Der Bildhauer Pygmalion betrachtet seine zum Leben erweckte Statue Galatea und verliebt sich in sie. Illustration aus dem Rosenroman von Jean de Meun und Guillaume de Lorris aus dem 13. Jahrhundert.
Der Bildhauer Pygmalion betrachtet seine zum Leben erweckte Statue Galatea und verliebt sich in sie. Illustration aus dem Rosenroman von Jean de Meun und Guillaume de Lorris aus dem 13. Jahrhundert. Bodleian Library MS. Douce 195

Pygmalion forever!

Sie ist ein uralter Männertraum: die künstliche Frau, die zum Liebesobjekt wird und darob zum Leben erwacht. Jahrtausendelang war sie bloss Gegenstand der Mythen und der Literatur, also der Phantasie. Aber das ändert sich jetzt.

Peter Egloff

Peter Egloff

Der Volkskundler Peter Egloff ist Publizist in Zürich.

Männer, Älpler in der Regel, erschaffen eine Puppe, ein «Ditti» oder «Tuntschi» aus Holz, Lumpen, Stroh und behandeln das Ding wie ein menschliches Wesen, wie eine Frau. Sie sprechen und spielen mit ihr, füttern sie, taufen sie gar und nehmen sie reihum zur Bettgenossin. Das Geschöpf erwacht zum Leben, beginnt zu sprechen und lässt sich das zügellose Treiben vorerst gefallen. Gegen Ende des Alpsommers aber verwandelt es sich in ein Ungeheuer und nimmt fürchterliche Rache. Dieser Sagentypus ist im alpinen Raum in zahlreichen mehr oder weniger expliziten Varianten belegt, die von Volkskundlern ab etwa 1840 aufgezeichnet und veröffentlicht worden sind. Eine besonders eindrückliche, vom Altdorfer Spitalpfarrer Josef Müller um 1920 notierte Fassung erzählt der Innerschweizer Radiojournalist Tino Arnold:
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Das Sennentuntschi auf der Kammli-Alp. Ausschnitt aus der Radiosendung «Urmusik der Männerseele», 1994. SRF
Das zentrale Motiv dieser Sage – die künstliche Frau, welche zum Leben erwacht – hat eine literarische Vergangenheit, welche bis in die klassische Antike zurückreicht. Das Motiv hat aber auch eine literarische Gegenwart. Und eine technologische Zukunft, die schon begonnen hat und deren mögliche Folgen wir gerade zu ahnen beginnen. Doch zuerst ins alte Rom. Die 15 Bücher der «Metamorphosen» sind das Hauptwerk des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n.Chr.). Sie hatten einen immensen Einfluss auf Dichtung und bildende Kunst von Mittelalter und früher Neuzeit und gehören bis heute zum Kanon der Hochliteratur. Eine der 250 Verwandlungsgeschichten aus der griechischen Mythologie, welche Ovid in seine unsterblichen Verse gegossen hat, ist die Geschichte des Bildhauers Pygmalion, welcher aus Elfenbein eine traumhaft schöne Mädchengestalt formt und sich prompt in seine Kunstfigur verliebt. Er fleht die Liebesgöttin Venus an, ihm eine Frau nach diesem Vorbild zuzuführen – und wie er aus dem Tempel in seine Werkstatt zurückkehrt, findet er die Statue zum Leben erweckt vor: Wie er daheim, ging jener sogleich zum Bilde des Mägdleins, Neigte sich über das Bett und küsste sie. Wärme verspürt er. Wiederum nahte sein Mund; mit der Hand auch prüft er den Busen. Siehe, das Elfenbein wird weich, und befreit von der Starrheit Sinkt an den Fingern es ein, fügsam wie Wachs vom Hymettos, Das, von der Sonne erweicht, sich unter dem knetenden Daumen Schmiegt in manche Gestalt und brauchbar durch den Gebrauch wird. Während er staunt und zagend sich freut und Täuschung befürchtet, Naht er mit liebender Hand der Ersehnten wieder und wieder: Ja, es ist Leib. (Übersetzung Reinhart Suchier)
Der Bildhauer Pygmalion schnitzt sich seine Frauenfigur. Holzschnitt aus einer vermutlich in Paris um 1505 gedruckten Ausgabe des Roman de la Rose von Jean de Meun.
