Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Moskau, 19. Juli 1980.
Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Moskau, 19. Juli 1980. Wikimedia / Sergey Guneev

Sport als Spielball im Ost-West-Konflikt

Ob Sportlerinnen und Sportler an Wettkämpfen in autoritären oder kriegsführenden Staaten teilnehmen sollen, wird immer wieder diskutiert. Gerne fordern politische Akteure ihre Delegationen zum Boykott auf. Das steht im Widerspruch zum Sport, der darauf besteht, unpolitisch zu sein. Ein exemplarischer Rückblick auf die westliche Boykottkampagne im Vorfeld der Olympischen Spielen von Moskau 1980.

Simon Engel

Simon Engel

Simon Engel ist Historiker und bei Swiss Sports History für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Am 25. Dezember 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Das Ziel: Den dortigen Bürgerkrieg beenden und die brüchige Macht der lokalen Kommunisten sichern. Eine grosse Mehrheit der internationalen Gemeinschaft forderte drei Wochen nach dem Einmarsch den Abzug der Sowjets. Unterstützung fand die Sowjetunion ausschliesslich bei den sozialistischen Bruderstaaten des Ostblocks. Der Logik des Kalten Krieges folgend, nicht direkt und «heiss» einzugreifen, unterstützte der westliche Block unter der Führung der USA in Afghanistan die aufständischen Mudschaheddin mit Geld und Waffen. Weil es sich dabei um Geheimdienstoperationen handelte, beschränkten sich die offiziellen und öffentlich kommunizierten Gegenmassnahmen auf zivile Bereiche. So strich US-Präsident Jimmy Carter bereits zugesagte Weizenlieferungen an die Sowjetunion, stoppte den Export von hochwertiger Technologie für die Ölförderung und forderte das nationale olympische Komitee der USA (USOC) auf, die Olympischen Spiele in Moskau im Sommer 1980 zu boykottieren. Zudem rief der Präsident befreundete Staaten, insbesondere die sportlich gewichtigen Westeuropäer, auf, dem US-amerikanischen Beispiel zu folgen. Obwohl sich viele amerikanische Olympionikinnen und Olympioniken öffentlich gegen die Forderung stellten, kam das USOC dem präsidialen Appell mit einer Zweidrittelmehrheit nach; auch, weil Carter drohte, die staatliche Sportförderung einzustellen, falls eine US-amerikanische Delegation in Moskau antreten würde. Im politischen Westeuropa war die Lage hingegen um einiges komplexer.
Der russische Nobelpreisträger Andrej Sacharow wird abgeführt, während der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew die Aktion fromm verteidigt.
Der russische Nobelpreisträger Andrej Sacharow wird abgeführt, während der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew die Aktion fromm verteidigt. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan rief Sacharow zu internationalem Druck auf und forderte einen Boykott der Olympischen Spiele. Die sowjetische Regierung verhaftete Sacharow, entzog ihm seine Ehrungen und verbannte ihn nach Gorki, wo er von westlichen Reportern nicht interviewt werden konnte. Library of Congress
In der Schweiz hatten die Sportverbände kaum politischen und öffentlichen Druck zu befürchten: Der Bundesrat erklärte, Sport sei in der Schweiz keine Staatssache, über eine (Nicht-)Teilnahme hätten die Verbände selbst zu entscheiden. Zudem seien Boykotte abzulehnen, weil sie der Neutralitätspolitik der Schweiz entgegenstünden. In einer Umfrage im März 1980 sprachen sich 60 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer gegen einen Boykott aus, bei einer Nichtteilnahme wichtiger westeuropäischer Länder wären jedoch 55 Prozent gegen eine Teilnahme gewesen. Angesichts des damals vorherrschenden Antikommunismus und Antisowjetismus in weiten Teilen des Schweizer Bürgertums (und teilweise noch in der Sozialdemokratie) waren dies eher erstaunliche Aussagen, denn der dominierende bürgerliche Block im Parlament sprach sich für einen Boykott aus, während die linken Parteien dagegen waren.
Der SVP-Pressedienst zog Vergleiche zu den von den Nazis propagandistisch ausgeschlachteten Spielen im Jahre 1936 und folgerte: «[...] nach dem Schmierentheater in Afghanistan sollte den Russen nicht noch Gelegenheit zu einer Propagandaschau in Moskau geboten werden. Das wäre eine Verhöhnung der hohen sportlichen und völkerverbindenden Ideale der Olympischen Spiele». Ein Sprecher der SP richtete dem Berner Bund aus, dass erfahrungsgemäss «ein Boykott keine Politik und erst recht keine Friedenspolitik [sei]. Die Friedenspolitik müsse so angelegt sein, dass sie dem anderen ermöglichen, “Fehler” rückgängig zu machen, ohne das Gesicht zu verlieren. Genau dies sei aber bei einem Boykott der Moskauer Spiele wegen Afghanistan nicht möglich.» Für die bürgerlichen Parteien war die Forderung nach einem Boykott sehr einfach auszusprechen, denn allfällige Gegenmassnahmen seitens der Sowjetunion hätten kaum weh getan: Der Handel mit der Sowjetunion machte nur zwischen einem und zwei Prozent des schweizerischen Aussenhandels aus.
