Die Gletscherzunge des Morteratschgletschers ist seit dem Jahr 1900 bis 2010 um 2185m zurückgegangen. Heute ist er beinahe vollständig verschwunden.
Die Gletscherzunge des Morteratschgletschers ist seit dem Jahr 1900 bis 2010 um 2185m zurückgegangen. Heute ist er beinahe vollständig verschwunden. Wikimedia

Ein Grundrecht auf Kälte für die Schweiz?

Der Rückgang der Schweizer Gletscher infolge des Klimawandels hat neben Auswirkungen für die Umwelt auch massive rechtliche Konsequenzen. Landeshoheiten, das Fundament für die verfassungsmässigen Grundrechte, geraten plötzlich ins Wanken. Weltweit ist ein breites Spektrum international gültiger Menschenrechte durch die Veränderung des Klimas betroffen. Dies wirft die Frage auf, wie wir hier in der Schweiz einer zukünftigen Generation ein Recht auf Kälte garantieren können, dessen Wirkung über die Landesgrenzen hinausreicht.

Debjani Bhattacharyya

Debjani Bhattacharyya

Prof. Dr. Debjani Bhattacharyya ist Historikerin und Inhaberin des Lehrstuhls für die Geschichte des Anthropozäns an der Universität Zürich. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt an der Schnittstelle von Klimageschichte, Rechtsgeschichte und dem Anthropozän.

