Eine Frau alleine unterwegs in einem Fiat, das erregte in der Türkei der 1960er-Jahren Aufmerksamkeit.
Eine Frau alleine unterwegs in einem Fiat, das erregte in der Türkei der 1960er-Jahre Aufmerksamkeit. Privatarchiv Hortensia von Roten

Im Fiat am Bosporus

1960 reiste Feministin Iris von Roten alleine in die Türkei. Es war ein Trip zwischen exotischen Freiheitsgefühlen und konservativen Rollenmodellen.

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin an der Universität Basel.

Ende Mai 1960 fährt ein kleines italienisches Auto in Brindisi aufs Fährschiff. Die Frau, die ihr «Fiatli» von Basel bis in die süditalienische Hafenstadt gelenkt hat, ist die 43-jährige Juristin und Autorin Iris von Roten. Mit «Lust am feministischen Experiment» und Fotoapparat, Papier und Schreibstift im Gepäck ist sie auf dem Weg in die Türkei. Über die sechs Monate im unbekannten Land wird sie ihr zweites Buch schreiben. Das erste hat achtzehn Monate zuvor wie ein Blitz eingeschlagen. Frauen im Laufgitter löste einen Sturm der Empörung aus. Für politische Rechte zu kämpfen ging ja noch an, aber über Menstruation, Geburtsschmerzen, erfüllte Sexualität und die Vorteile der freien Liebe zu schreiben, war 1958 skandalös. Selbst der Bund Schweizerischer Frauenvereine distanzierte sich «mit Entschiedenheit» vom Buch: Es stehe «in krassem Widerspruch zu den ethischen Zielen der schweizerischen Frauenorganisationen». Nachdem 1959 das Frauenstimmrecht abgelehnt worden war, liess von Roten dem feministischen Werk, an dem sie zehn Jahre lang gearbeitet hatte, das sarkastisch formulierte Frauenstimmrechtsbrevier folgen.
Porträt von Iris von Roten, um 1950.
Iris von Roten an der Arbeit, um 1950. Privatarchiv Hortensia von Roten
Provokant: Von Rotens Buch «Frauen im Laufgitter», welches 1958 veröffentlicht wurde.
Iris von Rotens Buch «Frauen im Laufgitter» von 1958 Schweizerisches Nationalmuseum
Nun ist sie bereit für Neues. «Schreibe das Buch, solange Du die Leidenschaft des Feminismus hast», hatte ihr Mann Peter von Roten 1948 geraten, als sie für einen Studienaufenthalt in den USA weilte. «Nachher schreibst Du dann ein anderes über Deine neue Leidenschaft.» Diese ist jetzt erwacht – und wieder eng mit ihrem Feminismus verknüpft. «Die pure Lebenslust machte mich feministisch», erzählt sie später. «Alles, was das Herz begehrte: wilde Abenteuer, lockende Fernen, tolle Kraftproben, Unabhängigkeit, Freiheit, das schäumende Leben schlechthin, schien in Tat, Wort und Schrift den Männern vorbehalten zu sein.» Sollen andere Frauen in ihren Laufgittern verharren – für Iris von Roten sind Grenzen überwindbar, die der Geschlechterrollen wie der Staaten. Sie fährt allein in ein Land, in dem fast nur «Männerleben und nochmals Männerleben» sichtbar sind, sie übernachtet in Hotels, wo nur Männer logieren, besucht Cafés, zu denen Frauen keinen Zutritt haben. Die Trennung zwischen weiblicher und männlicher Sphäre, die sie in der Schweiz angeprangert hat, findet sie in der Türkei in jedem Bereich, selbst in privaten Wohnungen.
Peter von Roten ermunterte seine Frau, ihre Leidenschaft für den Feminismus schriftlich festzuhalten. Das Bild der beiden entstand 1947 in Leuk.
Peter von Roten ermunterte seine Frau, ihre Leidenschaft für den Feminismus schriftlich festzuhalten. Das Bild der beiden entstand 1947 in Leuk. Privatarchiv Hortensia von Roten / Fotograf: Hans Baumgartner
Die von Kemal Atatürk begründete Republik ist sechs Jahre jünger als die Reisende aus der Schweiz. Das Land wurde seit den 1920er-Jahren modernisiert und säkularisiert, auch die Frauenemanzipation erlebte einen Aufschwung. Beeindruckt von der Rolle der Frauen in der Arbeitswelt, ist von Roten empört über ihren Ausschluss aus der Öffentlichkeit. Obschon weniger sexualisiert als im Westen, ist die Frau hier noch stärker Objekt in einer reinen Männerwelt. Die Emanzipation scheint ihr Teil des «Europäisierungsprogramms der westlich orientierten Politiker», dem Land von oben übergestülpt. Frauen, die sich für die Emanzipation exponieren, sucht sie vergebens.