Stimmen von Schweizerinnen und Schweizern im Vorfeld des möglichen Boykotts der Olympischen Spiele in Moskau 1980. SRF
Uneinig waren sich auch die Schweizer Sportverbände: Die Spitze des damaligen Sportdachverbands, der Schweizerische Landesverband für Sport (SLS), war eigentlich für einen Boykott. Über die Entsendung an Olympische Spiele entschied aber damals das Schweizerische Olympische Comité (SOC). Dessen Generalversammlung beschloss mit einer sehr knappen Mehrheit (24 zu 22 Stimmen), die Spiele in Moskau nicht zu boykottieren. Die einzelnen Fachverbände sollten aber selbst entscheiden, ob sie antreten wollen oder nicht. Die Boykottbefürworter monierten insbesondere, dass die Sowjetunion mit dem Einmarsch in Afghanistan fundamentale Prinzipien der olympischen Charta missachtet habe und aufgrund des Fernbleibens vieler Länder, insbesondere der USA, die Spiele sportlich abgewertet würden. Demgegenüber argumentierten die Boykottgegner, dass ausgerechnet der völkerverbindende und auf den Frieden zielende Sport «verzichten» müsse.
Schweizer Erfolg: Der Judoka Joerg Roethlisberger gewinnt Gold im Mittelgewicht.
Schweizer Erfolg: Der Judoka Joerg Roethlisberger gewinnt Gold im Mittelgewicht. Keystone
Von den 16 Verbänden mit olympischen Sportarten wollten schliesslich aber nur vier die Reise nach Moskau nicht antreten: Der Turn-, der Fecht-, der Reitsport- und der Schiesssportverband. Die sporthistorische Forschung vermutet deren Boykott aufgrund der in diesen Verbänden stärker vorherrschenden bürgerlichen und militärischen Traditionen, die sich während des Kalten Krieges in einer starken Ablehnung von allem, was «aus Moskau» kam, äusserten. Diese These gilt es aber noch genauer zu untersuchen. Die gegensätzlichen Reaktionen in Politik und Sport zeigen, dass das Selbstbild der Schweiz als Hort der Neutralität auch in der Blockkonfrontation des Kalten Krieges kein Naturgesetz war. Neutral zu sein bedeutet nicht, starr zwischen zwei Blöcken zu stehen, sondern eine weltpolitische Positionierung, die sich nach einer Mehrheitsmeinung richtet: Ist man neutral, weil man trotz US-amerikanischer Boykottaufforderung nach Moskau fährt? Oder legitimiert man damit die sowjetische Invasion? Eine Frage der politischen Haltung.
Die Präsenz der USA an den Olympischen Spielen in Moskau 1980: Ein Zuschauer schwenkt die US-Flagge während der Schlusszeremonie.
Die Präsenz der USA an den Olympischen Spielen in Moskau 1980: Ein Zuschauer schwenkt die US-Flagge während der Schlusszeremonie. Keystone
Neutral zu sein funktioniert aus historischer Sicht nur so lange, wie andere Länder dies respektieren. Auf die Boykottkampagne von 1980 bezogen: Die Akteure in der Schweiz schauten bei ihrer «neutralen» Positionierung auch auf die Entscheidungen der anderen Regierungen und nationalen olympischen Komitees (NOK), insbesondere denen des befreundeten Westeuropas. Während der Bundesrat selbstbewusst auf die Neutralität pochte, warteten einzelne Sportverbände ab. Die Abstimmung im SOC fand zwar vor den Entscheidungen in den NOK Westdeutschlands, Italiens und Frankreichs statt, den definitiven Entscheid wollte man aber erst nach diesen Abstimmungen fällen. Als mit Grossbritannien, Frankreich und Italien drei sportliche Schwergewichte trotz grossen politischen Drucks ankündigten, in Moskau anzutreten, sagte die unschlüssigen Schweizer Verbände ihre Teilnahme zu. Bis auf Norwegen, Monaco und Liechtenstein nahmen auch alle «kleineren» westeuropäischen Ländern teil. Das einzige grosse westeuropäische Land, das die Spiele von 1980 boykottierte, war die Bundesrepublik Deutschland. Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Bundestag «empfahlen» mit grosser Mehrheit und parteiübergreifend – in einer rechtlich nicht bindenden Abstimmung – dem einheimischen NOK einen Boykott. Dieses liess seine Mitglieder wenig später darüber abstimmen, wobei mit 59 zu 40 Stimmen beschlossen wurde, nicht anzutreten. Trotzdem reiste Bundeskanzler Schmidt noch 1980 für einen Staatsbesuch in die Sowjetunion. Auch die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden Ländern wurden nicht angetastet, es wurde munter weiter mit Butter, Weizen und Maschinen gehandelt.
