Karte von Winterthur und Umgebung, um 1709.
Karte von Winterthur und Umgebung, um 1709. Zentralbibliothek Zürich

Von «Uitoduro» zu «Winti»: Wie sich Ortsnamen wandeln

Seit ihrer Gründung vor Jahrhunderten haben sich Ortsnamen stetig verändert: von simplen Beschreibungen der Landschaft oder der Besitzverhältnisse zu jugendsprachlichen Kurzformen, in Winterthur eben von «Uitoduro» zu «Winti».

André Perler

André Perler

André Perler ist Dialektologe und Historiker und arbeitet als Mundartredaktor bei SRF.

Solange eine Sprache lebendig und in Gebrauch ist, verändert sie sich ständig. Das gilt auch für Namen, die ja Teil der Sprache sind. Dank ihrer umfangreichen und oft weit zurückreichenden Dokumentation sind Ortsnamen besonders dafür geeignet, um an ihrer Veränderung über die Zeit sprachliche Entwicklungen zu beobachten. Ein schönes Beispiel für den Wandel eines Ortsnamens ist Winterthur. Als Ursprung der zweitgrössten Stadt im Kanton Zürich gilt die römische Kleinstadt (lat. vicus) mit Kastell Vitudurum im heutigen Stadtteil Oberwinterthur, am wichtigen Weg zwischen Genfer- und Bodensee. Dendrochronologische Analysen von ausgegrabenen römischen Holzbauten legen eine Gründung im ersten Jahrzehnt v. Chr. nahe.
So könnte die römische Kleinstadt Vitudurum im ersten Viertel des 2. Jahrhunderts n.Chr. ausgesehen haben.
So könnte die römische Kleinstadt Vitudurum im ersten Viertel des 2. Jahrhunderts n.Chr. ausgesehen haben. bunterhund Illustration / Kanton Zürich

Winter­thur, das Weidentor

Der lateinische Ortsname Vitudurum (erstmals um ca. 280 n. Chr. belegt) ist allerdings ursprünglich keltisch. Der römische Vicus muss also auf einer bestehenden keltischen Siedlung errichtet worden sein, auch wenn diese bisher archäologisch nicht nachgewiesen werden konnte. Die Bevölkerung in der römischen Zeit bestand hauptsächlich aus romanisierten Keltinnen und Kelten. Aus der latinisierten Form Vitudurum lässt sich keltisches *Uitódurō rekonstruieren, zusammengesetzt aus keltisch uito- «Weide; ev. auch ein Personenname» und der keltischen Ortsnamenendung –durōn «eig. Tür, Tor». *Uitódurō, und damit Winterthur, bedeutet also etwa «Weidentor, Weidenhof, aus Weidenzweigen geflochtene Einfriedung», allenfalls auch «Marktplatz des Uito».

Keltische Ortsnamen werden romanisiert

Die keltische Ortsnamenendung -durōn steckt etwa auch in Solothurn (*Salódŭrōn «Marktplatz am Wasser» oder «Marktplatz des Salo»). Und viele weitere keltische Ortsnamen in der Schweiz haben bis heute überlebt, so etwa Thun (dūnon «Palisadenwerk, Burg, befestigter Ort»), Yverdon (*Eburodūnon «befestigter Ort des Eburos bzw. der Eibe») oder Zürich (*Turīcon «Siedlung des Tūros») Mit der Integration der heutigen Schweiz ins Römische Reich um die Zeitenwende und dem damit verbundenen raschen Wechsel der Umgangssprache vom Keltischen zum Lateinischen wurden die keltischen Ortsnamen romanisiert (Salódŭrōn > Salodurum, Dūnon > Tunum, Eburodūnon > Eburodunum, Turīcon > Turicum).
Die erste schriftliche Erwähnung der Stadt Solothurn findet sich auf einem ehemaligen Altar-Stein aus dem Jahr 219 n. Chr. Der rot markiere Abkürzung Salod steht für den Ortsnamen Salodurum.
Die erste schriftliche Erwähnung der Stadt Solothurn findet sich auf einem ehemaligen Altar-Stein aus dem Jahr 219 n. Chr.. Der rot markiere Abkürzung Salod steht für den Ortsnamen Salodurum. Steinmuseum Solothurn

