Brettspiel mit dem Titel «Wettlauf zu den Goldgruben», um 1855.
Brettspiel mit dem Titel «Wettlauf zu den Goldgruben», um 1855. National Museum of Australia

Tessiner im Austra­li­schen Goldrausch

Im August 1854 kehrten die Tessiner Giovanni Antonio Palla und Tommaso Pozzi als reiche Menschen aus den Goldgruben im südöstlichen australischen Bundesstaat Victoria zurück. Die Nachricht über ihre Ankunft verbreitete sich wie ein Lauffeuer und führte zu einer Auswanderungswelle. Obwohl nur wenige der 2000 goldsuchenden Tessiner im australischen Goldrausch der 1850er-Jahre dieses Glück hatten, hinterliessen sie ihre Spuren.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Das Leben im Tessin des 19. Jahrhunderts war hart. Die seit langem bestehenden wirtschaftlichen und politischen Spannungen zwischen der Schweiz und dem österreichischen Kaiserreich beeinträchtigten den Handel zwischen dem Tessin und Norditalien und nahmen der Tessiner Bevölkerung die Einnahmequelle sowie die Aussicht auf Arbeit. Die Armut nahm rapide zu. Das langsame Tempo der industriellen Revolution trug wenig dazu bei, die Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung zu lindern. Schlechtes Wetter verursachte Missernten und Nahrungsmittelknappheit, was das Elend noch vergrösserte. Tessiner Zeitungen hatten bereits 1853 über den Australischen Goldrausch in Victoria geschrieben, während Reisebüros aus der Romandie und der Deutschschweiz immer wieder berichteten, wie erfolgreich andere Goldsucher in so kurzer Zeit gewesen waren. Die Entdeckungen in Bathurst in New South Wales und später in Ballarat und Bendigo in Victoria waren in der Tat spektakulär. In Bendigo wurden 1851, dem ersten Jahr des Goldrausches, 2,3 Kilogramm Gold aus einem einzigen Eimer Erde gewonnen. Bald bedeckten Zeltdörfer die sonnenverbrannte Landschaft Victorias, als Männer aus aller Welt nach Australien strömten, um ihr Glück auf der Suche nach Reichtum zu versuchen. Viele arme, ungebildete Tessiner aus den Bergen wollten sich die Chance, durch den Goldabbau in Australien reich zu werden, nicht entgehen lassen.
Zelte von Goldgräbern beim Mount Alexander, Skizze von R. S. Anderson, 1852.
Zelte von Goldgräbern beim Mount Alexander, Skizze von R. S. Anderson, 1852. State Library Victoria
"Schweizer Stollen" in den Jim-Crow-Grabungen, um 1858.
«Schweizer Stollen» in den Jim-Crow-Grabungen, um 1858. State Library Victoria
Karte von Australien von 1879.
Karte von Australien von 1879. Wikimedia
Goldnugget aus Bendigo, Victoria.
Goldnugget aus Bendigo, Victoria. Wikimedia
Reisebüros, dubiose Geldverleiher und Lokalpolitiker versuchten mit räuberischen Methoden, einen Teil des potenziellen Gewinns abzuschöpfen, indem sie den Tessinern, die eine Überfahrt nach Australien buchen wollten, Geld liehen. In Verträgen, oft in unleserlichem Deutsch oder Französisch abgefasst, wurde festgelegt, dass Reisebüros oder Geldverleiher Anspruch auf einen Anteil am erwarteten Vermögen ihrer Kunden hatten. Groteske Zinssätze waren zudem an der Tagesordnung. Noch ungeheuerlicher war die Praxis, Passagieren Schiffe zu buchen, die von Hamburg oder Antwerpen nach Sydney fuhren und nicht nach Melbourne, das viel näher an den Jim-Crow-Goldfeldern lag. Gelegentlich wurde auf den verkauften Fahrkarten weder ein genauer Bestimmungsort noch die voraussichtliche Dauer der Überfahrt angegeben. Die meisten der Tessiner Goldsuchenden, die zwischen 1854 und 1858 in Australien ankamen, waren ohne Englischkenntnisse, oft krank und unterernährt. Das Elend der Tessiner schockierte die australische Bevölkerung, die britischen Beamten sowie die Schweizer Ausgewanderten und Diplomaten. Die Auslandschweizer Gemeinschaft, meist romanische Winzer und Deutschschweizer, die in der Butter- und Käseproduktion tätig waren, tat ihr Bestes, um ihren Landsleuten zu helfen. Louis Chapalay, der Honorarkonsul der Schweiz in Australien, veröffentlichte sogar in grossen australischen Zeitungen emotionale Anzeigen, in denen er auf die Notlage der Tessiner hinwies. Das Glück einiger Tessiner wandte sich zum Besseren: Im grünen Vorort von Sydney, Hunter's Hill, fanden diejenigen Tessiner, die im Steinmetzhandwerk ausgebildet waren, eine lukrative Beschäftigung. Tessiner Steinmetze bauten dort öffentliche Gebäude, Privathäuser, Kirchen und Büros, von denen viele noch heute stehen. Auch viele Australierinnen und Australier halfen den bedrängten Tessiner Eingewanderten und boten ihnen Arbeit als Schiffsführer, Bauarbeiter und Eisenbahnvorarbeiter in  Neusüdwales und Victoria an.