Der Bildhauer Pygmalion schnitzt sich seine Frauenfigur. Holzschnitt aus einer vermutlich in Paris um 1505 gedruckten Ausgabe des Roman de la Rose von Jean de Meun. University of Glasgow Archvies & Special Collection
Über welche Zwischenstationen und verschlungenen Pfade der Vermittlung das Pygmalion-Motiv seinen Weg vom Mittelmeerraum der Antike zu den Bauern und Hirten in den Alpen gefunden hat, ist im Detail nicht bekannt. Ovids «Metamorphosen» waren aber wie gesagt im Mittelalter ein prägender literarischer Text. Erste gedruckte, auch illustrierte Ausgaben erschienen schon bald nach der Erfindung des Buchdrucks und werden bei der Verbreitung des Motivs eine wichtige Rolle gespielt haben. Aber das erotische Glück des Pygmalion, das sinnenfreudige Happy End der antiken Erzählung verkehrt sich im repressiven Umfeld der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchenlehre ins rabiate Gegenteil. Die sexuelle Grenzüberschreitung wird in der Alpensage drakonisch bestraft. Sagen wollen erklären, belehren und warnen. Die Sage vom Sennentuntschi ist eine prototypische Frevel- oder Warnsage und als solche ein Instrument der sozialen Kontrolle abweichenden Verhaltens. Die Norm wird durch den Verstoss, die Grenze durch deren Überschreitung (oder das Reden darüber) bewusst und sichtbar gemacht. Der Bruch sexueller Normen und Tabus (Zoophilie, Pädophilie, Homosexualität) war auch ein Aspekt der oft extrem isolierten Temporär-Männergesellschaft auf der Alp. So erzählte 1963 der Gewährsmann Donat Maissen aus Cumpadials in der Surselva dem Sagensammler Arnold Büchli eine Sennentuntschi-Sage von der Alp Naustgel: Die Alpknechte «hatten ihre Kurzweil mit der Puppe, machten alle möglichen Dummheiten mit ihr, auch unanständige, wie die Belegschaft auf der Alp vor den Augen der kleinen Hirten, der Buben, oft zu tun pflegt.» Büchlis Kommentar: «Der Erzähler betonte, dass er seine Buben nie auf die Alp habe gehen lassen, weil sie von den älteren Alpknechten oft schlecht behandelt würden und viel ungute Reden zu hören bekämen.»
Das bisher einzige bekannte reale Sennentuntschi.
Das bisher einzige bekannte reale Sennentuntschi. Der Autor des vorliegenden Beitrags entdeckte und erwarb es 1978 vom letzten Bewohner des Weilers Masciadon im Calancatal und gab es 1986 in die Sammlung des Rätischen Museums in Chur. Die Figur besteht aus Holz, Stoff und Haar und ist 40 cm hoch. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum
Traugott Vogel (1939), Meinrad Inglin (1958) und Marie Luise Kaschnitz (1966) haben die alpine Version des Pygmalion-Mythos literarisch verarbeitet. Im ganzen deutschen Sprachraum und darüber hinaus bekannt wurde die Sage jedoch erst durch das Stück «Sennentuntschi» des Basler Autors Hansjörg Schneider. Schneider war vom Verleger und Sagenliebhaber Peter Keckeis auf den Stoff aufmerksam gemacht worden. Das Stück existiert in einer schweizerdeutschen und einer hochdeutschen Fassung, wurde 1972 im Nachtstudio des Zürcher Schauspielhauses uraufgeführt und begründete Schneiders Ruf als Dramatiker. Vergnügt erinnert er sich an die Uraufführung und daran, dass das Stück auch ein Publikum anzulocken vermochte, das sonst kaum im Theater am Pfauen anzutreffen gewesen sei.
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In der Radiosendung «Urmusik der Männerseele» von 1994 erinnert sich Hansjörg Schneider an die Uraufführung des «Sennentuntschi» von 1972. SRF
Anne-Marie Kuster, Heinz Bühlmann, Walo Lüönd (v.l.r.) an der Uraufführung von «Sennentuntschi» im Schauspielhaus Zürich.
