Hanny Christen beim Sammeln von Volksliedgut.
Hanny Christen beim Sammeln von Volksliedgut. Staatsarchiv BL, PA 6297, 06.01

Die Retterin der Volksmusik

Mit eisernem Willen und einem Tonbandgerät bewahrte die Baselbieterin Hanny Christen in den 1950er-Jahren die Volksmusik vor dem Aussterben.

Rachel Huber

Rachel Huber

Rachel Huber ist Historikerin und assoziierte Forscherin an der Universität Bern.

Sie marschierte während Jahrzehnten in einer Tracht bekleidet und mit einem der ersten portablen Aufnahmegeräte (UHER-Tonbandgerät) auf dem Rücken oft kilometerweise in allen ländlichen Regionen der Schweiz von Bauernhof zu Familiengut, um sich Tänze vortanzen sowie alte Lieder vorspielen zu lassen mit dem Ziel, traditionelles Schweizer Liedgut zu sammeln: «Schwizerart bewahre, der Heimat treu blybe», das war ihr Credo, welches von ihrer Leidenschaft zur ländlichen Schweizer Musik befeuert wurde. Obwohl sie auf diese Weise europaweit eine der wertvollsten Volksmusiksammlungen aufbaute – die grösste im Alpenraum –, blieben die Baselbieterin Hanny Christen (1899-1976) und ihr Werk lange Zeit unbekannt.
Hanny Christens Aufnahmegerät aus den 1950er-Jahren.
Hanny Christens Aufnahmegerät aus den 1950er-Jahren. hanny-christen.ch
Volksliedersammler gab es einige in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So sind der in Chur geborene Deutsche Kurt Huber, der aufgrund seiner Verbindung zur Widerstandsbewegung «Weisse Rose» 1943 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, oder sein partieller Weggefährte, der Kiem Pauli aus Bayern, bekannte Beispiele. Für die Schweiz kann seit der Entdeckung ihrer Sammlung in den 1990er-Jahren, Christen als bekannteste Volksmusiksammlerin gelten. Ihre Sammlung, die fast 12’000 Instrumentalstücke der Schweizer Volksmusik zwischen 1800 und 1940 enthält, setzt in Europa Massstäbe.
Für «ihre» Volksmusik war Hanny Christen (rechts) viel unterwegs.
Für «ihre» Volksmusik war Hanny Christen (rechts) viel unterwegs. Staatsarchiv BL, PA 6297, 06.01
Johanna Christen, die am 3. August 1899 in Liestal geboren wurde, war die Tochter von Sophie, geborene Spinnler, sowie Oscar Christen und hatte drei Geschwister. Sie und ihre Zwillingsschwester besuchten die Töchterschule in Basel. In ihrer klassischen musikalischen Ausbildung lernte sie Cello und Klavier. Die Liebe zum Baselbieter Liedgut wurde ihr von ihrem Grossvater, dem ehemaligen Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft (1858-1863), Jakob Christen, vermittelt. Während die meisten Musiksammler, die wie auch Christen, aus gutem Hause und urbanem Umfeld stammten, mit dem Sammeln der ländlichen Volksmusik eine Sehnsucht nach der heilen Welt und der «reinen» Musik stillten, war für Christen unter anderem ein anderer Treiber Motivation. Für sie war die Flucht in die Weiten der Schweizer Kantone ein emanzipatorischer Akt. Die Intention der Familie war es, die unverheiratete Tochter an ein Leben im Haushalt zu binden. Der Vater, seit 1915 Inhaber des Familienbetriebes «J. J. Christen & Söhne», bezahlte Hanny eine Lebensrente und nahm ihr im Gegenzug das Versprechen ab, standesgemäss keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen. Nach dem Tod des Vaters 1927 (ihre Mutter starb bereits, als sie elf Jahre alt war) übernahm ihr Bruder Walter sowohl die Zementwarenfabrik als auch die Auszahlung der Lebensrente an seine Schwester und damit die Erwartung, dass diese sich als Frau der damaligen sozialen Norm entsprechend zu verhalten hätte. Christen entzog sich trotz Anfeindungen und Kritik mit ihren Musikforschungsreisen diesem familiären und letztlich gesellschaftlichen Ansinnen.
