Unus, der Einzigartige
Es gab eine Zeit vor dem Handy, eine Zeit, in der Pressefotografen die Augen einer ganzen Nation waren. Viele ihrer Bilder sind heute in Vergessenheit geraten. Zum Beispiel diejenigen von Unus, dem Artisten, bei seinem waghalsigen Balanceakt hoch über den Dächern Lausannes.
In ihren Ursprüngen war die Pressefotografie ein Unterhaltungsmedium. Im Gleichschritt mit dem frühen Kino interessierte sie sich für die Welt der Attraktionen und Sensationen. Und auch wenn die Nachrichtenfotografie nach und nach an Wichtigkeit gewann, so blieb der Boulevard doch immer Thema. Davon zeugen die historischen Pressebildarchive des Schweizerischen Nationalmuseums. Unzählige Fotografien überliefern die Unterhaltungsindustrie des 20. Jahrhunderts – von der hohen Bühne bis zum Spektakel auf der Strasse.
Kündigte sich ein Auftritt als besonders verwegen an, waren Bilder fast garantiert. Und was klang spannender als ein europaweit bekannter Artist, der auf dem ersten Hochhaus der Schweiz noch einige Höhenmeter aufstapelte, um die Balance herauszufordern? Die 68 Meter des Bel-Air-Turms in Lausanne genügten für einen, der als die «grösste Sensation der Welt» annonciert wurde, selbstverständlich nicht. Auf den Turm musste ein Podium, darauf eine mehrere Meter lange Stange, darauf eine kugelrunde, leuchtende Lampe, darauf ein Eisenring und voilà: nun war es für Unus, den Einzigartigen, endlich schwierig genug, um sich in den einarmigen Handstand zu schwingen.
Unus – das ist der Künstlername des Wieners Franz Furtner, eines Zimmermannes, der entdeckte, dass mit Handstand-Variationen gutes Geld zu machen war. Auf dem Bild hebt er sich dunkel gekleidet in aller Schärfe vom Herbstnebel ab, der Lausannes Zentrum in ein diffuses Licht taucht. Mit dem zur Balance dienenden Stuhl in seiner Linken deutet er der Kathedrale Notre-Dame einen Rahmen an. Sie dominiert die Altstadt und ist mittelalterlicher Gegenpart zum modernen Hochhaus, von dem wir zu ihr hinüberblicken. Als sie gebaut wurde, bezeichnete man Artisten wie Unus noch als Gaukler. Viele Jahrhunderte später unterhalten Akrobaten noch immer, und noch immer kommen sie dabei als Berufsleute um die Welt.
Unus startete seine Karriere in den 1930er-Jahren in den Varietés und Nachtclubs von Österreich und Deutschland. Besondere Bekanntheit erlangte er durch den «Einfingerstand» – einen charmant und elegant getricksten Stand auf nur seinem rechten Zeigefinger. Während der Zeit des Nationalsozialismus hatte er die zweifelhafte Ehre, Adolf Hitler zu begeistern. Nach dem Krieg folgte ein Engagement beim Schweizer National-Circus Knie, der in diesen Oktobertagen 1947 in Lausanne gastierte und sich nicht zuletzt dank Unus ausverkaufter Ränge erfreute. Danach liess sich der Artist vom US-amerikanischen Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus für dessen «Greatest Show On Earth» anwerben. Im Schaugeschäft der Superlative auf der anderen Seite des Atlantiks begeisterte er bis in die 1960er-Jahre – hier wurde er endgültig zum gefeierten Star.
Die Pressebildagentur ASL
Actualités Suisses Lausanne (ASL) wurde 1954 von Roland Schlaefli gegründet und galt bis zur Schliessung 1999 als wichtigste Westschweizer Pressebildagentur. 1973 übernahm Schlaefli zudem das Archiv der 1937 gegründeten Agentur Presse Diffusion Lausanne (PDL). Die Bestände der beiden Agenturen umfassen ungefähr sechs Millionen Bilder (Negative, Abzüge, Diapositive). Im breiten Themenspektrum lassen sich die Schwerpunkte Bundespolitik, Sport und Westschweiz ausmachen. Den Schritt ins digitale Zeitalter machte die Agentur nicht mehr mit. Seit 2007 befinden sich die Archive von ASL und PDL im Besitz des Schweizerischen Nationalmuseums. Der Blog präsentiert in einer losen Abfolge Bilder und Bildserien, die bei der Aufarbeitung der Bestände besonders aufgefallen sind.
Unten links auf dem Bild sind zwei Personen zu sehen, wobei die Dame rechts seine Frau Valentina Tuerck Asgard ist. Sie verspürte beim Geben von Anweisungen und Zuschauen wohl einen gewissen Nervenkitzel, wenn aufgrund ihrer Berufserfahrung doch nicht denselben wie das zahlreiche Publikum unten auf der Strasse. Ein 1985 publiziertes Fotobuch des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiss, das Fotografien von scheinbar unmöglichen Gleichgewichtskonstruktionen aus Alltagsgegenständen versammelt, trägt das kesse Motto: «Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor’s zusammenbricht.» Dass das Publikum in diesem Fall keineswegs auf den Zusammenbruch der fragilen Assemblage aus Mensch und Objekten hoffte, ist anzunehmen. Die grosse Schaulust mag aber trotzdem von der Möglichkeit des Unglücks mit angetrieben worden sein. Im Falle einer solchen wären die Pressefotografen jedenfalls schon zur Stelle gewesen. Denn auch die Kehrseiten von Sensationen gehörten (und gehören noch immer) zu ihren Kerngebieten: Unfälle sowie Katastrophen.