Während der Rekordtemperaturen in der Schweiz im August 2022 machten Wanderer auf dem Chessjen-Gletscher in den Alpen eine ungewöhnliche Entdeckung: menschliche Knochen, die älter sind als einige Jahrzehnte. Das war aber nicht das einzige, über das Bergsteiger in den Alpen in letzter Zeit gestolpert sind. Durch den Rückzug der Gletscher tauchen nach und nach viele weitere Objekte auf, wie etwa das Wrack eines 1968 abgestürzten Flugzeugs, Schuhe, menschliche Überreste und seltene archäologische Gegenstände.
Sterbliche Überreste eines seit 1942 verschwundenen Paares, Tsanfleurongletscher, 2017.
Nach dem Ötzi­-Fund 1991 im Südtirol werden seit 2003 auch in den Schweizer Alpen Gletscherfunde gemacht. 2017 tauchen auf einem Gletscher die Überreste eines Bergsteigerpaars auf. Was zuerst Fragen zum Leben dieser Menschen aufgeworfen hat, wird Jahre später zum klimahistorischen Thema. Sterbliche Überreste eines seit 1942 verschwundenen Paares, Tsanfleurongletscher, 2017. Glacier 3000, Gstaad
Im Herbst 2018 kuratierte das Geschichtsmuseum Wallis eine Ausstellung mit dem Titel Aus dem Eis: Spuren in Gefahr. Einige der Ausstellungsobjekte stammen aus der Zeit um 6000 v. Chr. und einige aus jüngster Zeit, etwa von vor einem Jahr. In einem merkwürdigen Nebeneinander präsentierte die Ausstellung Objekte aus der Vormoderne, die normalerweise in einem naturhistorischen Museum anzutreffen wären, und zeitgenössische Objekte, die sonst nur in modernen oder zeitgenössischen Museen ausgestellt sind. Der gemeinsame Nenner, der diese Objekte in einer Ausstellung vereint hat, sind die zurückweichenden Gletscher. Prompt nimmt eine neue Disziplin mit dem Namen «Gletscherarchäologie» Form an. Von 1931 bis 2016 haben die Gletscher der Schweiz die Hälfte ihres Volumens eingebüsst. Ergebnisse einer aktuellen Klimamodellrechnung zeigen, dass die Alpengletscher bis zum Ende des Jahrhunderts schmelzen könnten, selbst wenn die Emissionen schnell reduziert werden und die Temperaturen sich sofort auf dem Niveau des letzten Jahrzehnts stabilisieren. Die Abdeckung der Gletscher mit Planen ermöglicht vielleicht die längere Nutzung als Skipisten, beschleunigt aber das Schwinden. So werden die Planen zu «Leichentüchern» aus Plastik.
Morteratschgletscher aufgenommen von Jürg Alean am 10. 7. 1985, am 8. 7. 2007 und am 9. 7. 2021.
Die Gletscher in der Schweiz schmelzen so schnell, dass Aufnahmen mit relativ geringem zeitlichen Abstand ihren Rückzug sichtbar machen. Der Morteratschgletscher hier im Bild verschwand bis Anfang der 2020er-Jahre beinahe vollständig. Morteratschgletscher aufgenommen von Jürg Alean am 10. 7. 1985, am 8. 7. 2007 und am 9. 7. 2021. Jürg Alean
Dieser Rückgang der Gletscher hat eine Vielzahl an Folgen für die Umwelt, insbesondere hinsichtlich der Verfügbarkeit von Wasser, der Veränderung der Biodiversität sowie der Gefahren, die eine entgletscherte Landschaft mit sich bringt. Auch die rechtlichen Konsequenzen sind gigantisch. Diesen Sommer wurden wir Zeugen davon, wie sich die Landesgrenze zwischen der Schweiz und Italien durch das Abschmelzen des Theodulgletschers verändert hat. Touristen und Wanderer in der Berghütte «Rifugio Guide del Cervino» nahe des 3480 Meter hohen Gipfels der Testa Grigia befinden sich heute buchstäblich und im übertragenen Sinn auf unsicherem Terrain, denn die schmelzenden Gletscher führen dazu, dass sich die Berghütte von Italien in die Schweiz hinein bewegt. Die Folge sind viele diplomatische Rangeleien, deren Ergebnis noch nicht absehbar ist. Der Klimawandel verändert Küstenlinien und stellt, wie am oben genannten Beispiel deutlich wird, auch die Landeshoheit infrage. Solange das Ergebnis noch aussteht, wird die Berghütte auf den Karten von swisstopo mit einer gestrichelten Linie statt mit dem durchgezogenen rosa Band für Landesgrenzen gekennzeichnet. Für die verfassungsmässigen Grundrechte der Schweizer Bevölkerung braucht es einen festen Boden, ein Fundament: Ebendieser Boden, auf dem solche Ansprüche begründet sind, könnte sich nun durch die schwindenden Gletscher verschieben. Gebietsstreitigkeiten sind vielleicht nur die Spitze dieses schmelzenden Eisbergs.
Theodulgletscher die Grenze zwischen der Schweiz und Italien
Früher bildete der Theodulgletscher die Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Nach seinem teilweisen Rückgang ist der Verlauf der Grenze unklar geworden. Die offiziellen Karten von swisstopo stellen die Linie bei der Berghütte «Rifugio Guide del Cervino» nahe der Testa Grigia momentan gestrichelt dar. Die Grenze muss nun neu gezogen werden. Bundesamt für Landestopografie swisstopo
