Der Mord an einer Zehnjährigen in Freiburg schockte die Schweiz 1878. Illustration von Marco Heer.
Der Mord an einer Zehnjährigen in Freiburg schockte die Schweiz 1878. Illustration von Marco Heer.

Tod eines Mädchens und das Konzept der Mutterliebe

Im Oktober 1878 ermordete eine Mutter in Freiburg ihre zehnjährige Tochter. Der Fall von Henriette Ruchat-Berger bewegte die ganze Schweiz.

Patrik Süess

Patrik Süess

Patrik Süess ist freischaffender Historiker.

Als ein Eisenbahnarbeiter am frühen Morgen des 17. Oktober 1878 den Lagerschuppen gleich neben dem Bahnhof Freiburg betrat, machte er eine schreckliche Entdeckung: An einem der niederen Querbalken hing, ein dünnes Seil um den Hals geschlungen, ein etwa zehnjähriges Mädchen. Auf dem Boden unweit der Leiche lag ein Zettel mit den Worten: «Meine guten Leute. Ich habe meine Mutter bestohlen und wollte zu meiner Grossmutter flüchten. Ich habe den Weg nicht gefunden. (…) Ich hatte grossen Hunger und Durst und wusste nicht, was ich tun und wohin ich gehen sollte. Ich habe keinen Cent mehr und bleibe dein unglückliches Kind. Gertrud».

Die Polizei erkannte bald, dass der Abschiedsbrief eine Fälschung war, offenbar um ein Verbrechen zu vertuschen. Nicht nur hatte das Mädchen kurz vor seinem Tod noch Kartoffeln und Käse gegessen und Wein getrunken, die Leiche wies ausserdem Spuren von Druck auf den Mund auf. Sogleich wurden Fotografien des Mädchens erstellt und zur Einsicht in den Polizeistationen ausgelegt. Die Beschreibung der Kleidung, die in den Zeitungen veröffentlicht wurde, liess auf solide Lebensumstände des Kindes schliessen: «Brauner Strohhut mit braunem Band, weisses seidenes Halsband, Paletot von schwarzem Cachemir mit violettem, gestreiftem Seidenfutter, grauer braungestreifter Rock, baumwollenes Hemd mit Spitzen, weisse baumwollene Strümpfe.»
Luftaufnahme der Stadt Freiburg von Walter Mittelholzer, 1919.
Beim Bahnhof von Freiburg, hier gut in der Mitte des Bildes zu erkennen, wurde 1878 ein grausiger Fund gemacht. Luftaufnahme der Stadt von Walter Mittelholzer, 1919. e-pics
Je länger die Identität des Mädchens und die Umstände ihres Todes im Dunkeln blieben, desto mehr schossen die Vermutungen um den geheimnisvollen Fall ins Kraut: War das Mädchen Zeugin eines Verbrechens geworden und musste deshalb aus dem Weg geräumt werden? Stand sie einer Erbschaft im Wege? Oder hatte hier einfach jemand, wie die Zürcherische Freitagszeitung sicher zu wissen glaubte, seine «bestialischen Gelüste» ausgelebt? Der Verdacht, der sich gegen eine Gruppe wandernder Musiker aus Italien gerichtet hatte, erwies sich als falsche Spur.

Einige Wochen später besuchte Marguerite Berger ihre Schwester Henriette in Corcelles-près-Payerne (VD). Letztere hatte kürzlich geheiratet. Dies war jedoch nicht der einzige Grund für den Besuch. Marguerite machte sich Sorgen um ihre Nichte Selina. Diese war verschwunden. Laut der Mutter wohnte sie nun bei der Familie Schäffer in Leipzig. Dort hatte Henriette neun Jahre als Hausangestellte gearbeitet. Doch die Schäffers wussten von nichts und Marguerite befürchtete, ihre Schwester habe die Tochter an einen möglichst billigen Ort «verkostgeldet». Auf Selina angesprochen, brachte Henriette neue unglaubwürdige Ausflüchte vor. Darauf holte sich Marguerite Rat bei ihrer Tante, die ebenfalls in Corcelles wohnte. Von ihr erfuhr sie von dem in Freiburg aufgefundenen Mädchen. Als sich Marguerite anschliessend das Polizeifoto ansah, bewahrheiteten sich ihre schlimmsten Befürchtungen: Das tote Mädchen war Selina.
Das Bild, mit dem die Polizei Selina zu identifizieren versuchte, war ein koloriertes Foto.
Das Bild, mit dem die Polizei Selina zu identifizieren versuchte, war ein koloriertes Foto. Staatsarchiv Freiburg, AEF Photos PJ 128-003

