Automobil unterwegs auf einer Landstrasse, um 1913.
Am Automobil schieden sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Geister. Vor allem im Graubünden. Junge Automobilisten unterwegs auf einer Landstrasse, um 1913. Schweizerisches Nationalmuseum

Das Bündner Autoverbot

Im Kanton Graubünden bestand zwischen 1900 und 1925 ein Autoverbot. Es brauchte neun Volksabstimmungen, um dies zu ändern.

Dominik Landwehr

Dominik Landwehr

Dominik Landwehr ist Kultur- und Medienwissenschafter und lebt in Zürich.

Das erste Auto wurde in der Schweiz 1896 an der Landesausstellung in Genf gezeigt. Autofahren war in dieser Zeit ein Abenteuer: Die Wagen waren pannenanfällig und die Strassen schlecht, denn für die Kutschen brauchte es keine breiten, asphaltierten Strassen. Das erste Auto im Kanton besass der Bündner Grossrat Gaudenz Issler (1853-1942) aus Davos. Er kaufte es 1897 mit dem Vorbehalt, dass er es zurückgeben konnte, wenn er nicht damit zufrieden war. Er gab es bald wieder zurück mit der Begründung, dass die Davoser Landstrassen für das Auto nicht geeignet seien. Landarzt Rudolf Campell erinnerte sich 1968 im Buch Der Kampf ums Automobil in Graubünden, wie im Engadiner Bergdorf Celerina um die Jahrhundertwende ein Motorwagen auftauchte, der von zwei Bauernpferden gezogen wurde. Das Fahrzeug war unterwegs von Österreich nach Italien und wählte als schnellsten Weg das Engadin. Am Grenzort Martina beschied man ihm, dass Autos im ganzen Kanton verboten seien. Er musste seine Reise also buchstäblich mit Pferdekraft fortsetzen.
Eines der seltenen Fotos aus der Zeit des Autoverbots: In Scuol Tarasp wird 1909 ein Auto mit Pferdekraft durch das Dorf geschleppt.
Eines der seltenen Fotos aus der Zeit des Autoverbots: In Scuol Tarasp wird 1909 ein Auto mit Pferdekraft durch das Dorf geschleppt. Staatsarchiv Graubünden StAGR FN XII Nr. 11319a/A
Und er war bei weitem nicht der Einzige, das belegen auch Fotos aus jener Zeit. Tatsächlich hatte der Kleine Rat des Kantons Graubünden am 24. August 1900 ein Autoverbot auf sämtlichen Strassen des Kantons erlassen. Er hatte dies in eigener Kompetenz getan, nachdem es zu zahlreiche Klagen gegen die motorisierten «Ungetüme» gekommen war, deren «Tempo, Lärm und Gestank» eine Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer darstellten, wie man in der lokalen Presse lesen konnte. Das Verbot blieb nicht ohne Kritik und die Regierung musste da und dort Ausnahmebewilligungen erteilen. 1906 legte der Kleine Rat einen Gesetzesentwurf vor, der die Öffnung gewisser Abschnitte vorsah. Gegen das Gesetz wurde das Referendum ergriffen. Die Volksabstimmung vom 13. Oktober 1907 bestätigte das totales Verbot deutlich. So musste die Regierung weiterhin alle Ausnahmen selbst bewilligen.
Die Stimmung in der Bevölkerung war gegen das Automobil und das Thema verfolgte die Bündner Politik für lange 25 Jahre. Es gab in dieser Zeit nicht weniger als neun kantonale Abstimmungen zum Autoverbot und eine weitere eidgenössische Abstimmung den Verfassungsartikel zum Autoverkehr betreffend. Die Stimmung war aufgeheizt, die Fronten klar. Während die einen von einer «mittelalterlich erscheinenden Grenzsperrung» sprachen, wetterten die andere gegen das «Bündner Phlegma». Viele Touristenorte waren zunächst auch für ein Verbot: «Die Ruhesuchenden und Ruhebedürftigen aus Hamburg, Berlin oder London wollen kein Grossstadt-Treiben in der Sommerfrische, keine durchsausenden Automobilisten, keine jagenden Sportsleute, die den sesshaften Stammgast verdrängen, keine staubaufwirbelnden und übelriechenden Dinger», konnte man etwa lesen. Zu den Gästen, die sich Sorgen machten, gehörte auch Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923), der mit seiner Frau in den Jahren 1893 bis 1913 regelmässig nach Pontresina in die Ferien kam.
Porträt von Wilhelm Conrad Röntgen.
Wilhelm Conrad Röntgen zog die Kutsche dem Automobil vor. Wikimedia / Library of Congress
Dieser Wilhelm Conrad Röntgen fragte am 21. August 1905, «ob die Pferde noch vor Automobilen scheuen; der Verkehr mit Automobilen hat so stark zugenommen, dass es doch bedenklich wäre, mit nicht ganz sicheren Pferden zu reisen». Seine Gattin wiederholte die besorgte Frage am 8. Juli 1906: «Gerne hätte mein Mann von Ihnen gehört, wie sich Ihre Pferde jetzt gegen Automobile verhalten, ob man ohne Sorgen und Aufregung mit denselben fahren kann.» Die beiden hätten gut mit der 1903 eröffneten Albulabahn anreisen können, doch sie waren ausgesprochene Kutschenfans. In der Privatkutsche durch die Alpen zu reisen, war vor allem für Wilhelm Conrad Röntgen Landschaftsgenuss. Billig war der Spass nicht und einfache Leute mussten den Weg von Chur nach Bellinzona zu Fuss antreten.

