904).

Karl Jauslin, Königin Bertha von Burgund, 1896. Eine Zeigefinger-Darstellung erster Ordnung. Bertha reitet auf einem Schimmel, dessen Weiss die Unschuld der Reiterin symbolisiert. Die Königin sitzt in einem hölzernen Stuhl seitwärts auf dem Pferd, den Spinnrocken neben sich, die Spindel in der linken Hand. Zum Fleiss der Edelfrau, die selbst auf einem beschwerlichen Ritt spinnt, kommt die Mildtätigkeit. In der rechten Hand hält Bertha eine Münze. Als Spenderin bleibt sie dennoch unerreichbar weit über dem armen Volk. Zwei Knappen mit Lanzen führen ihr Pferd. Hinten folgt der Tross, dessen bewaffnete Reiter durch ihren erhöhten Standort andeuten, dass sie jederzeit Herr der Lage wären. Wie beim Jüngsten Gericht stehen die Gerechten zur Rechten der Königin: Frauen und Kinder, ein Mann, der seine Arbeit unterbrochen hat und ergriffen eine Hand an sein Herz legt, ein Alter, gestützt auf eine Krücke, der auf seine einfache Behausung zeigt oder dem Himmel dankt für diese Weihestunde. Zur Linken Berthas die Verderbten oder bereits Verdammten: ein Gauklerpaar, die Frau mit einem Tamburin, der Mann mit einem Dudelsack; sie führen an einer Kette zwei Bären mit sich, der eine mit einem Äffchen als Passagier; heimatlose Gesellen, die, statt fleissig zu arbeiten, mit unnützem Zeitvertreib andere bloss von der Arbeit abhalten. Der Segen des Priesters scheint sowohl Bertha als auch ihren Gefolgsleuten zu gelten, die den Gauklern mit demonstrativen Gesten zu verstehen geben, sie sollten sich fortscheren. Über der Szene erhebt sich eine mächtige Eiche, die andeutet, dass die hier offenbarte Ordnung uralt ist und den Tag überdauern wird.
Wikimedia

Königin Bertha bekommt eine zweite Tochter

Szenenwechsel. «Wirtschaftswunder» nach dem Zweiten Weltkrieg in Emmen LU. Die «Viscose» hat soeben die erste Nylon-Fabrik der Schweiz in Betrieb genommen, erreicht den unerhörten Anteil von 1,2 Prozent der gesamten Exportleistung des Landes, nähert sich ihrem Höhepunkt mit insgesamt 3‘500 Mitarbeitenden – und feiert 1956 das 50-Jahr-Jubiläum, unter anderem mit einem Festspiel.

Auftritt Bertha von Burgund. Am Emmenstrand heisst sie etwas anders. «Reine Berthe» wird zu «Berta Regina», so der Name eines künstlichen Garns der Viscose, auf der Basis von Cellulose, Holz, wie seit 1906 üblich. Im Festspiel wird Berthas Tochter Adelheid zur Prinzessin «Nylon», so der Name des bahnbrechenden neuen Produkts der Viscose, nun auf der Basis von Erdöl. Werbewirksam prangt die Bezeichnung auf dem 70 Meter hohen Kamin des florierenden Unternehmens: «NYLON». Ebenfalls im öffentlichen Raum findet sich auf einem Schild der Name der Mutter: «Berta Regina-Strasse».

Tempora mutantur – die Zeiten ändern sich. 1980 wird die Produktion der Kunstseide Viscose eingestellt, zehn Jahre später der Hochkamin gesprengt.

Société de la Viscose Suisse, Emmenbrücke, Szene aus dem Festspiel des Firmenjubiläums 1906–1956 von Josef Elias: Berta Regina, Königin Bertha von Burgund, in Schwarz, die Vergangenheit; ihre zweite «Tochter», Prinzessin Nylon, ganz in Weiss, die Zukunft.
Firmenarchiv der Société de la Viscose Suisse, Staatsarchiv Luzern

De quoi s’agit-il?

Ein Testament gefälscht, das falsche Siegel abenteuerlich umgedeutet, fromme Schenkungen teils erfunden, irgendwelche Gebeine als «echte» ausgegeben: Ist das nicht etwas zu viel des Bösen? – Angesagt ist nicht moralisieren, sondern verstehen wollen. Bertha, die burgundische Königin, trägt ohnehin keine Schuld für das, was über mehr als tausend Jahre hinweg mit ihr angestellt wurde. Hier ist der Hebel anzusetzen: Letztlich geht es nicht um die Königin von Burgund, sondern um eine mythische Figur, die exemplarisch zu einem geradezu magischen Anziehungspunkt für Projektionen wurde. Nicht Bertha ist das eigentliche Thema, sondern ein dreifaches Bedürfnis von uns.

Erstens möchten viele Menschen historisch geklärt haben, was sich nicht klären lässt. Durchaus verständlich, ja ehrenwert, dieser Wunsch nach festem historischem Grund. Oft aber stösst er an unüberwindbare Grenzen der Überlieferung.

Zweitens haben wir einen starken Hang, Geschichte zu personalisieren. Damit wird Vergangenheit fassbar, vorstellbar, «persönlich». Das Schicksal von Menschen ist ein Schlüssel für historisches Verstehen. Allerdings besitzt Clio, die Muse der Geschichte, nicht nur diesen einen Schlüssel und hält für uns nicht nur einen Zugang offen.

Drittens dokumentiert die Erinnerungskultur am Beispiel Berthas von Burgund den Wunsch zur Idealisierung. Gegen das Hinaufblicken zur – einmal angenommen – fleissigen, barmherzigen Klostergründerin «Reine Berthe» ist nicht viel einzuwenden, solange diese Blickrichtung nicht zur Gewohnheit wird und zu einer Geschichtsbetrachtung verführt, in der unversehens die sogenannt Grossen der Geschichte einsam und grossspurig walten über das Schicksal der sogenannt Kleinen.

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