Ein Leben ohne Räder ist für uns nur schwer vorstellbar. Runkelrübenernte in Rheinau (ZH), um 1910.
Schweizerisches Nationalmuseum

Das Rad

Wer hat das Rad erfunden? Darüber streiten sich die Historiker bis heute. Mit im Rennen um den ersten Platz ist auch die Region Zürich. Dort wurden Räder aus der Jungsteinzeit gefunden.

Samuel van Willigen

Samuel van Willigen

Samuel van Willigen hat prähistorische Archäologie studiert und arbeitete bis 2020 als Kurator beim Schweizerischen Nationalmuseum.

«Das Rad neu erfinden» oder «das fünfte Rad am Wagen sein». Viele Redewendungen drehen sich um das Rad. Aber wer hat dieses einfache und dennoch so nützliche Utensil erfunden, ohne das wir ganz schön festsitzen würden? Wann wurde es eingeführt und vor allem: Wurde es womöglich mehrmals erfunden?

Antworten auf diese Fragen sind – wer hätte das gedacht – in Zürich zu finden. Dort, am Ufer des Zürichsees, wurden in den 1970er-Jahren bei Ausgrabungen im Bereich der Seefeldstrasse die Reste von vier Rädern und einer Achse entdeckt. Alle vier Räder stammen aus der späten Jungsteinzeit. Das älteste Rad ist um 3200 v. Chr. hergestellt worden, die drei jüngsten um 2700 v. Chr. Sie gehören damit zu den ältesten Rädern Europas!

Eine reife Zimmermannsleistung!

Obwohl sie so alt sind, lässt sich einiges über ihr Aussehen und ihre Konstruktion sagen. Alle vier Räder wurden aus Ahornholzbohlen gefertigt. Eine gute Wahl! Ahornholz ist zugleich elastisch und zäh. Ausserdem schrumpft es beim Trockenheit nur wenig. Die gefundenen Objekte sind Vollscheibenräder, also keine Speichenräder, wie wir sie von Kutschen und Karossen kennen. Speichenräder wurden erst 2000 Jahre später, am Ende der Bronzezeit entwickelt. Die Zürcher Räder sind aufwändig konstruiert und bestehen aus mehreren Brettern, die ohne Nägel – Eisen war zu dieser Zeit noch nicht bekannt – aber mit exakt angepassten Einschubleisten miteinander verbunden waren. Eine wahrlich reife Zimmermannsleistung!

Die Räder haben eine weitere Besonderheit. Ihre Achslöcher sind viereckig. Das bedeutet, dass die Achse fest mit den Rädern montiert waren und sich mit ihnen drehten. Diese Art der Konstruktion findet sich bei dem guten Dutzend Rädern, das bis jetzt am Nord- und Ostrand der Alpen, in der Schweiz, in Süddeutschland und in Slowenien entdeckt wurde.

Originalrad aus dem Neolithikum. Es wurde 1976 in Zürich gefunden.
Schweizerisches Nationalmuseum

Wer hat's erfunden?

In den Niederlanden, in Norddeutschland und in Dänemark sind etwa um die gleiche Zeit hölzerne Räder hergestellt worden. Sie unterscheiden sich allerdings in zwei wesentlichen Punkten von «unseren» Zürcher Rädern: Alle sind einteilig und besitzen runde Achslöcher. Das heisst, sie haben sich um die Achse gedreht, der am Wagenkasten befestigt war. Ein ganz anderes Konzept!

Ebenfalls aus der gleichen Zeit, gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. sind die ersten Hinweise auf die Verwendung von Rädern aus Osteuropa und dem Nahen Osten bekannt. Dort handelt es sich nicht um Funde von Originalrädern, sondern und Darstellungen von Wagen in Ton oder auf Rollsiegeln. Der Fall ist also klar: Das Rad wurde um 3500 v. Chr. erfunden!

Aber, wer hat's erfunden? Daran scheiden sich die Geister. Nordwesteuropa, die Alpenregionen, Südosteuropa und der Nahe Osten sind im Rennen, liegen aber zurzeit gleichauf. Möglicherweise gibt es also bei diesem Wettkampf mehrere Gewinner… trotz der wohlwollenden Mahnung einiger kluger Menschen, man sollte das Rad nicht immer wieder neu erfinden…

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«Als der Mensch ins rotieren kam», SRF Wissenschaftsmagazin vom 24.7.2021

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