Auf ihrer Reise fotografiert Iris von Roten immer wieder. «Zwischen Eskishetir und Kütahya, Sommer 1960», notiert sie zu diesem Bild.
Auf ihrer Reise fotografiert Iris von Roten immer wieder. «Zwischen Eskishetir und Kütahya, Sommer 1960», notiert sie zu diesem Bild. Privatarchiv Hortensia von Roten
Als westliche Frau geniesst von Roten einen Sonderstatus. Sie bewegt sich frei, begegnet Männern auf Augenhöhe. Die Frau im Fiat erregt Aufsehen. «Selbst in den Nebengassen geraten die Leute ins Rennen.» Sie wird umringt, angestarrt, ihr Auto angefasst. Zwei Fragen brennen allen auf der Zunge: die nach der Nationalität und die nach «Monsieur». Dass sie allein reist, scheint «jedes Vorstellungsvermögen zu übersteigen». Die Frage nach dem «Mann, ohne den sich eine Frau vermeintlich so wenig in der Welt bewegen kann wie ohne Füsse», wird ihr oft von der gleichen Person dreimal gestellt. Man glaubt, sich verhört zu haben. Ihr Interesse an fremden Ländern und Menschen und ihre kulturelle Neugier sind riesig. Begegnungen mit Unbekannten, die Gastfreundschaft, Ehrlichkeit und Herzlichkeit der Menschen begeistern sie. Man nimmt sich Zeit für Gespräche, ist ganz da und ruht in sich, selbst Zufallsbekanntschaften in den Strassen. Das Selbstbewusstsein der Menschen hängt nicht von ihrer Arbeitsleistung ab. Sie kennen die «Giftpille des Sichbewährenmüssens» und Konkurrenzkämpfe nicht, welche die Kontaktfreudigkeit vergiften, schreibt von Roten.
Iris von Roten unterwegs in der Türkei.
Iris von Roten unterwegs in der Türkei. Privatarchiv Hortensia von Roten
Sie notiert indes auch negative Erfahrungen: Hotelzimmer sind nicht abschliessbar, das Autodach wird aufgebrochen, Autopolster verschwinden in der Reparaturwerkstatt. Ihrer Begeisterung tun die Unannehmlichkeiten keinen Abbruch. Die Ästhetin mit ihrem «unsäglichen Bedürfnis nach Schönheit», das sie gar mit «Durst und Hunger» verglichen hat, geniesst die orientalische Welt, besucht Moscheen, antike Stätten und Bazars mit exotischen Stoffen und Teppichen. In die Schweiz zurückgekehrt, wird die Autorin enttäuscht. Entgegen der Abmachung publiziert der Verlag ihren Reisebericht nicht. Erst fünf Jahre später erscheint Vom Bosporus zum Euphrat. Die Eindrücke der nächsten Reisen wird sie nicht mehr schriftlich festhalten. Nach Jugoslawien und Tunesien, über Spanien nach Marokko und nach Syrien geht es in den folgenden Jahren, einige Länder besucht sie mehrfach, immer allein per Auto.
Die Galata-Brücke in Istanbul, fotografiert von Iris von Roten, 1960.
Die Galata-Brücke in Istanbul, fotografiert von Iris von Roten, 1960. Privatarchiv Hortensia von Roten
Gut 20 Jahre später besiegeln gesundheitliche Beschwerden und das Aufkommen des Massentourismus das Ende von Iris von Rotens grosser Reiseleidenschaft. Desillusioniert kehrt sie 1984 von einer Reise nach Tunesien zurück. Es sollte ihre letzte sein. Autobahnen, Tunnels, dichter Verkehr und Lastwagen haben die Schönheit des Unterwegsseins zerstört. «Es gibt für den Autoreisenden die Leidenschaft nicht mehr.» Auch das maghrebinische Land wird zur Enttäuschung: zu lärmig, zu voll. Reisegruppen verabscheut die Alleinreisende, ohne es zu wollen gerät auch sie in die «Touristenghettomaschine». Wo sind Unabhängigkeit und Freiheit geblieben, die sie im Reisen immer gesucht und gefunden hat? «Mein Gott, ich habe das menschenwürdige Reisen regelrecht überlebt», schreibt die 67-jährige. Die Kontakte zur Bevölkerung, die Unmittelbarkeit der Begegnungen – sie sind im Tourismusboom verloren gegangen. Und auch ihre Exklusivität. Teil einer Masse wollte die Individualistin nie sein.

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