Von der Mutter umgebracht

Henriette Berger, seit dem 1. November verheiratete Ruchat, wurde am 15. November verhaftet. Nach einigem Zögern gestand sie die Tat. Sie sei am Abend des 16. Oktober mit ihrer Tochter von Bern nach Freiburg gefahren, wo sie im Dunkeln ankamen. Im Lagerschuppen habe sie Selina mit einem mitgebrachten Seil erwürgt. Den Abschiedsbrief habe sie auf der Fahrt im Zug geschrieben. Als Grund für die Tat gab Henriette an, dass sie in der Angst gelebt habe, nach ihrer Hochzeit finanziell nicht mehr für ihre Tochter aufkommen zu können. Dass Selina sich selbst den Strick um den Hals gelegt und eingewilligt hatte zu sterben, nachdem ihre Mutter ihr ihre Zwangslage geschildert hatte, nahm die Polizei der Verhafteten nicht ab. Henriette räumte denn auch ein, dass Selina, trotz der Flasche Rotwein, die sie ihr eingeflösst hatte, «dreimal laut geschrien» hatte, weshalb sie ihr den Mund zuhielt.
Illustration des Mordes des französischen Illustrators J. Grelier, erschienen im Journal pour Tous à Paris.
Illustration des Mordes des französischen Illustrators J. Grelier, erschienen im Journal pour Tous à Paris. Musée d’art et d’histoire Fribourg / Primula Bosshard
Wer war Henriette Ruchat-Berger? Schon als Kind bei einer Tante in Avenches (VD) als Arbeitskraft verdingt, war Henriette seit ihrem 17. Lebensjahr in Leipzig als Dienstmädchen tätig, am längsten bei der Familie Schäffer. Mit 26 bekam sie nach einer Affäre mit einem verheirateten Mann ein Kind: Selina. Der Kindsvater, ein Kaminkehrer namens Brinkmann, bot an, Selina zu sich und seiner Frau zu nehmen. Das lehnte Henriette ab. Da sie als Hausangestellte ihr Kind aber nicht bei sich wohnen lassen konnte, gab die Schweizerin ihre Tochter in ein Heim zur Pflege. Henriette besuchte Selina regelmässig, hatte aber zu Getrud Schäffer, die sie als Kindermädchen betreute, eine engere Beziehung.

Nach dem frühen Tod Gertruds, die in ihren Armen starb, und dem darauffolgenden Suizid durch Erhängen von Mutter Schäffer, kehrte Henriette im Herbst 1876 mit Selina in die Schweiz zurück. Dort lebte sie bei ihrem Bruder Leonard und dessen Frau Anna in Bern. «Zur Erinnerung» an das verstorbene Kind begann Henriette ihre Tochter Selina Gertrud zu nennen. Das ist auch der Name, mit dem sie den gefälschten Abschiedsbrief unterschrieben hatte.
Das Dienstbotenbuch von Henriette Berger. Dieses von den Behörden ausgestellte Dokument war für Hausangestellte obligatorisch.
Das Dienstbotenbuch von Henriette Berger. Dieses von den Behörden ausgestellte Dokument war für Hausangestellte obligatorisch. Staatsarchiv Freiburg, AEF, Td SA-dp 1878,1
Der Prozess gegen Henriette Ruchat-Berger fand am 23. Dezember 1878 unter regem Zuschauerinteresse in Freiburg statt. «Es sind viele Leute gekommen, um eine schlechte Mutter zu sehen», kommentierte Henriette. Zeugen beschrieben die Angeklagte als freundlich und arbeitsam, aber auch als grüblerisch. Herr Schäffer, extra aus Leipzig angereist, berichtete, dass Henriette ein nervöser Charakter war, oft von Selbstmord sprach, «und man befürchtete, dass sie verrückt werden könnte.» Die Zeugen waren sich einig, dass Henriette ihre Tochter immer hart behandelt hatte. Sie habe sie geschlagen und ihr als Strafmassnahme das Essen entzogen. Und einmal hatte die Mutter das Gesicht ihrer Tochter so lange auf die Matratze ihres Bettes gedrückt, bis sie blau angelaufen sei. Damit wollte sie Selina am Weinen hindern. Das Kind habe seine Mutter gefürchtet und sei mehrfach vor ihr geflohen.

