Wie soll eine Landkarte beleuchtet werden? Das sahen nicht alle im selben Licht. Illustration von Marco Heer
Wie soll eine Landkarte beleuchtet werden? Das sahen nicht alle im selben Licht. Illustration von Marco Heer

Am Schatten schieden sich die Geister

1927 stritt sich der Geologe Albert Heim mit den Kartografen der schweizerischen Landestopografie. Er war überzeugt, dass deren Karten im falschen Licht dargestellt würden. Heim forderte, dass die Lichtquelle auf den Karten dem natürlichen Sonnenschein entsprechen sollte.

Felix Frey

Felix Frey

Felix Frey ist historischer Fachexperte beim Bundesamt für Landestopografie swisstopo.

Albert Heim (1849–1937) war ein regelrechter Überflieger. Im Alter von gerade einmal 24 Jahren wurde er 1873 als Professor für Geologie ans Zürcher Polytechnikum berufen, drei Jahre später war er in der gleichen Funktion auch an der Universität Zürich tätig. Mit seinen Forschungen zur Entstehung der Alpen machte sich der doppelte Geologieprofessor weit über die Landesgrenzen hinaus einen Namen. Heims Aktivitäten beschränkten sich aber nicht auf die Geologie. Wenn immer ihm etwas am Herzen lag, vertrat er seinen Standpunkt mit grosser Hartnäckigkeit. So war Albert Heim ein glühender Verfechter der Feuerbestattung, die im 19. Jahrhundert noch alles andere als üblich war – erst 1889 eröffnete auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich das erste Krematorium der Schweiz. Darüber hinaus forderte der Geologe die Gleichberechtigung der Frauen und engagierte sich in der Abstinenzbewegung, die sich für den Verzicht auf Alkohol einsetzte.
Albert Heim auf einer Fotografie von 1934.
Albert Heim auf einer Fotografie von 1934. e-pics
Weniger bekannt sind Heims leidenschaftliche Interventionen in der Welt der Schweizer Kartografie. 1927 kritisierte der damals bereits 78-jährige Geologe die beiden staatlichen Kartenwerke der Schweiz scharf. Die Dufour- und die Siegfriedkarte, wie die damaligen offiziellen Karten der Schweiz hiessen, enthielten laut Heim nämlich eine «Lüge», die «der Natur mit der Faust ins Gesicht» schlage. Stein des Anstosses war die Tatsache, dass die imaginäre Lichtquelle, die im Kartenbild für Licht und Schatten und somit für einen unmittelbar dreidimensionalen Eindruck sorgte, in jenen Kartenwerken aus Nordwesten kam.
Auch die Siegfriedkarte, die zum Zeitpunkt von Heims Streitschrift parallel zur Dufourkarte im Umlauf war, zeigte Südhänge im Schatten und Nordhänge im Licht.
Auch die Siegfriedkarte (hier Blatt 473, Gemmi), die zum Zeitpunkt von Heims Streitschrift parallel zur Dufourkarte im Umlauf war, zeigte Südhänge im Schatten und Nordhänge im Licht. swisstopo
Albert Heim war erklärter Gegner der sogenannten Nordwestbeleuchtung von Karten, die sich im 19. und 20. Jahrhundert weltweit immer stärker etabliert hatte. Laut dem Geologen widersprach sie der Realität, da die Sonne in der Schweiz üblicherweise aus südlichen Richtungen scheine.

Mir geht es wie ein Stich durchs Herz: Die warmen Rebgelän­de und Dörfer auf der Sonnen­sei­te des Walliser Hauptta­les, an der Nordseite des Lemansees, die viel Ackerbau treiben­den, sonnigen Gehänge der Nordseite des Vorder­rhein­ta­les sind in Schatten gebettet, die bewalde­ten Gehänge der Schatten­sei­ten dagegen sind in Sonnen­glut gemalt.

Albert Heim, Geologe
In der Nordwestbeleuchtung sah Albert Heim deshalb einen «Fehler der Vergangenheit», den es zu beheben gelte. Das Kartenbild solle den natürlichen Verhältnissen entsprechen: Als Produzentin der amtlichen Karten der Schweiz müsse die Eidgenössische Landestopografie (heute: swisstopo) zu einer Beleuchtung aus südlicher Richtung übergehen und «den grossen Schritt von der verirrten Konvention zur Natur» machen. Ganz allein war Heim mit dieser Forderung nicht – auch der Zürcher Ständerat Emil Klöti (1877–1963) wandte sich in den 1930er-Jahren mit engagierten Plädoyers für die Südbeleuchtung an die Landestopografie.
Glarus auf der Dufourkarte, beleuchtet aus Nordwesten.
Die Karte des Kantons Glarus von 1860, aus südlicher Richtung beleuchtet.
Vergleichsschieber links: Die Dufourkarte zeigte die Glarner Alpen von Nordwesten beleuchtet. Die Südhänge liegen im Schatten. Rechts: Die «Karte des Kantons Glarus» von 1860 beleuchtete die Glarner Alpen aus südlicher Richtung. swisstopo / swisstopo

Warum sind die meisten Karten aus Nordwes­ten beleuchtet?