Marathonläufer im Zentrum der Olympiastadt Moskau. Links der spätere Sieger Waldemar Cierpinski (DDR).
Marathonläufer im Zentrum der Olympiastadt Moskau. Links der spätere Sieger Waldemar Cierpinski (DDR). Wikimedia / Deutsches Bundesarchiv
In Grossbritannien standen Regierung und Parlament (beide konservativ dominiert) zwar für wirtschaftliche Sanktionen und einen Boykott ein. Premierministerin Margaret Thatcher drohte den Sportverbänden – wie ihr US-amerikanisches Pendant – mit finanziellen Kürzungen bei einer Teilnahme. Das britische NOK war aber strikt gegen einen Boykott und hatte dabei die öffentliche Mehrheitsmeinung im Rücken, die den politischen Druck auf den Sport kritisierte. Schliesslich boykottierten nur die Verbände für Segeln, Landhockey und Reitsport aus eigenem Antrieb die Spiele in Moskau. In Frankreich hingegen waren Regierung und NOK auf einer Linie und votierten gegen einen Boykott, nur der Reitverband verzichtete auf eine Teilnahme. Die französische Regierung verzichtete auch auf wirtschaftliche Sanktionen, weil sie die seit den 1970er-Jahren eingesetzte Entspannungspolitik, die eine Annäherung zwischen West- und Ostblock propagierte, nicht gefährden wollte.
Sowjetische Karikatur des Olympia-Boykotts der USA
Sowjetische Karikatur des Olympia-Boykotts der USA. Eine sowjetischer Arm schützt «Misha», das harmlose Maskottchen der Olympischen Spiele, vor dem Zugriff der USA. Ausschnitt aus dem Rundschau-Beitrag vom 8. Mai 1980. SRF
Welche Schlüsse über das (Nicht-)Funktionieren von Sportboykotten lassen sich nun aus der historischen Betrachtung des halbgaren Olympiaboykotts von 1980 für westliche-demokratische Länder wie die Schweiz ziehen? Sportboykotte werden in der Regel von politischen Akteuren (Regierungen, NGO, Parteien) angestossen, in selteneren Fällen aus dem Sport (also von Sportverbänden oder einzelnen Sportlerinnen und Sportlern) selber. In beiden Fällen haben die Boykotte keine sportspezifischen Ursachen, sondern politische Gründe. Die politischen Player haben deshalb in der Regel auch den Lead in der Boykott-Debatte inne, während der Sport meistens nur reagiert: Er stellt sich zwar auf den berechtigten Standpunkt, dass Sporttreiben an sich nichts mit Politik zu tun habe, behauptet aber gleichzeitig, deshalb völlig unpolitisch zu sein – ein Ideal, das hart mit der Realität kollidiert, denn eine Nichtpositionierung zu einem Boykott ist auch ein politisches Statement. Zudem bewegt sich der Sport historisch gesehen in einem Dreieck der M: Masse (im Sinne von Zuschauerinteresse und entsprechendem medialem Interesse), Märkte (also wirtschaftliche Interessen) und Macht (im Sinne gesellschaftlicher und politischer Interessen bzw. Einflussnahme). Der Sport ist demnach politisch beeinflusst, er könnte aber durchaus unabhängiger von der Politik agieren: Um nicht, wie das amerikanische NOK 1980, vollkommen politisch einvernommen zu werden, müsste er selber politischer auftreten – indem er zum Beispiel Staaten, die Krieg führen, konsequent boykottiert und damit die sich selbst auferlegten Werte glaubwürdiger einhält. Luft nach oben wäre durchaus vorhanden, wie beispielsweise der gegenwärtige Umgang des IOC mit Russland zeigt. Solange dies aber nicht geschieht, wird bloss Symbolpolitik betrieben werden: Die Verbände verzichten zum Beispiel auf die Präsentation ihrer nationalen Flaggen und Hymnen (in Moskau taten das unter anderem Italien, Frankreich, Grossbritannien und die Schweiz), während politische Player bei passender Gelegenheit Sportboykotte fordern werden. Diese sind im Vergleich zu anderen möglichen Sanktionen zwar «billig», vermitteln dafür aber aufgrund des hohen Zuschauerinteresses des Sports die politische Botschaft höchst breitenwirksam.
Rundschau-Beitrag aus der Sowjetunion zum Boykott der Olympischen Spiele, 8. Mai 1980. SRF

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Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Swiss Sports History, dem Portal zur Schweizer Sportgeschichte, entstanden. Die Plattform bietet schulische Vermittlung sowie Informationen für Medien, Forschende und die breite Öffentlichkeit. Weitere Informationen finden Sie unter sportshistory.ch.

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