Die Angeklagte wiederum stellte ihre Handlungen als Erziehungsmassnahmen dar, die nötig gewesen seien, da Selina sich immer wieder «lügenhaft» verhalten und einmal sogar gestohlen habe. «Ich habe alles für meine Tochter getan, für sie gelebt und für sie gearbeitet», betonte sie. Dennoch sei sie von ihr «gehasst» worden, besonders seit ihrem Umzug nach Bern. Immer habe Selina das Zimmer verlassen, wenn sie hereingekommen sei. Überhaupt habe Selina Tante Marguerite mehr geliebt. Als ihr Bruder Leonard ihr schliesslich vorwarf, sie habe ihr Kind nie geliebt, entgegnete Henriette aufgebracht: «Ich war eine elende Mutter, da ich sie getötet habe. Aber sagt nicht, dass ich mein Kind nicht geliebt habe!»

Die Mutter-Kind-Beziehung

Wenige Dinge wirken auf die Öffentlichkeit verstörender als Mütter, die ihre eigenen Kinder töten – dies nicht zuletzt deshalb, weil solche Taten die Bilder zu beschädigen drohen, die auf die Figur der Mutter projiziert werden. Diese Bilder wiederum haben ihre Geschichte: Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt die Mutter-Kind-Beziehung eine neue normative Qualität. Die bürgerliche Gesellschaft der Aufklärung etablierte hier (zumindest ideell) eine nach Geschlechtern getrennte Arbeitsteilung, was die alte familiale Hausgemeinschaft langsam auflöste. Während sich die Arbeit des Vaters ausserhalb des Hauses abspielte und sich durch methodisch-rationales Handeln auszeichnen sollte, bestand die Aufgabe der Mutter nunmehr darin, die Härten der Modernisierung für die Familie durch Emotion aufzufangen.

Aus diesen sozialen Positionen wurden schnell postulierte Charaktereigenschaften. War zuvor noch von «Elternliebe» die Rede gewesen, entstand nach 1760 die Lehre von der exklusiven Mutterliebe, von der spontanen Liebe einer jeden Mutter zu ihrem Kind, ja von einem «Mutterinstinkt». Pestalozzi meinte: «Die Mutter ist befähigt, und zwar von ihrem Schöpfer selbst befähigt, die wichtigste Triebkraft in der Entwicklung des Kindes zu werden. Der glühendste Wunsch für sein Wohlergehen ist schon in ihr Herz eingepflanzt». Die mütterliche Liebe sei «die unerschrockenste Kraft der ganzen Naturordnung.»
Porträt von Heinrich Pestalozzi.
Heinrich Pestalozzi gehörte zu den «Initiatoren» der Mutterliebe. Schweizerisches Nationalmuseum
Mutterliebe verlangte Hingabe – und wenn nötig auch Selbstaufopferung der Mutter für ihr Kind. So argumentierte der Vertreter der Anklage gegen Henriette Ruchat-Berger: «Wenn es nicht genug für zwei gab, welches der beiden Leben musste dann geopfert werden? Keine edle Seele hätte gezögert: Es war nicht das Leben der Tochter, sondern das der Mutter, die durch die Geburt ihres Kindes die Pflicht übernommen hatte, es zu unterstützen.» Von der absoluten Verantwortung der Mutter für die Entwicklung und das Wohlergehen ihres Kindes zur absoluten Schuld bei etwaigem mütterlichem Versagen war es nur ein kleiner Schritt, oder wie der deutsche Theologe Friedrich von Ammon 1827 warnte: «Wehe dem Mutterherzen, welchem die Vollziehung dieser Pflicht nicht süss, nicht leicht wird…»

Hier tat sich ein Paradox auf: Mutterliebe war ein Instinkt – allerdings einer, der immer und immer wieder angemahnt werden musste. Obwohl die freudige Erfüllung der Mutterpflichten doch eigentlich in der Natur der Frauen verankert sein sollte, gab es immer wieder etliche, die diese Ansprüche nicht erfüllten. Die Lösung dieses Dilemmas lautete: Eine solche Mutter, der es an Liebe zu ihrem Kind mangelte, «steht ausserhalb der Menschheit, da sie das, was sie als Frau auszeichnen sollte, verloren hat. Halb Ungeheuer, halb Verbrecherin, ist eine solche Frau das, was man als einen ‹Irrtum der Natur› bezeichnen könnte.»

