Originalfoto von Willy Rogg: Das Auto des königlichen Ehepaars ist total zerstört.
Originalfoto von Willy Rogg: Das Auto des königlichen Ehepaars ist total zerstört. Heimatmuseum Küssnacht

Der tragische Tod von Königin Astrid

Am 29. August 1935 stirbt Königin Astrid von Belgien bei einem Autounfall am Vierwaldstättersee. Nur einen Tag später weiss es die ganze Welt. Dank eines findigen Schweizer Fotografen und der Hilfe eines bekannten Flugpioniers.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

Der 29. August ist der letzte Ferientag, die Sonne scheint, es zieht die Menschen nach draussen. Er sagt zu ihr, dass er heute selber entlang des Vierwaldstättersees fahren wolle, schliesslich hätten sie ein neues Cabriolet mit acht Zylindern und Weisswandreifen. Doch der Autolenker ist ungeübt, er gerät zwischen Merlischachen und Küssnacht über den Bordstein und donnert direkt in einen Birnbaum. Seine Beifahrerin fliegt aus dem offenen Wagen und stirbt an der Unfallstelle. Das tragische Unglück ereignete sich 1935, der Lenker war der belgische König Leopold III., seine verunfallte Begleiterin die belgische Königin Astrid. Die Astrid-Kapelle an der Unfallstelle erinnert bis heute an das Drama von damals und zieht noch immer Publikum und Trauergäste an.
Die Astrid-Kapelle am Ufer des Vierwaldstättersees erinnert an die verunglückte Königin.
Die Astrid-Kapelle am Ufer des Vierwaldstättersees erinnert an die verunglückte Königin. Schweizerisches Nationalmuseum
Was aber die wenigsten wissen: Nach dem Unglück geht die Geschichte weiter. Denn ein Mitarbeiter der Bezirkskanzlei Küssnacht erfährt, dass eine Prominente verunfallt sei. Deshalb ruft er seinen Sohn an und sagt: «Willy, geh sofort mit dem Fotoapparat zur Unfallstelle an die Luzernerstrasse.» Dieser Willy Rogg, Student der Zahnmedizin, pedalt also mit dem Velo los und trifft an der Unfallstelle auf ein zerbeultes Packard-Cabriolet, auf einen unter Schock stehenden König und auf eine tote Königin. Es ist ein Drama sondergleichen!
Das Auto ist halb im Vierwaldstättersee versunken. Originalbild von Willy Rogg.
Das Auto ist halb im Vierwaldstättersee versunken. Originalbild von Willy Rogg. Heimatmuseum Küssnacht
Willy ist einer der Ersten vor Ort und berichtet später über die verunfallte Königin: «Ich ging auf sie zu, legte die Hand an ihre Wangen, die schon kalt waren, und ergriff die noch warme Hand, um den Puls zu kontrollieren. Das Herz hatte aber bereits aufgehört zu schlagen. Die Tote wies an der rechten Gesichtshälfte Verletzungen auf, und beim genauen Hinsehen erkannte man die eingedrückte Schläfe. Im Haar befanden sich noch kleine Teile der Rinde des Unglücksbaumes.»
Foto von Willy Rogg: Die Leiche von Königin Astrid (unter einen weissen Tuch) wird in einen Sarg gehoben.
Foto von Willy Rogg: Die Leiche von Königin Astrid (unter einen weissen Tuch) wird in einen Sarg gehoben. Heimatmuseum Küssnacht
Was Rogg nicht erwähnt: Er führt den Auftrag seines Vaters aus, ergreift den Fotoapparat, nimmt die Unfallstelle in den Fokus und drückt insgesamt sechs Mal ab. Die exklusiven Bilder zeigen das zerstörte Auto, die Unfallstelle und den Moment, als die Leiche der Königin eingesargt wird. Damit schreibt Willy Rogg, ohne dass es ihm bewusst ist, internationale Fotografie- und Mediengeschichte.
Leopold III. von Belgien heiratet 1926 die 19-jährige Astrid von Schweden.
Leopold III. von Belgien heiratet 1926 die 19-jährige Astrid von Schweden. Die Medien interessierten sich seither für das Glamourpaar. Wikimedia
Der junge Paparazzo will die Fotos der Schweizer Bildagentur Photopress verkaufen, doch die kann sich nicht zu einer Übernahme entschliessen. Deshalb radelt Rogg weiter nach Weggis, um die Bilder in einem Fotostudio entwickeln zu lassen. Anschliessend wendet er sich an die weltgrösste Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Die zeigt an Roggs Bildern Interesse und zahlt für jedes der Exklusivbilder 100 Franken.