…Wir haben goldenen Boden und Reichtum für die Arbeit; Unsere Heimat ist vom Meer umgeben; Unser Land ist reich an den Gaben der Natur; Von reicher und seltener Schönheit…

Auszug aus der Australischen Nationalhymne

Arbeiten auf den Goldfeldern

Auf die Tessiner, die zu den Goldfeldern in der Umgebung von Melbourne weiterzogen, wartete ein mühsamer und gefährlicher Prozess. Die meisten Goldgräber benutzten auf ihrer Suche nach Bodenschätzen vier primitive Werkzeuge: die Grubenlampe, die Schwenkschale, die Schleuse und die Spitzhacke. Die Schale half den Goldsuchern, Wasser zu schwenken, während die Schleuse wie ein Trog funktionierte, der das Wasser herausspülte, aber die Goldnuggets zurückliess. Während des australischen Goldrausches in den 1850er-Jahren war das Goldwaschen die beliebteste Methode, weil sie einfacher zu handhaben war. Einfache Spitzhacken halfen den Bergleuten, Gestein und Erde zu spalten, während die Grubenlampe den Bergleuten bei den Arbeiten unter Tage half.
Alluviales Goldwaschen, John Skinner Prout, London 1874-1876.
Alluviales Goldwaschen, John Skinner Prout, London, 1874-1876. State Library Victoria
Die Tessiner Bergleute trugen dicke Hüte und strapazierfähige Hosen, die sie nicht nur vor der intensiven australischen Sonne, sondern auch vor giftigen Wildtieren schützten. Vor allem Schmeissfliegen machten den Goldgräbern zu schaffen, da sie Lebensmittel verdarben und Wollkleidung befielen.

Ich konnte weder in dieser Nacht noch in den vielen Nächten danach in diesem Zelt schlafen. So etwas war mir noch nie begegnet. Mir war kalt, und das Schlimms­te war der Hunger, die vielen Flöhe und Läuse, die überall auf mir herumkrab­bel­ten, und die Mäuse, die die ganze Nacht an meinem Hals und meinen Ohren waren.

Auszug aus dem Tagebuch von Beniamino Casarotti
Abgesehen von den knappen Rationen waren Schwindsucht und Dysenterie weit verbreitet, und mit alarmierender Regelmässigkeit ereigneten sich schreckliche Unfälle. Auch die Konkurrenz durch andere Einwanderer war hartnäckig. Historikerinnen und Historiker schätzen, dass in den ersten Jahren des Goldrausches mehr als 500’000 Menschen als Goldgräber nach Australien kamen. Die meisten von ihnen waren Briten oder Iren, aber es kamen auch über 40’000 chinesische Bergleute – eine Zahl, die zwanzigmal höher war als die der Tessiner. Auch Gewalt war ein unvermeidlicher Bestandteil des Alltags in den Zeltdörfern. Ein grosser Aufstand fand 1854 in Eureka in der Nähe von Ballarat statt. Bergleute lehnten sich gegen die hohen Lizenzgebühren auf, die für den Zugang zu den Goldfeldern erforderlich waren. Australische Soldaten und Polizisten versuchten, den Aufstand niederzuschlagen und töteten dabei etwa 30 Bergleute. Obwohl die Tessiner dazu neigten, sich zusammenzuschliessen und die Arbeit untereinander zu organisieren, wurden nur sehr wenige durch den Goldabbau reich.
Eureka Stockade riot, Ballarat, John Black Henderson, 1854.
Eureka Stockade riot, Ballarat, John Black Henderson, 1854. State Library New South Wales

Auswir­kun­gen und Vermächtnis

Nach der Zeit weit weg von zu Hause und ohne Englischkenntnisse kehrten viele Tessiner in den späten 1850er- und frühen 1860er-Jahren ins Tessin zurück. Diejenigen, die sich entschlossen, in Australien zu bleiben, wurden dank der liberalen Landgesetze oft in der Landwirtschaft tätig. Sie vermischten sich mit katholischen irischen und italienischen Ausgewanderten, und so findet man heute überall in Victoria tessinische Nachnamen. Einige Tessiner verdienten genug Geld, um die Auswanderung ihrer Familien nach Australien zu finanzieren. Andere, immer noch auf der Suche nach Gold und Abenteuer, zogen in die Ferne, um auf den Goldfeldern in Kalifornien, Neuseeland und Kanada ihre Claims abzustecken. Einige Tessiner zog es in das «wunderbare Melbourne», das sich dank des enormen Reichtums, den die Jim-Crow-Goldfelder generierten, zur Industrie- und Finanzhauptstadt Australiens entwickeln sollte. Die Zeltsiedlungen der Tessiner Bergarbeiter, die davor als Ödland gegolten hatten, entwickelten sich zu Städten und blühenden Ortschaften. Die Beteiligung von Tessinern am australischen Goldrausch in den 1850er-Jahren trug zum Bevölkerungswachstum, zur Stärkung der australischen Wirtschaft und zur Herausbildung einer australischen nationalen Identität bei. Die Tessiner Bevölkerung in Australien spielte also eine kleine, aber dennoch entscheidende und bedeutende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft Südaustraliens.
In der Gemeinde Hepburn Springs in Victoria sind noch heute Tessiner Einflüsse präsent – nicht nur in einem jährlichen «Swiss-Italian Festa», sondern auch im Namen etwa der «Locarno Springs».
In der Gemeinde Hepburn Springs in Victoria sind noch heute Tessiner Einflüsse präsent – nicht nur in einem jährlichen «Swiss-Italian Festa», sondern auch im Namen etwa der «Locarno Springs». Wikimedia
Ein Haus namens «Locarno» in Yandoit, 1989.
Ein Haus namens «Locarno» in Yandoit, 1989. State Library Victoria / John T. Collins

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