Anne-Marie Kuster, Heinz Bühlmann, Walo Lüönd (v.l.r.) an der Uraufführung von «Sennentuntschi» im Schauspielhaus Zürich. Stadtarchiv Zürich, VII.200.; Foto: Leonard Zubler
Schneiders Stück kam in den folgenden Jahren immer wieder auf die Bühne, unter anderem in München, Wien, Paris und Berlin. Sein Text liegt auch der gleichnamigen Oper von Jost Meier zugrunde, die im April 1983 in Freiburg i.Br. uraufgeführt wurde. Weitaus am meisten zu reden gab jedoch die Studioproduktion des Schweizer Fernsehens. «Sennentuntschi» war bereits 1979 aufgezeichnet worden. Wegen seiner Deftigkeit und expliziten Sprache gab es aber Bedenken, das Stück wurde erst im Spätprogramm des 4. Mai 1981 ausgestrahlt. Der nachfolgende Proteststurm war ebenfalls zum grössten Teil inszeniert, vorwiegend von rechtskatholischen Kreisen. Der Autor musste sich vor der Flut anonymer Beschimpfungen und Drohungen zeitweise ins Tessin absetzen. Aber die Untersuchung der Strafanzeige des «Aktionskomitees für Sitte und Moral» gegen das Schweizer Fernsehen wegen «unzüchtiger Veröffentlichung» wurde durch Verfügung des Bezirksgerichts Zürich Ende 1981 eingestellt. Ein halbes Jahr später lehnte auch die Beschwerdekommission Radio/Fernsehen (die nachmalige Unabhängige Beschwerdeinstanz UBI) mit Billigung des zuständigen Bundesrates Leon Schlumpf eine Konzessionsbeschwerde ab. In der Begründung hiess es unter anderem, Schneiders Stück gehöre «zum relevanten schweizerischen Kulturschaffen.»
Die Sendung «Kulturplatz» erinnerte 2010 an den handfesten Sennentuntschi-Skandal von 1981. SRF
Spätestens seit Hansjörg Schneiders Theaterstück hat sich der urbane Kulturbetrieb den amtlich abgesegneten Alpenmythos von der Sennenpuppe definitiv angeeignet. Das Stück des Basler Dramatikers von 1972 knüpft direkt an die Sage an und lebt von der Demontage des verklärten Bildes vom gottesfürchtigen und sittenstrengen Bergler. Auch Michael Steiners Film «Sennentuntschi» aus dem Jahre 2010 verbleibt im alpin-rustikalen Ambiente.
Es ist eine Frau, die unlängst eine zeitgemässe Bearbeitung des Pygmalion-Stoffes vorgelegt hat. 2021 ging der Schweizer Buchpreis an die Zuger Autorin Martina Clavadetscher für ihren Roman «Die Erfindung des Ungehorsams». Eine der drei Protagonistinnen des Buches ist Ling, Arbeiterin in einer Sexpuppen-Fabrik im Südosten Chinas. Lings Job ist es, an den vorerst kopflosen Körpern der Silikon-Frauen die Gussnähte zu glätten und die Körperöffnungen manuell auf ihre Funktionalität zu überprüfen. Aber dann wird Ling in die Kopf-Abteilung versetzt, zur Künstlichen Intelligenz (KI), und hier, in der KI bahnt sich der neue algorithmische Entwicklungsschritt an, welcher im Buchtitel angesprochen ist. Clavadetscher hat für ihr Buch genau recherchiert und führt uns damit in eine Zukunft, die zu beträchtlichen Teilen bereits Gegenwart ist.
Sandy, eine Sexpuppe der neueren Generation, hergestellt vom chinesischen Unternehmen Exdoll.
«Beauty meets technology»: Sandy, eine Sexpuppe der neueren Generation, hergestellt vom chinesischen Unternehmen Exdoll. Frisur, Augen-, Haar- und Hautfarbe sind wählbar, ebenso Körpergrössen zwischen 158 und 170 cm. Wikimedia

begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter

15.03.2024 14.07.2024 / Landesmuseum Zürich
Menschliche Körper waren im Mittelalter Schauplatz von Widersprüchen: Sie wurden glorifiziert, unterdrückt, umsorgt und bestraft. Mit zahlreichen Leihgaben aus dem In- und Ausland wirft die Ausstellung einen kulturhistorischen Blick auf den Körper im Mittelalter und gibt Impulse, auch unser heutiges Bild des Körpers zu reflektieren.

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