Heute ist die Nordwestbeleuchtung von Karten eine Selbstverständlichkeit für das menschliche Auge. Die Einführung der Südbeleuchtung würde zu Fehlinterpretationen führen: Talböden würden für Bergkämme gehalten und Bergkämme als Talböden missverstanden. Doch diese Sehgewohnheit ist nicht naturgegeben, sondern erlernt. Warum entwickelte sich also die Nordwestbeleuchtung zur dominanten Norm in der Kartengestaltung? Zwei Erklärungsansätze, die in der Beleuchtungsdebatte Ende der 1920er-Jahre ins Feld geführt wurden, sollen hier wiedergegeben werden. Albert Heim selbst verwies auf die Arbeitsweise der Personen, die die Karten zeichneten und in Kupferplatten stachen: «Der mit der rechten Hand zeichnende Kartograph braucht das Licht von links oben vorne, damit nicht seine Zeichnerhand ihm seine Arbeit beschattet». Weil Zeichner und Kupferstecher ihre Blätter beziehungsweise Kupferplatten bei der Arbeit aber häufig hin- und her drehten, überzeugt diese Herleitung nur teilweise. Der Zürcher Kartografieprofessor Eduard Imhof (1895–1986) betonte in einer Reaktion auf Heims Streitschrift von 1929, dass die Beleuchtung von links daher rührte, dass in Europa von links nach rechts geschrieben wird und Menschen mehrheitlich rechtshändig zeichneten. Aus diesem Grund sei auch der Lichteinfall bereits in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Karten von links nach rechts gestaltet worden. Mit der Himmelsrichtung des realen Sonnenscheins hatte dies zunächst nichts zu tun: In Karten des Mittelalters und der frühen Neuzeit war oft der Osten links und der Süden oben, eine feste Norm gab es nicht. Erst, als sich die Nordung von Karten im 19. Jahrhundert als Standard durchsetzte, wurde die Beleuchtung von links oben auch zu einer Beleuchtung aus nordwestlicher Richtung.
Ausschnitt aus Aegidius Tschudis Schweizerkarte von 1560.
Nicht nur Schrift, sondern auch Licht von links nach rechts: Die Berge des Churer Rheintals und des Vorderrheintals liegen in der Schweizerkarte von Aegidius Tschudi (1560) links im Licht und rechts im Schatten. In dieser Karte ist der Osten links und der Süden oben zu finden. Wikimedia / Zentralbibliothek Zürich
Dem Streit um die Beleuchtungsrichtung lagen letztlich unterschiedliche Vorstellungen dessen, was eine Karte überhaupt ist, zugrunde. Für Albert Heim sollte eine topografische Karte die Verhältnisse in der Natur – und somit auch den Lichteinfall im Gelände – möglichst realitätsnah wiedergeben. Die Kartografen der Landestopografie sahen in ihren Karten hingegen ein Werkzeug, das eine möglichst unmissverständliche und intuitive Orientierung im Raum ermöglichen sollte. Für sie war das Licht in der Karte ein stilistisches Mittel, um Hebungen und Senkungen schneller begreifbar zu machen – mit realem Sonnenschein hatte es nichts zu tun. Trotz seiner Hartnäckigkeit biss Albert Heim in der Beleuchtungsfrage auf Granit – bis heute sind nicht nur Schweizer, sondern auch die meisten ausländischen Karten aus Nordwesten beleuchtet. Gegen Sehgewohnheiten, die sich über Jahrhunderte etabliert hatten, waren seine Argumente letztlich chancenlos. Kontinuität ist eine wichtige Währung in der Kartografie; ein Wechsel der bereits etablierten nordwestlichen Beleuchtungsrichtung hätte auch bereits vor knapp 100 Jahren zu viel Verwirrung gestiftet.

Raum und Zeit

Dieser Artikel wurde erstmals auf der Webseite «Raum und Zeit» des Bundesamtes für Landestopografie swisstopo veröffentlicht. Hier gibt es regelmässig spannende Kapitel der Kartengeschichte zu entdecken.

Weitere Beiträge