Zwar mögen die schrumpfenden Gletscher und die daraus entstehenden Veränderungen der Alpen für viele eine Neudefinition von «Swissness» bedeuten, solche Momente dürfen aber nicht nur ein Aufruf für engstirnige, auf Landesgrenzen reduzierte Umweltschutzagenden sein. Tatsächlich ist die Zeit reif, um über ein zukünftiges Grundrecht mit einem kosmopolitischen Anspruch und einer globalen Reichweite nachzudenken. Inzwischen ist man sich weitgehend einig darüber, dass sich der Klimawandel direkt und indirekt auf ein breites Spektrum international gültiger Menschenrechte auswirken wird, darunter das Recht auf Gesundheit, Wohnen, Wasser und Nahrung. Die durch die negativen Auswirkungen des Klimawandels am stärksten gefährdeten Menschen leben auf kleinen Inseln, in Ufergebieten und niedrig gelegenen Küstenräumen, Trockengebieten und an den Polen. Das wirft auch die Frage auf, wie wir hier in der Schweiz ein zukünftiges weltweites Grundrecht ersinnen können. Ein solches Neudenken von Grundrechten muss auf zwei Ebenen stattfinden: zeitlich und räumlich. Auf der zeitlichen Skala müssen wir uns überlegen, wie wir die nötigen Bedingungen für den Schutz des Rechts zukünftiger Generationen auf ein gesundes und erfülltes Leben auf diesem Planeten schaffen können. Die zweite – räumliche – Skala erfordert von uns, dass wir uns ein Schweizer Grundrecht mit globaler Reichweite vorstellen. Für beide Ansatzpunkte gibt es Beispiele, die als Modelle dienen können. Das erste Beispiel: Im März 2021 fällte das Bundesverfassungsgericht in Deutschland den historischen Entscheid, das deutsche Bundes-Klimaschutzgesetz von 2019 sei mit den Grundrechten zukünftiger Generationen insofern unvereinbar, als hinreichende Massgaben für die Emissionsreduktion von Treibhausgas bis 2050 fehlten. Die Klagenden, darunter auch junge Klimaaktivisten und -aktivistinnen, brachten das Gericht dazu, über Rechte in einem generationenübergreifenden Rahmen nachzudenken. Der Kernpunkt ihrer Argumentation war, dass ungenügende Massgaben zur Reduktion von CO2-Emissionen im Bundes-Klimaschutzgesetz von 2030 bis 2050 einen sehr begrenzten Zeitraum für Deutschland bedeuteten, um die Klimaneutralität zu erreichen, und dass dies viele Grundrechte der deutschen Bevölkerung drastisch einschränken und die Last in unverhältnismässigem Ausmass den zukünftigen Generationen aufbürden würde. In juristischer Hinsicht ist das ein innovativer Entwurf, der nicht nur den Grundstein für die Konzipierung eines künftigen Grundrechts legt, sondern insbesondere auch für die Begründung dieses Rechts in einer Weise, die eine Ausdehnung der bestehenden Grundrechte der Schweizer Bevölkerung auf spätere Generationen ermöglicht. Um dieses Recht zu gewährleisten, müssen wir uns mit der räumlichen Dimension des Rechts – seiner Tragweite über die Landesgrenzen hinaus – auseinandersetzen. Der räumliche Entwurf für ein solches Recht bringt uns zurück auf den eisigen Untergrund, auf dem wir unsere Reise begonnen haben: Am 7. Dezember 2005 reichte Sheila Watt-Cloutier, Mitglied der kanadischen Inuit-Gemeinschaft, eine 163-seitige Petition bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ein, in der sie die Vereinigten Staaten von Amerika als einen der grössten Verursacher von Treibhausgasemissionen aufforderte, unverzüglich Schritte zum Schutz der Menschenrechte der Inuit zu unternehmen.
Porträt der Aktivistin von Chris Windeyer in Kanada, 2010.
Die Inuit­-Aktivistin Sheila Watt­-Cloutier und die Petition an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte. In der Petition kritisieren die Unterzeichnenden, dass die USA durch ihre Untätigkeit gegenüber der Erderwärmung die Menschenrechte  der Inuit verletzen. Porträt der Aktivistin von Chris Windeyer in Kanada, 2010. THE CANADIAN PRESS
Petition to the Inter American Commission on Human Rights Seeking Relief from Violations Resulting from Global Warming Caused by Acts and Omissions of the United States, eingereicht von Sheila Watt­ Cloutier, Kanada, 2005.
Petition to the Inter American Commission on Human Rights Seeking Relief from Violations Resulting from Global Warming Caused by Acts and Omissions of the United States, eingereicht von Sheila Watt­ Cloutier, Kanada, 2005.
Dieser Schritt war deshalb revolutionär, weil das Thema Umweltschutz zum ersten Mal ein menschliches Antlitz bekam und in den Menschenrechtsdiskurs einfloss. Bis dahin war meist von gefährdeten Eisbären auf schmelzenden Gletschern die Rede gewesen. In ihrem wegweisenden Buch The Right to be Cold: One Woman’s fight to Protect the Arctic and Save the Planet from Climate Change erörtert sie die Sicherstellung des kulturellen Rechts auf Eis, Schnee und Kälte der indigenen Gemeinschaften in den Polarregionen. Diese dient nicht nur dem Schutz der Arktis, sondern auch dem Schutz des gesamten Planeten. Wenn Staaten heute zunehmend dazu übergehen, ihre eigennützigen Rechte auf Zugang zu ihren fossilen Ressourcen im Namen der «nationalen» Entwicklung zu schützen, ist vielleicht die Zeit gekommen, die Schweizer Grundrechte auf einer globalen Skala zu denken. Mit Watt-Cloutier als Beispiel können wir fragen: Was muss heute getan werden, um zukünftigen Generationen in der Schweiz das Recht auf Kälte zu garantieren?

Die Schwei­ze­ri­sche Eidgenos­sen­schaft setzt sich ein für die dauerhaf­te Erhaltung der natürli­chen Lebensgrundlagen

Bundesverfassung von 1999, Artikel 2, Absatz 4

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