Wimbledon-Pokal nach dem Sieg von Novak Djokovic gegen Roger Federer, London, 2014.
Wimbledon-Pokal nach dem Sieg von Novak Djokovic gegen Roger Federer, London, 2014. Keystone / Ben Curtis

Sport und Kolonialismus 

Was hat eine Ananas mit dem Tennissport zu tun? Genug, um auf der weltberühmten Tennistrophäe des Herreneinzels der Wimbledon Championships zu sein. Die Trophäe wird seit 1887 von Sieger zu Sieger weitergegeben und an der Spitze ziert sie eine kleine Ananas. Dies hängt mit der kolonialen Geschichte des Sports zusammen.

Manda Beck / Michael Jucker

Manda Beck / Michael Jucker

Manda Beck und Michael Jucker arbeiten bei Swiss Sports History, dem Portal für Schweizer Sportgeschichte, an der Uni Luzern.

Europäische Länder unterwarfen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert weite Teile der Welt. Diese koloniale Ausbreitung bestand nicht nur aus der militärischen Unterwerfung und wirtschaftlichen Ausbeutung der kolonisierten Bevölkerung, sondern auch aus der Besiedlung der Gebiete und einer ethnisch-kulturellen Erniedrigung. Die Durchsetzung der westlichen Lebensweise und «Zivilisierung» der in den Kolonien ansässigen Menschen war ein essentieller Treiber dieser Zeit. In einer späteren Phase verfestigten die Kolonialmächte zu ihrer Legitimation die sogenannten «Rassentheorien» und versuchten in unterschiedlichen Bereichen die «Rückständigkeit» der Menschen in den Kolonien aufzuzeigen. Diese Tatsachen lassen sich gut am Beispiel der Expansion verschiedener Sportarten erkennen. Grossbritannien war die grösste Sport- und Kolonialmacht und hatte somit auch einen enormen Einfluss in der internationalen Ausdehnung des Sports. In der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der moderne Sport von England aus in die ganze Welt. So auch der «Gentlemen-Sport» Cricket. Die Spieler orientieren sich stark an den Tugenden der Fairness und Disziplin. Deshalb wurde dieser Sport zum einen ein wesentlicher Bestandteil der britischen Gesellschafts- und Kulturpolitik in den Kolonien. Zum anderen diente Cricket den Engländerinnen und Engländern in den Kolonien zur Bildung der Identität. Durch den Sport, der mehrheitlich durch die adlige Kultur geprägt war, konnten die Mitglieder der Kolonialverwaltung ihren British way of life weiterführen und sich von der lokalen Bevölkerung distinguieren. Man gründete Clubs, traf sich unter seinesgleichen und zelebrierte durch die Abgrenzung zu den kolonisierten Personen die eigene Herkunft und Überlegenheit. Zunächst spielten die Briten unter sich, später gründete die lokale Bevölkerung ebenfalls Teams. Die Briten waren gegenüber den neu gegründeten Mannschaften deutlich stärker und konnten so auch in den Spielen ihre Überlegenheit demonstrieren.
Eine Cricketgruppe der indischen Polizei, Amritsar, 1934.
Eine Cricketgruppe der indischen Polizei, Amritsar, 1934. British Library, Photo 348/(5)
Die Expansion des Crickets und weiterer britischen Sportarten wie Fussball, Rugby und Tennis widerspiegelt die koloniale Haltung, infolge derer den Menschen in den Kolonien die westliche Lebensweise aufgezwungen respektive die westlichen Sportarten in die Welt verbreitet wurden. Positiv formuliert handelte es sich um eine kulturelle Verbreitung, Vereinheitlichung und Globalisierung von Sport und dessen Werten. Die Regeln wurden weltweit gleich angewendet. Negativ betrachtet war es ein Aufzwingen der westlichen Lebensstile und Freizeitbeschäftigungen, eine kulturelle und sportliche Monokultur, die den Kolonien aufgestülpt wurde. Missionare, Beamte und Lehrer betrachteten den Sport als Mittel, um der lokalen Bevölkerung Werte wie Disziplin, Kameradschaft und Mut beizubringen. Dahinter stand die Vorstellung, dass die Kolonien «erzogen und diszipliniert» werden müssten. Bei den Common Wealth Games wurde zudem von den Athleten Loyalität zur Krone eingefordert. Auf regionale und lokale Sportarten, wie dem senegalesischen Ringen Lamb oder dem chinesischen Wushu, respektive einheimische Wertvorstellungen und Gepflogenheiten wurde nicht Rücksicht genommen. Gleichwohl kann gesagt werden, dass seit der Dekolonialisierung eine andere Identitätspolitik mit den Sportarten des vergangenen British Empire betrieben wird: Das Rugby-Team Neuseelands beispielsweise ist divers und schüchtert die Gegner zu Spielbeginn mit dem Haka, einem traditionellen Kriegstanz der Maori, ein. Auch Südafrika, der aktuelle Weltmeister, zelebriert die Vielseitigkeit der Rainbow Nation und ihre eigenen Traditionen.
Die «All Blacks» tanzen den Haka am Finale der Rugby-Weltmeisterschaft 2011 in Neuseeland. Youtube