Indem der Staatsanwalt «Hass» auf die Tochter als Mordmotiv unterstellte, erklärte er Henriette Ruchat-Berger zugleich zur «denaturierten Frau». Bei einer solchen Mutter müsse die Gesellschaft eine «schreckliche Strafe» fordern, meinte er, und zwar zwecks «Wiederherstellung der Ordnung der Natur.» Nicht überraschend also protestierte Henriette so vehement gegen die Behauptung ihres Bruders: Sie nahm ganz richtig an, dass für einen Mord aus Verzweiflung ein gewisses Mass an Verständnis möglich sein könnte – für mangelnde Mutterliebe jedoch niemals.
Während der Aufklärung entstand die sogenannte «Mutterliebe», die manche danach sogar als «Mutterinstinkt» zu bezeichnen begannen. Illustration von 1865.
Während der Aufklärung entstand die sogenannte «Mutterliebe», die manche danach sogar als «Mutterinstinkt» zu bezeichnen begannen. Illustration von 1865. Wikimedia
Genau diesen Vorwurf suchte Henriettes Verteidiger denn auch hauptsächlich zu entkräften: Die Angeklagte habe ihre Tochter nicht gehasst, sie habe vielmehr zehn Jahre lang für sie gesorgt, obschon sie sie in Leipzig leicht hätte im Stich lassen können. Da es somit kein wirklich überzeugendes Motiv für den Mord gäbe, sei man gezwungen, auf einen «fremden Einfluss» zu schliessen, auf eine «zerebrale Störung» nämlich, und zwar in Form «der von Experten (bei Henriette) festgestellten Hysterie.» Überhaupt sei die Tat nur durch diese Krankheit erklärbar, denn ein solches Verbrechen «gegen die Natur» habe gar nicht bei klarem Verstand ausgeübt werden können. Gemäss der Ansicht damaliger Spezialisten in Medizin und Psychiatrie machte die Hysterie, diese meist Frauen zugeschriebene «geheimnisvollste aller Nervenkrankheiten», labil und beeinflussbar, ja sie führte überhaupt zum Ausfall der rationalen Selbststeuerung. Gerade bei «weichen, tief empfundenen Gemütern» könnten solche hysterischen Anfälle allein durch Vorstellungen und Phantasiebilder hervorgerufen werden – und just dies sei bei Henriette Ruchat-Berger der Fall gewesen. Sie habe sich, so der Verteidiger, in die Angst vor der Armut hineingesteigert, was zu einer «nervlichen Überreizung» und schliesslich zur Tat geführt habe. Als Henriette dann klar wurde, was sie getan hatte, habe auch die Mutterliebe wieder eingesetzt, wodurch Henriette dann «zur unglücklichsten aller Mütter» geworden sei.
Diese Frau soll beim Gähnen Symptome von Hysterie zeigen. Bilder aus der Pariser Klinik Salpêtriere, eine der bekanntesten psychiatrischen Kliniken im 19. Jahrhundert.
Diese Frau soll beim Gähnen Symptome von Hysterie zeigen. Bilder aus der Pariser Klinik Salpêtriere, eine der bekanntesten psychiatrischen Kliniken im 19. Jahrhundert. Wikimedia / Wellcome collection
Die Hysterie-Diagnose konnte in Gerichtsverfahren zuweilen zu milderen Urteilen führen. Im Fall Ruchat-Berger stimmten immerhin drei von zwölf Geschworenen für mildernde Umstände wegen angeblich durch Hysterie herabgesetzter Zurechnungsfähigkeit während der Tat.

Henriette Ruchat-Berger wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Es wurde nie ganz klar, was sie zum Mord an ihrer Tochter getrieben hatte. Ihr frischangetrauter Ehemann Jules Ruchat, der während der ganzen Einvernahme im Prozess weinte, versicherte, dass er Henriettes Tochter gerne bei sich aufgenommen hätte – allerdings habe Henriette ihm gesagt, Selina sei ihre Nichte. Auch hatten die beiden offenbar selbst vor, eine Familie zu gründen: Henriette wurde im August 1879 im Gefängnis Mutter von Jules Ruchats Kind, Jules junior.

Der Murtenbieter hatte während des Prozesses über Henriette geschrieben: «Sie war schwach, gelb und konnte fast nicht vorwärts. Sie scheint sehr angegriffen und wir zweifeln, dass sie ihr Verbrechen lang überlebt.» Die Zeitung sollte Recht behalten: Nur etwas mehr als zwei Jahre später, im Februar 1881, starb Henriette Ruchat-Berger 38-jährig an einer «maladie de poitrine» im Zuchthaus von Freiburg.

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