Appenzeller Frauen an einem Trachtenfest 1924.
Appenzeller Frauen an einem Trachtenfest 1924. Schweizerisches Nationalmuseum

Bubikopf oder Trachtenhut?

Bubiköpfe, enge Röcke, flache Schuhe – die neue Mode in den 1920er-Jahren findet Anklang, doch auch erklärte Feinde. Diese lancieren, als Rückbesinnung, das etwas vergessene Trachtenwesen neu.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

So viele Frauen hatte der Grossratssaal in Luzern kaum je zuvor gesehen. Frauen aus Zürich trugen die Patrizierinnentrachten, die Thurgauerinnen traten in der Arbeitstracht auf, Frauen aus St. Gallen zeigten die Fürstenländer- und die Oberländer-Tracht. Bernerinnen führten ihre schwarzen Tücher vor. Ebenfalls dabei waren Frauen aus Baselland, Solothurn, Waadt, dem Greyerzerland und aus der Innerschweiz, Frauen mit ihren lokal differenzierten Trachten. Die 300 Trachtendamen sangen miteinander «Rufst Du mein Vaterland», und es herrschte richtige Aufbruchstimmung. Anlass für diesen folkloristischen Grossaufmarsch bildete die Gründung der «Schweizer Trachten- und Volkslieder-Vereinigung» am 6. Juni 1926 in Luzern. Die neue Vereinigung wollte die Trachten erhalten und die Schweizerinnen dazu ermuntern, sich für die Tracht, das sogenannte «Kleid der Heimat», stark zu machen. Die Vertretung des Basellands regte an, dass sich die neue Vereinigung «gegen Modetorheiten à la Bubikopf» und gegen «jede künstlerische Überfremdung, besonders auch auf dem Gebiete von Musik und Gesang» stelle; speziell zu bekämpfen seien «Foxtrott, Schimmy, Tempo, Operettenschundlieder etc.» – die Frauen hiessen den Antrag mit tosendem Beifall gut.
Schweizer Frauen in Trachten, Anfang des 20. Jahrhunderts.
Schweizer Frauen in Trachten, Anfang des 20. Jahrhunderts. Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern

Neue Rolle, neue Mode

Mit den «fremden Modetorheiten» waren die damaligen Trends vor allem in der Frauenmode gemeint. Denn nicht nur die Trachten wurden neu entdeckt; die Damenkonfektion machte in den 1920er-Jahren einen grossen Schritt in die Moderne. Die klaren Linien und schnörkellose Gestaltung in Design und Architektur fanden sich in der neuen Mode wieder. Die Frauen konnten sich in dieser Zeit vermehrt entfalten: Sie arbeiteten nicht mehr nur als Kindermädchen, Kellnerin oder Schneiderin, sondern wurden in grosser Anzahl in den boomenden Büros gebraucht. Für viele Frauen bedeuteten diese Entwicklungen eine Befreiung von alten Verhaltensmustern und ein Aufbruch in eine neue Rolle in der Gesellschaft. Kein Wunder forderten mehr Frauen politische Partizipation mit dem Frauenstimmrecht, diesmal mittels einer Petition (und wieder vergeblich!). Das neue Rollenbild der Frau in Wirtschaft, Politik und Familie wurde nirgends so schnell und konsequent aufgenommen wie in der Mode: Die Modehäuser und Schneider brachten der neuen Zeit entsprechend neue Schnitte, Formen und Kleidungsstücke. Die Frauen zeigten nun ihre Beine, mit denen sie fest im Leben standen. Sie hatten kräftige Arme, mit denen sie ihr eigenes Auto lenken konnten. Sie hatten kluge Köpfe mit Kurzhaarfrisuren, weil sie es so wollten.
Frau in einem Büro in Basel, 1920.
Immer mehr Frauen arbeiteten in Büros. Wie hier 1920 in Basel. Schweizerisches Nationalmuseum

