Geschichte in Geschichten – Möglichkeiten und Grenzen
Das «Geflüchteten-ABC» im Haus der Geschichte Baden Württemberg in Stuttgart versucht, mit Objekten die Geschichten von kürzlich geflüchteten Menschen zu erzählen.
«Wir schaffen das»: Als 2015 plötzlich Hunderttausende Migranten nach Europa kamen und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Satz 2015 formulierte, war ihr zweifellos nicht bewusst, welche Diskussionen und politischen Folgen er auslösen würde.
Dabei war und ist die mediale Darstellung der Migranten zentral. Zunächst erschienen sie als «Strom» oder «Welle», als anonyme Masse – ob in Bildern oder Berichten. Populisten bewirtschaften diese Bilder seither weiter. Zu tragischen Individuen mit einer Geschichte wurden die Geflüchteten vorzugweise, wenn sie schon tot waren. Das Foto eines ertrunkenen Flüchtlingskindes ging um die Welt.
Inzwischen gibt es differenziertere Blickweisen. So ist im Rahmen der aktuellen Ausstellung «Europa und das Meer» im Deutschen Historischen Museum in Berlin ein Abschnitt Flüchtlingen gewidmet, die die Bootsfahrt übers Mittelmeer überlebt haben und denen es gelungen ist, in der neuen Umgebung Fuss zu fassen.
Auch das 2002 gegründete «Haus der Geschichte Baden-Württemberg» in Stuttgart, das zuletzt mit der Ausstellung «RAF – Terror im Südwesten» für viel Aufmerksamkeit sorgte, setzt nun auf solche «Überlebensgeschichten».
Auf der Museumsesplanade sind Plexiboxen verteilt. Rasch wird klar, dass sie Teil der als «Ausstellungsintervention» bezeichneten Präsentation sind. In der ersten steht eine Glasdose mit einem kleieartigen Gemisch. «Geruch der Heimat», 2016, Ahmad Choueib, ist der zugehörige Text betitelt. Das Gemisch ist das Gewürz Zatar. Beim Palästinenser Choueib, der in Aleppo Hotelkoch war und jetzt im Willkommenscafé von Obertürkheim arabische Gerichte kocht, löst es Heimatgefühle aus. Wenn er seine Familie nach Deutschland holen kann, will er sie mit Zatar-Fladenbrot begrüssen.
Schade, dass wir an der Dose nicht schnuppern dürfen. Auch ein Bild von Ahmad Choueib vermissen wir. Anders als in der Berliner Ausstellung erfahren wir zudem nichts Genaueres über seine Flucht und ihre Hintergründe. Merkwürdig auch, warum diese Vitrine leicht vernebelt wirkt. Der Grund dafür ist das Vitrinendesign mit einem aus einer milchigen Folie ausgeschnittenen Buchstaben: G wie Geruch der Heimat. Später lesen wir, dass das ein ABC von Fluchtgeschichten ist. Es ersetzt das zuvor in diesen Vitrinen untergebrachte Baden-Württemberg-ABC.
Das merkwürdig unzweckmässige Ausstellungsdesign hält uns nicht davon ab, die weiteren Vitrinen zu studieren. Wohl aber die Teenager aus einer Schulklasse, die vor dem Museum lieber gelangweilt auf ihre landeskundliche Führung warten, als mal in eine der Vitrinen zu schauen. Zur Ehrenrettung der Klasse (und des Museums) sei gesagt, dass sie später aufmerksam einer sehr engagierten Führung folgt.
Dabei enthalten die Vitrinen etliche Gegenstände, die auch zum Alltag hiesiger Teenager gehören: Smartphone, Schulzeugnis, Stoffturnschuhe, die auf der Flucht getragen wurden. Andere enthalten den ersten Fussballpokal des Sohnes, ein Kleidungsstück aus der Heimat, Kinderzeichnungen mit Kriegsszenen, eine Gebetskette.