Blick auf Christens Zementwarenfabrik in Muttenz, 1920er-Jahre.
Blick auf Christens Zementwarenfabrik in Muttenz, 1920er-Jahre. ETH Bibliothek Zürich
Bevor sie jedoch aktiv anfing, die alte Schweizer Musik einzufangen, die vom Verschwinden bedroht war, nahm sie ab 1928 an verschiedenen Trachten- und Singveranstaltungen teil. Christen scheint aber bereits damals nicht nur Interesse am Schweizer Kulturgut gehabt zu haben. An der SAFFA (Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit) von 1928 war sie für die Trachtenleute zuständig und setzte sich auf diese Weise für die Anerkennung von Frauenarbeit ein, die, so das Ziel des SAFFA-OKs, längerfristig zur Gleichstellung und zum Recht auf Erwerbsarbeit führen sollte. Christen liess sich bereits früh wenig von gesellschaftlichen und traditionellen Normen einschränken. Obwohl sie in Basel aufwuchs und lebte, identifizierte sie sich sehr mit dem Baselbiet. Dies spiegelte sich auch in ihrer Sprache wider, die von einem starken Baselbieter Einschlag geprägt war. Im Alltag trug sie mehrheitlich eine Baselbieter Tracht. Dies führte zum Ausschluss aus ihrer Basler Trachtentanzgruppe, die nicht darüber erfreut war, dass Christen auch am Rigi-Trachtenfest konsequent ihre traditionelle Kleidung aus der Basel-Landschaft trug. Mit diesem Eigensinn gestaltete die Tochter aus gutem Hause ihr Leben auch weiterhin und begann 1938 mit ihrer Sammlertätigkeit.
Tracht aus Basel-Landschaft, aufgenommen Anfang des 20. Jahrhunderts.
Tracht aus Basel-Landschaft, aufgenommen Anfang des 20. Jahrhunderts. Schweizerisches Nationalmuseum
Zunächst sammelte sie Tänze aus dem Baselbiet und der Nordwestschweiz. Sie schrieb die Melodien in ihre Notizbüchlein und notierte auch die Schrittabfolge der Tänze. Vorgetanzt und vorgespielt wurden ihr diese Melodien meistens von alten Menschen. Irgendwann dehnte sie ihren Forschungsradius in die ganze Schweiz aus und benutzte ab 1958 modernste Technik, um die Musik zu konservieren. Die Verwendung moderner Technik stand in starkem Kontrast zu ihrer Vorstellung, wie diese alte Musik in ihrer ursprünglichen, unveränderten Form zu bewahren sei. Sie hielt nichts von modernen Weiterentwicklungen oder Interpretationen, die Ländlermusik die in den 1930er-Jahren vermehrt Verbreitung fand, lehnte sie als «neumodisch» ab.
Für ihr Engagement wurde Hanny Christen 1951 mit dem Berner Radiopreis ausgezeichnet.
Für ihr Engagement wurde Hanny Christen 1951 mit dem Berner Radiopreis ausgezeichnet. Staatsarchiv BL, PA 6297, 06.01
Die Musikethnologin machte ihre Aufnahmen zwischen 1958 und 1965. Sie publizierte Lieder- und Versbände, schrieb Theaterstücke, gab Tanzvorstellungen mit ihrer Volkstanzgruppe und 1951 erhielt sie zusammen mit Eugen Huber den Berner Radiopreis. Mitte der 1960er-Jahre erkrankte Christen und übergab ihre Sammlung der Universität Basel, die das Legat ablehnte, da es unsystematisch war. Bis zu seiner Entdeckung 1992 durch Fabian Müller lagerte es ungeordnet in der Universitätsbibliothek Basel. Christen starb am 29. Juni 1976. Die Erhaltung der Tonsammlung der Baselbieterin wurde auch durch Memoriav unterstützt. Der Bestand ist nun auf der Memobase via Memobase+ (ausgewählte Hörstationen) zugänglich.

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