Erster Nachtflug der Schweizer Luftfahrt

Aber die Bilder müssen auf schnellstem Weg von Weggis nach London. Deshalb empfiehlt AP, ein Taxi auf Spesen zu nehmen und nach Dübendorf zu fahren. Dort befindet sich der erste Flughafen der Schweiz, über den gerade der damals schon weltberühmte Pilot Walter Mittelholzer (1894–1937) spaziert. Mittelholzer ist technischer Direktor der 1931 gegründeten Swissair. Solche Promi-Bilder wie die von Rogg sind ganz nach seinem Geschmack, denn der Flugpionier ist auch ein gewiefter Medienunternehmer. Nur – es ist am Eindunkeln. Weil die Piloten ihre Flugzeuge zu dieser Zeit auf Sicht fliegen, kommen Flüge durch die schwarze Nacht nicht in Frage.
Walter Mittelholzer, 1930er-Jahre.
Walter Mittelholzer ist nicht nur Flugpionier, sondern auch Medienprofi. Er erkennt die Brisanz von Roggs Fotos sofort. ETH Bibliothek Zürich
Doch Mittelholzer weiss, dass Roggs Fotos dank ihrer Aktualität brisant sind. Er will den ersten Nachtflug der Schweizer Aviatikgeschichte wagen. Dazu bittet er Robert Gsell (1889– 1946) an Bord. Gsell, der bessere Pilot als Mittelholzer, hält den Weltrekord im Dauerfliegen, ist Oberexperte und ETH-Dozent für Flugwesen. Dieser findet es zwar ein wenig merkwürdig, für sechs Fotos mit einer Douglas DC-2 durch die Nacht zu fliegen – eine Maschine für 14 Personen! Doch er macht mit. Der Nachtflug ist nicht ungefährlich. Gsell und Mittelholzer berechnen mit einem kreisförmigen Rechenschieber den richtigen Flugwinkel, von Zeit zu Zeit donnern sie durch ein Wolkenloch. Trotz der Sommernacht ist es bitterkalt, auf der Flughöhe von 4500 Meter bildet sich Eis an den Luftschrauben, die Kabinenfenster sind zugefroren. Plötzlich scheinen Kieselsteine auf den Flugzeugrumpf zu prasseln – doch es ist nur ein Eisregen. Zur Beruhigung der Piloten geht der Niederschlag in Regen über. Allmählich weichen die Wolken, und die Erleichterung ist gross, als die Lichter des Flugplatzes von London zu erkennen sind. Die Maschine setzt nachts um 0 Uhr 55 auf und kommt zum Stehen. Bereits Sekunden später entreisst ein Bote den Piloten die wertvollen Fotos und braust auf einem Motorrad davon.
Eine Douglas DC-2 in der Luft.
Für die wertvollen Fotos wagt Walter Mittelholzer zusammen mit Robert Gsell in einer solchen Douglas DC-2 den Nachflug nach London. ETH Bibliothek Zürich
Der erste Nachtflug der Swissair ist gelungen – und er führt dazu, dass die Unfallbilder von Willy Rogg auf der ganzen Welt Verbreitung finden. Denn die Nachrichtenagentur AP setzt die neue Methode des Bildrundfunks ein. So kommt es, dass die Fotos der toten jungen Königin noch in der Nacht weltweit auf die Redaktionen gelangen und bereits zum «early morning tea» die Leserschaft erschaudern lassen.

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