Neben einer Imkerausrüstung samt dem Honig, den ein Geflüchteter in Deutschland zusammen mit seinem Deutschlehrer produzieren lernte, fällt vor allem ein klobiges Küchenbrett auf. In grossen Blockbuchstaben ist der Name OUSMAN-BALLACK eingefräst. «Ousmans Schneidebrett» gehört einem Gambier, der schon vor seiner Flucht Fan von Deutschland, Michael Ballack und dem FC Bayern München war. Er hat es im Werkunterricht hergestellt, während er als Beikoch in einem Restaurant am Bodensee arbeitete.
Die Texttafel enthält den wichtigsten Satz aller Vitrinen: «Das deutsche Lieblingsessen von Ousman sind vom Brett geschabte Spätzle». Er flüstert den Besucher das Gegenteil von Merkels Spruch zu: Nicht wir, sondern «sie schaffen das». Migranten, die Spätzle lieben und sogar selber schaben, haben den unausgesprochenen, aber wichtigsten Teil jedes Einbürgerungtests bestanden: die Einbürgerung in die Herzen.
Die Vitrinen verteilen sich bis ins Foyer des Museums. Sie sind nur als Hors d’oeuvre gemeint. Offen gestanden, uns lassen sie hungrig. Auch die eher für Lehrer gemachte Begleitpublikation, die unter anderem Anregungen für den pädagogisch optimalen Einsatz der Vitrinen enthält, ändert daran nicht viel.
Etwas frustriert wenden wir uns der weitaus ergiebigeren Hauptausstellung zu, die «Landesgeschichten» des heute florierenden Bundeslandes seit 1790 detailliert nachzeichnet. Und lernen dabei: Wirtschaftlicher Erfolg hat viel mit Zuwanderung zu tun. Seit 1945 kamen über zwei Millionen Menschen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hingegen sah es umgekehrt aus: Die Armut zwang viele zur Emigration, vor allem nach Amerika. Hinzu kam die Flucht vor politischer Verfolgung, die in der Nazizeit gipfelte.
Hier werden die Migrantenschicksale wesentlich plastischer dargestellt. Gut sichtbar wird dabei auch, wie rasch jede und jeder plötzlich auf der Verliererseite der Geschichte stehen kann – und dass andererseits die Migration neben Gefahren oft neue Chancen birgt.
Dennoch stellt sich angesichts all der Geschichten die grundsätzlichere Frage, was dieses Herunterbrechen von Geschichte auf Einzelschicksale bringen soll, ausser dass Museumspädagogen sie schätzen, weil es populär ist. Das wird uns blitzartig klar, als wir auf dem Rückweg an einer grossen Buchhandlung vorbeikommen. Neben den Geschichtsbüchern gibt es Regalwände voller Erfahrungsberichten mit Titeln wie: «Ins Herz gebrannt – Wie ich die Schrecken des Krieges hinter mir liess und Frieden, Vergebung und Hoffnung fand», «Butterfly – Das Mädchen, das ein Flüchtlingsboot rettet und Olympia-Schwimmerin wurde», «Meine Seele kriegt ihr nie – Als Geisel verschleppt, gefoltert und zum Islam gezwungen».
Es greift zu kurz, das nur als «Betroffenheitskitsch» anzuprangern. Denn es ist auch eine Spätfolge jener Strömung in der Geschichtswissenschaft, die gegen die lange dominierende Geschichtsschreibung aus der Herrschaftsperspektive mit Geschichten einfacher Leute aufwartete. Dahinter verbarg sich ein durchaus kritischer Anspruch. Nur ist inzwischen die Zerkleinerung der Geschichte in Appetithäppchen und Mikroprobleme recht weit fortgeschritten. Damit treten auch die Schwachstellen dieser Methode deutlicher hervor: Sie verschleiert, wie das Flucht-ABC in den milchigen Vitrinen, den Blick auf größere Zusammenhänge, Hintergründe und Strukturen. Und damit lässt sie die Betrachter oder Leserinnen auch eher hilflos zurück. Es sei denn, sie stellen dann weitere Fragen.