Teure Strassen­pfle­ge

Auch wenn es im Ausland Stimmen gab, die sich über die konservativen Alpenbewohner lustig machten, – der deutsche Schriftsteller Otto Julius Bierbaum (1865-1910) berichtete etwa spöttisch über «kuhäugiges Erstaunen der schweizerischen Menschen», wenn sie ein Auto erblickten, – so gab es durchaus handfeste Gründe für den Widerstand der Bündner: Der Kanton Graubünden ist flächenmässig der grösste Kanton der Schweiz und hatte eine geringe Bevölkerungsdichte. Die Pflege des weitläufigen Strassennetzes war weitgehend Sache der Gemeinden. Strassen und Wege wurden vielfach kollektiv und unentgeltlich erstellt und gepflegt. Die ersten Automobilisten waren reiche Touristen aus dem Unterland oder aus dem Ausland. Das Auto fuhr auf Strassen, die nicht für Motorwagen, sondern für Pferdekutschen gemacht waren, sie bestanden aus gepresstem Schotter, Kies und Sand und waren nicht asphaltiert. Die schnellen Motorwagen wirbelten Staub und Dreck auf. Dazu kam, dass es gerade in der Frühzeit des Automobils unverhältnismässig viele tödliche Unfälle gab.
In den Anfangszeiten war das Autofahren eine gefährliche Sache. Bild eines Verkehrsunfalls, um 1920.
In den Anfangszeiten war das Autofahren eine gefährliche Sache. Bild eines Verkehrsunfalls, um 1920. Schweizerisches Nationalmuseum
Dass die Stimmung schliesslich doch noch zugunsten des Automobils kippte, hängt nicht zuletzt mit dem Ersten Weltkrieg zusammen. Als Pferde knapp wurde, mussten notgedrungen mehr Lastwagen genutzt werden. Auch das Aufkommen des Postautos spielte eine Rolle. Die erste Postautostrecke im Kanton Graubünden wurde 1919 eröffnet, sie reduzierte die Fahrzeit von Reichenau nach Flims von zwei Stunden und 50 Minuten. Schliesslich erkannten auch die Touristenorte, dass sie Gäste verlieren würden, wenn es weiterhin beim Verbot bleiben würde. Widerstand gab es übrigens nicht nur im Kanton Graubünden. Uri erliess beispielsweise 1901 ein Fahrverbot auf seinen Alpenstrassen. Der Gotthardpass wurde erst 1906 für einige Stunden pro Tag für Motorwagen geöffnet. Diese Limitierung fiel sogar erst 1917. Sonntagsfahrverbote bestanden auch in anderen Kantonen. Allerdings gab es gewichtige Unterschiede: In der Westschweiz, namentlich in Genf, war man dem Automobil gegenüber deutlich positiver eingestellt als in der deutschen Schweiz. Das hängt unter anderem mit der geografischen Nähe zu Frankreich zusammen, wo das Auto schon früh Fuss fassen konnte.
Ein Postauto auf der Fahrt nach Disentis, um 1924.
Die Vorzüge des Postautoverkehrs halfen die Widerstände im Graubünden abzubauen. e-pics
Am 21. Juni 1925 fiel das Autoverbot in Graubünden endgültig. Auf nationaler Ebene war der Föderalismus für den Autoverkehr ein Hemmschuh. Obwohl dem Bund die Kompetenz für die Automobilgesetzgebung bereits 1921 übertragen worden war, dauerte es bis 1932 bis daraus ein Bundesgesetz für Motorfahrzeuge und Fahrradverkehr entstand.

Weitere Beiträge