Mehranbau im Berner Wylerfeld, April 1943.
Mehranbau im Berner Wylerfeld, April 1943. SBB Historic

Die Bahn baut an

Um Lebensmittelknappheit und Importschwierigkeiten entgegenzuwirken, wurde in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg eine massive Ausdehnung der Ackerbaufläche angestrebt. Wo einst Bahngleise geplant waren, wurden in den Kriegsjahren Kartoffeln angebaut.

Marc Ribeli

Marc Ribeli

Marc Ribeli ist Historiker und betreut bei SBB Historic die Bereiche Foto-, Film- und Videoarchiv.

Bei flüchtiger Betrachtung würde man obige Szene einem der zahlreichen Bau- oder Instandhaltungsprojekte an der Bahninfrastruktur zuordnen. Bei genauer Betrachtung zeigt sich auf der 1943 entstandenen Aufnahme, dass der Bauplatz vom Gleisbereich abgetrennt ist und die Erdfläche die Kontur von Gemüsebeeten annimmt. Hier werden keine neuen Gleise verlegt, hier wird Landwirtschaft betrieben. Die Fotografie ist ein Bildbeleg für die Auswirkungen der «Anbauschlacht» bei den Bundesbahnen. Die Anbauschlacht, auch Anbauwerk genannt, wurde im November 1940 durch den sogenannten «Plan Wahlen» lanciert. Der nach dem Agrarexperten und späteren Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen bezeichnete Plan strebte während des Zweiten Weltkriegs die Selbstversorgung der Schweiz mit Lebensmitteln an, was durch eine massive Ausdehnung der Ackeranbaufläche erreicht werden sollte. Neues Ackerland sollte etwa durch die Umwandlung von Wiesen zu Äckern, Rodungen oder Meliorationen gewonnen werden.
Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen, um 1965.
Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen, um 1965. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
In die Selbstversorgungs-Pflicht genommen wurde neben der breiten Bevölkerung auch die Industrie, die für ihre Mitarbeitenden Pflanzwerke anlegen sollte. Auch die SBB als wirtschaftliche Unternehmung mit mehr als 100 Mitarbeitenden hätte eigentlich beim Anbauwerk mitmachen müssen. Aufgrund von ausserordentlichen Belastungen des Unternehmens durch stark erhöhten Verkehr sowie durch verstärkte Inanspruchnahme des Personals wurde sie von dieser Verpflichtung aber befreit. Der Bund drückte jedoch die Erwartung aus, dass sich Personal und Verwaltung auf freiwilliger Basis nach Kräften am Mehranbau beteiligen sollten und auch die SBB-Generaldirektion munterte das Bahnpersonal in Anbetracht der zunehmenden Ernährungsschwierigkeiten zur aktiven Teilnahme auf.
Anbau des Bahnpersonals bei Freienbach im Kanton Schwyz, Mai 1942.
Anbau des Bahnpersonals bei Freienbach im Kanton Schwyz, Mai 1942. SBB Historic
Damit setzte eine rege Nachfrage nach Pflanzland ein. Bahningenieure und Bahnmeister erhielten den Auftrag, in ihren Bezirken potenzielle Ackerflächen zu identifizieren. Das unmittelbar an Bahnlinien angrenzende Land war zu einem Grossteil aber bereits an Landwirtschaftsbetriebe oder das Bahnpersonal selbst verpachtet. So pflanzte das Bahnpersonal in seinen Gärten oft für den Eigenbedarf. Noch ungenutzt waren etwa Gräben längs der Bahnlinien, die nun zugeschüttet und in schmale Streifen neuen Kulturlands umgewandelt wurden. Allerdings handelte es sich bei diesen Böden fast durchwegs um schlechtes Anbauland, das in den meisten Fällen Humus und Dünger für die Nutzbarmachung benötigte. Im städtischen Gebiet, wo die Nachfrage nach Nutzland besonders gross war, konnten frühere Lagerplätze von Schienen und Schwellen in Kulturland umgewandelt und so für den Anbau verwendet werden. Die Einfuhrschwierigkeiten während der Kriegsjahre trugen dazu bei, dass weniger Fläche für die Materiallagerung benötigt wurde.
Lagerplatz für Schienen bei Winterthur.
Lagerplatz für Schienen bei Winterthur... SBB Historic
Ehemaliges Schienenlager bei Winterthur, nun für den Mehranbau genutzt, um 1943.
... wurde in den 1940er-Jahren zum Anbaufeld. SBB Historic
Ein Sonderfall stellte der landwirtschaftliche Anbau auf Bahnstrecken dar: einige Bahnlinien aus der Zeit der Privatbahnen waren in der Breite für einen zweispurigen Verkehr angelegt, jedoch nur einspurig realisiert worden. Die sogenannte Blindspur bildete einen Streifen von circa drei Metern Breite. Nach einigen Herstellungsarbeiten war dieses Land zwar nicht hervorragendes, aber meistens doch anbaufähiges Land. Auf den neu geschaffenen Ackerflächen wurden grösstenteils Kartoffeln und Gemüse angebaut, je nach klimatischen Verhältnissen auch Mais oder Getreide. Für die Industrie wurden auch Korbweiden angepflanzt. Probleme verursachte hingegen der Anbau von Haselnussstauden: diese wurden offenbar wiederholt von Dieben geplündert, so dass diese Bestrebung eingestellt wurde.
Für den Getreideanbau verwendetes Blindgleis, um 1943.
Für den Getreideanbau verwendetes Blindgleis, um 1943. SBB Historic
Die durch die Verwaltung geförderten Flächen wurden vom Personal bearbeitet. Viele widmeten ihre Freizeit dem Anbauwerk, wofür sie unter anderem Reisevergünstigungen oder Erleichterungen beim abschnittweisen Bezug von Ferien oder beim Abtausch von Diensttouren erhielten. Bei der Bestellung grosser Flächen wurden ein bis zwei zusätzliche Ferientage gewährt. Für besondere Leistungen, wie etwa der Anpflanzung abgelegener Landabschnitte, wurden kleine Prämien ausgesprochen oder Anerkennungsschreiben verschickt. Auch Lernende mussten einen obligatorischen Arbeitseinsatz für das Anbauwerk leisten. Sehr aktiv beteiligten sich die Eisenbahnersportvereine, so bestellte der Sportverein der Eisenbahner Bern im Jahre 1943 eine Fläche von 20 Aren.
Wärterhaus im freiburgischen Schmitten im Zeichen des Mehranbaus, August 1942.
Wärterhaus im freiburgischen Schmitten im Zeichen des Mehranbaus, August 1942. SBB Historic
Grabenzuschüttung und Humusierung neben dem Gleis, April 1945.
Grabenzuschüttung und Humusierung neben dem Gleis, April 1945. SBB Historic
Durch diese Anstrengungen wurden Teile des Bundesbahnbodens sukzessive in die Anbauschlacht einbezogen. Personal und Verwaltung der SBB leisteten damit einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgungslage. Die im Plan Wahlen angestrebten Ziele wurden zwar verfehlt, wichtig war jedoch die symbolische Bedeutung für den nationalen Zusammenhalt. Das Bahnpersonal konnte sich als eine von vielen Bevölkerungsgruppen beim Anbauwerk einbringen und dadurch Widerstandswille und Selbstbehauptung der Schweiz während der Kriegsjahre ausdrücken. Die Verwaltung der SBB wiederum nahm die Pflanztätigkeiten des eigenen Personals gerne in die eigene Berichterstattung auf und stimmte so in die gut organisierte nationale Propaganda ein.

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