Keltoro­ma­ni­sche Neugründungen

Gleichzeitig entstanden auch einige neue, lateinische Ortsnamen, etwa Augst/Kaiseraugst (lat. *Augusta Rauricorum «Augustus-Stadt im Gebiet der Rauriker») oder Koblenz (lat. *confluentia «Zusammenfluss»). Viel zahlreicher als die rein lateinischen Ortsnamen sind aber keltisch-lateinische Mischformen, etwa die vielen Ortsnamen auf -ach(t): Bettlach, Alpnach, Küsnacht etc. Im ersten Wortteil steckt jeweils ein lateinischer Personenname und im zweiten Wortteil die keltische Ortsnamenendung -akos, latinisiert -acum. Diese Misch-Namen widerspiegeln die sprachlichen Verhältnisse in der romanisierten keltischen Gesellschaft des erweiterten Alpenraums.
Winterthur in einem Stich von Matthäus Merian, um 1640.
Winterthur in einem Stich von Matthäus Merian, um 1640. ETH-Bibliothek

Und wieder ein Sprachwechsel

Mit der Migration der Alemanninnen und Alemannen in das Gebiet der heutigen Deutschschweiz ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. fand ein erneuter Sprachwechsel statt. Die Alemanninnen und Alemannen gründeten zwar sehr viele neue Ortschaften (etwa mit den Endungen -ingen, -ikon, -dorf oder -wil), übernahmen aber auch viele bestehende Siedlungen – und passten die Namen ihrer germanischen Sprache an. So entstanden im Verlauf der Jahrhunderte die heute bekannten Deutschschweizer Ortsnamen. In den romanischsprachigen Landesteilen blieb dieser Sprachwechsel natürlich aus – stattdessen entwickelten sich die dortigen Ortsnamen in den jeweiligen romanischen Dialekten und Sprachen weiter.

Was haben Winter und Thur in Winter­thur zu suchen?

Dabei kam es manchmal zu volksetymologischen Anpassungen. Wird ein Teil eines Wortes oder eines Namens nicht mehr verstanden, kommt es vor, dass die Sprecherinnen und Sprecher ihn an ein ähnlich tönendes, aber etymologisch falsches Wort angleichen. Für Winterthur ist bereits um 856 die alemannische Form Wintarduro belegt – der nicht mehr verstandene Wortteil Vitu- wurde volksetymologisch an das alemannische Wort wintar «Winter» angepasst. Später wurde auch der zweite Wortteil verändert und an den Fluss Thur angelehnt (der nicht durch Winterthur fliesst). Weitere Beispiele für volksetymologisch abgewandelte Ortsnamen sind Weinfelden (im ersten Namensteil steckt nicht der Wein, sondern der alemannische Personenname Wino) oder Herzogenbuchsee / Münchenbuchsee (die Namen haben weder mit Buchen noch mit Seen zu tun, sondern gehen auf lat. *ad buxa «bei den Buchsbäumen» zurück).
Mit Licht geschriebenes «Winti» im Sulzerareal in Winterthur.
Mit Licht geschriebenes «Winti» im Sulzerareal in Winterthur. Keystone/ Roger Szilagyi

Jugend­sprach­li­che Kurz- und Koseformen

Heute spricht man – zumindest in der Region – statt von Winterthur oft nur von Winti. Diese Kurz- und Koseform des Ortsnamens dürfte noch keine 100 Jahre alt sein. Belege aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Autor nicht gefunden. Auch viele andere Ortsnamen werden nach diesem Muster abgekürzt: in der Region Winterthur etwa Neftenbach > Nefti und Wiesendangen > Wisi (Seuzach wurde hingegen lautgesetzlich regulär zu Seuzi); darüber hinaus Rapperswil > Rappi oder Solothurn > Soli. Möglicherweise sind diese Kurzformen in jugendsprachlichen Kontexten entstanden und haben sich später als Koseformen durchgesetzt. Die Bildung von Koseformen auf -i wurde wohl von Gattungsnamen (Badanstalt > Badi, Gymnasium > Gymi usw.) auf Ortsnamen übertragen. Andere Ortsnamen werden ohne -i-Endung verkost – meist indem sie auf die erste oder die ersten zwei Silben reduziert werden (Wünnewil > Wüne, Neuchâtel > Neuch). Besonders amüsant sind kreative Kose- und Scherznamen wie Wollyhood für Wollishofen, Ämmebronx für Emmenbrücke oder Chnoflige für Konolfingen. Und solange in der Schweiz Sprachen gesprochen werden, so lange werden sich die hiesigen Ortsnamen weiter verändern.

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