Die Machtverhältnisse haben sich zumindest auf dem Sportplatz teilweise umgekehrt. Mitte Oktober dieses Jahr hat Afghanistan an der Cricket-WM in Indien gegen die ehemalige Kolonialmacht England erstmals gewonnen. Entsprechend geschockt zeigten sich die britischen Medien. Im offensichtlich immer noch kolonial gelesenen Selbstverständnis der Engländerinnen und Engländer war dies schlicht nicht denkbar. Afghanistan war erst vor 2018 in den elitären Kreis der Test-Cricket-Nationen aufgenommen worden. Test-Cricket ist die höchste Form des Crickets auf Länderspielebene und dauert fünf Tage. Die Liste der beteiligten Nationen entspricht den ehemaligen Kolonien Englands und reicht von Irland, über Neuseeland bis zu den Westindischen Inseln. Der afrikanische und der amerikanische Kontinent fehlen fast gänzlich.
Karte, auf der die Test-Cricket-Nationen rot eingefärbt sind.
Karte, auf der die Test-Cricket-Nationen rot eingefärbt sind. Wikimedia
Kolonialistische und rassistische Stereotypenbilder halten sich bis heute hartnäckig im Sport, wenn auch nicht mehr ganz so stark wie während des Kolonialismus: Als in den 1980er-Jahren die besten Mittelstreckenläuferinnen und -läufer aus Grossbritannien kamen, wurde dies mit guter Trainingsqualität und Lauftradition begründet. Später gewannen immer mehr Schwarze Läuferinnen und Läufer aus den USA, Jamaika und Ländern in Afrika. Dies versuchte nicht nur Grossbritannien mit genetischen Nach- und Vorteilen der «Rassen» zu begründen. In der Zwischenzeit hat die Wissenschaft gezeigt, dass es keine unterschiedlichen menschlichen «Rassen» gibt. Zwar gibt es minimale genetische Unterschiede, jedoch haben Faktoren wie geografische Lage, Herkunftsorte und ökonomische Verhältnisse einen viel grösseren Einfluss auf die körperliche Leistungsfähigkeit des Menschen.
800-Meter-Lauf an der Olympiade 1980 in Moskau. Das Bild zeigt die Athleten Mohamed Makhlouf, Sebastian Coe, Archfell Musango und Jimmy Massallay kurz nach dem Start (von links nach rechts).
800-Meter-Lauf an der Olympiade 1980 in Moskau. Das Bild zeigt die Athleten Mohamed Makhlouf, Sebastian Coe, Archfell Musango und Jimmy Massallay kurz nach dem Start (von links nach rechts). Wikimedia
Im Fussball spricht man trotzdem weiterhin von Märkten, Handel und Transfers. Afrikanische Spielerinnen und Spieler gelten als talentiert, aber in der Perspektive vieler westlicher Trainerinnen und Trainer als zu «zähmen und zu disziplinieren». Gerade in afrikanischen Ländern hoffen hunderttausende junge Fussballerinnen und Fussballer, meist noch im Kindesalter, in europäischen Vereinen unterzukommen. Durch undurchsichtige Vermittlungskanäle gelingt dies einigen Wenigen. Die meisten werden jedoch wie moderne Sklaven von Verein zu Verein geschoben, landen in tieferen Ligen oder in Osteuropa und wenn sie dort nicht mehr gebraucht werden oder verletzungsbedingt die Karriere beenden müssen, droht ihnen die Abschiebung ins Heimatland. Ist die Sportwelt ohne Kolonialismus überhaupt zu denken? Fest steht, dass die Forschung hierzu noch wenig geleistet hat. Es wäre an der Zeit, die Globalisierung durch das British Empire und weitere imperialistische Staaten, aber auch durch den globalen Handel an sich vor dem Hintergrund der Sportgeschichte neu aufzurollen. Gummischuhe und -bälle, aber auch Rennrad- und Autoreifen sind wesentliche Innovationen im Sport, aber ohne die Kolonien nicht denkbar: Der koloniale Weg des Kautschuks in die Sportwelt, die spätere Synthetisierung und Vulkanisation müssten noch aufgezeigt werden. Doch sicher kommt es nicht von ungefähr, dass John Boyd Dunlop, ursprünglich Tierarzt, der die ersten Luftreifen entwickelte, später ausgerechnet von Irland aus, das unter britischer Herrschaft stand, ein weltweites Rennreifenimperium mit kolonialen Verbindungen aufbaute. Die Firma Dunlop war im Sport ein wichtiger Name geworden und ist heute zudem auch für ihre Tennis-Rackets und -Bälle bekannt.
Werbung für Dunlop-Tennisbälle.
Werbung für Dunlop-Tennisbälle. Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France
Zurück zur Ananas auf dem Wimbledon-Pokal. Wie die Frucht an dessen Spitze gekommen ist, lässt sich nicht exakt eruieren. Sehr wahrscheinlich ist die These, dass die Ananas ein Symbol für Reichtum war. Die Frucht hat ihren Ursprung in Südamerika und wurde während der Kolonialzeit von den Seefahrern in die tropischen Gebiete der Welt verbreitet und dort angebaut. Die geringe Haltbarkeit machte es beinahe unmöglich, verkaufsfähige Früchte in den nördlichen Regionen der Welt zu erhalten. Deshalb oblag es nur dem Adel, in dessen Besitz zu gelangen. Ab Ende des 17. Jahrhunderts gelang es den Niederlanden und danach Grossbritannien, Ananas in Gewächshäusern zu kultivieren. Der Bau der Glashäuser war enorm kostspielig, die Betriebskosten hoch und es dauerte drei Jahre, bis eine Ananas erntereif war. Dazu kam der hohe Verkaufspreis. Also sehr passend zum damals elitären Tennissport.

Swiss Sports History

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Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Swiss Sports History, dem Portal zur Schweizer Sportgeschichte, entstanden. Die Plattform bietet schulische Vermittlung sowie Informationen für Medien, Forschende und die breite Öffentlichkeit. Weitere Informationen finden Sie unter sportshistory.ch.

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