Kurze Haare und Lippenstift

Das moderne Leben, das ihr Leitbild war, erforderte eine neuartige Kleidung: Sie trugen das Hemdkleid, das zuvor nur von arbeitenden Frauen getragen worden war, oder kniekurze, enge Röcke und darunter – als letzter Schrei – transparente Kunstseide-Strümpfe, welche Bein zeigten. Die Taille, zuvor mit einschnürenden Korsetten betont, verschwand scheinbar völlig. Die Haare liessen sie sich auf Streichholzlänge zum so genannten «Bubikopf» schneiden, der zuweilen unter dem Hut verschwand, welcher aufgrund seines glockenartigen Aussehens «Cloche» genannt wurde. Lange Perlenketten, üppige Quasten und wilde Fransen waren die Accessoires der neuen Lebensart. Und sogar Modeschmuck aus billigen Materialien wurde getragen ebenso wie Straussenfedern oder künstliche Blumen. Etwas vom Goldglanz dessen, was in den Modemetropolen wie Paris oder Mailand über den Laufsteg wirbelte, gelangte in die weite Welt und damit auch in die Schweiz. Die «neuen Frauen» traten auf mit kurzen Haaren, kleinem Busen, schmalen Hüften und langen Beinen, zuweilen in Hosen, flachen Schuhen, mit Zigaretten und am Steuer eines Wagens. Als dann noch Make-up, Lippenstift und Nagellack den Sprung über den Atlantik schafften, gerieten die konservative Seele in der Schweiz endgültig in Wallung. «Müüli- und Nägelisüüch» wurde das neu aufkommende Schminken abschätzig genannt.
Alltagsmode anno 1929, während der Seegförni auf dem Zugersee.
Alltagsmode anno 1929, während der Seegförni auf dem Zugersee. Bibliothek Zug
Frisur Bubikopf.
Der Bubikopf sorgte in den 1920er-Jahren für Furore. Gertrud Lehnert, Geschichtete der Mode des 20. Jahrhunderts, Köln 2000

Scharfe Kritik und Anti-Mode

Die neuen Konfektionen ernteten Kritik, wie etwa in der Zeitschrift «Katholische Schweizerin» im Jahr 1923: «Das Kleid hat die Aufgabe, den Körper zu bedecken und zu schützen. Dem widersprechen zu kurze Kleider, zu eng anliegende Kleider, welche die Körperformen zu sehr ausprägen, Kleider mit zu tiefem Halsausschnitt, mit zu kurzen Ärmeln, durchsichtige Kleider ohne genügend schützende Unterkleidung.» Im scharfen Gegensatz zu den neuen Modeformen stand die Bewegung der Trachten. Diese galten als Quell des Ursprünglichen, als Inbegriff des Heimatlichen, als eine Art Anti-Mode zu den vorherrschenden Trends. Allerdings waren die Trachten gar nicht so alt, wie sie den Anschein machten. Denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Trachten in der Schweiz grösstenteils in Vergessenheit geraten! Der Erste Weltkrieg war gewissermassen die Einleitung des Comebacks. Waadtländer Frauen schlossen sich 1916 in Sauvabelin zusammen, um dem äusseren Druck im Krieg mit der Pflege der Schweizer Eigenart mittels Trachten zu begegnen. Dabei geschah etwas Wichtiges: Zum ersten Mal wurden Richtlinien für die Trachtenschneiderei und Vorschriften für das korrekte Tragen der Trachten erlassen.
Tänzerin des Zürcher Mascotte auf einem Flugzeug in Dübendorf.
Die neue Mode brachte konservative Kreise auf die Palme. ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Trachten auch in der Stadt beliebt

Nach Ende des Kriegs setzte Schritt für Schritt eine Renaissance der Trachten ein. Was erstaunen mag: Das Trachtenwesen wurde dabei städtisch; denn das «Kleid der Heimat» begeisterte nun auch das urbane Volk. Die Stadt war damals für viele eine Anhäufung negativer Erscheinungen mit Armut, Wohnungsnot, Sittenzerfall, Dreck und Enge. Dieser Stadt-Skepsis, zusätzlich aufgeladen durch ein Missbehagen gegenüber dem zunehmenden Einfluss von internationalen Strömungen, wurde das bodenständige Brauchtum mit Trachten und Volksliedern entgegengesetzt. 1926 folgte dann wie erwähnt die Gründung der Schweizer Trachten- und Volkslieder-Vereinigung – bezeichnenderweise fand diese nicht auf dem Land statt, sondern mitten in einer Stadt, nämlich in Luzern. Fortan mischte sich das Neue mit dem Alten; das eine verdrängte das andere nicht, stattdessen standen in der Schweiz das Gestern und das Heute nebeneinander. Trotz Bubiköpfen gründeten sich Ende der 1920er-Jahre in der Schweiz viele neue Trachtengruppen. Neben der Mode hatte sich die Anti-Mode etabliert: Das «Kleid der Heimat» hatte sich neu erfunden.
Frauen in Trachten auf dem Flugplatz Dübendorf, 1930er-Jahre.
Tracht und städtisches Leben widersprachen sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv

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