Der Innenhof des Louvre in Paris mit seiner markanten Glaspyramide. Wikimedia / Benh Lieu Song

Fast allein mit Mona Lisa

Schon oft war unsere Museumseule im Pariser Louvre. Jetzt wollte sie wissen, wie sich ein Besuch nach dem Corona-Shutdown dort anfühlt.

Hibou Pèlerin

Hibou Pèlerin

Seit vielen Jahren fliegt Hibou Pèlerin zu kulturhistorischen Ausstellungen. Für den Blog des Schweizerischen Nationalmuseums greift sich Pèlerin die eine oder andere Perle raus und stellt sie hier vor.

10,2 Millionen: So viele Menschen besuchten 2019 den Louvre. Ein weiterer Rekord für das 1793 im Zuge der französischen Revolution gegründete «Volksmuseum», das seit Jahren die Liste der weltweit meistbesuchten Museen anführt.

Kein Wunder, fühlte man sich dort zuletzt immer häufiger wie in einer vorweihnächtlichen Einkaufszone. Als Europa sich nach dem Corona-Shutdown langsam wieder öffnete, stand daher für uns fest: ab nach Paris, um den Louvre einmal mit weniger Gedränge zu erleben. So, wie wir ihn aus der Zeit vor dem gigantischen Museumsboom in Erinnerung hatten.

Gerade Paris hat diesen nach Kräften angeheizt. Eine erste Weichenstellung war die Eröffnung des Centre Pompidou 1977. Die damals beispiellose Kulturmaschine lief seither wie geschmiert, mit zuletzt mehr als 3 Millionen Besucherinnen und Besucher jährlich. Es folgte 1986 die zum Museum des Impressionismus umgebaute Gare d'Orsay 1986 (fast 5 Millionen Besucher 2019). Gekrönt wurde das Ganze vom «Grand Louvre», dem Prestigeprojekt des damaligen Präsidenten François Mitterrand, mit der 1989 eingeweihten, zunächst heftig umstrittenen Glaspyramide von I.M. Pei als Eingang. Ein Coup mit ironischerweise monarchistischem Beigeschmack – und heute ein Symbol des Erfolgs.

Der gigantische Ausbau der Pariser Ausstellungsinstitutionen verdankt sich einer kulturpolitischen Offensive seit den 70er-Jahren. Zunächst sollte der Kultur nach 1968 zu einem breiten gesellschaftlichen Siegeszug verholfen werden. Nicht ganz nebenbei wurde dadurch auch der Tourismus angekurbelt. Er trug zuletzt satte 8 Prozent des Bruttoinlandprodukts bei.

Schon vor der Corona-Pandemie wurden aber auch die Schattenseiten sichtbar, Stichwort «overtourism». Nun ist alles anders. Besonders Kulturreisen brauchen künftig mehr Planung, das lässt schon die Vorbereitung unseres Ortstermins im Louvre ahnen: Rasch mal vorbeischauen war gestern. Es wird dringend empfohlen, sich vorher online ein Zeitfenster zu reservieren. Wir befürchten einen Ansturm auf die Tickets, da die Besucherzahlen massiv reduziert wurden (von 30’000 auf 7000 pro Tag), und reservieren, sobald die Seite online ist, zur Sicherheit mit Ausweichtermin. Die Befürchtung erweist sich später als unbegründet.

Besucherinnen und Besucher bei der Wiedereröffnung des Louvre.
Screenshot AFP

Wie empfohlen sind wir ein klein wenig früher, aber ja nicht zu früh beim Eingang («gardez vos distances») und präsentieren unser E-Ticket. Der Andrang ist sehr überschaubar, Distanz kein Problem. Zudem gilt im Museum Maskenpflicht, wie auch schon im ÖV und in grösseren Geschäften. Der mittlerweile gewohnte Bodyscan («Plan vigipirate») wegen Terrorismus wird durch ein Desinfektionsritual ergänzt.

Die erste Erleichterung darüber, wie glatt das alles läuft, weicht einem mittleren Schock, als wir die Museumslobby unter der Pyramide erreichen. So derart menschenleer haben wir sie noch bei keinem unserer zahlreichen Louvre-Besuche erlebt. Peis elegante, aber auch pharaonische Architektur lässt mich erstmals in diesen Hallen frösteln. Mir fällt eine berühmte Vision des Malers Hubert Robert ein, der 1796 die total zerstörten Grande Galerie des Louvre dargestellt hat. Ein einsamer Zeichner vor einer erhaltenen Skulptur ist der letzte Hoffnungsschimmer. Der Louvre als Ruine der Zukunft – man wagt es sich kaum vorzustellen.

So hat sich der Maler Hubert Robert (1733-1808) die Grosse Galerie des Louvre in Ruinen vorgestellt.
© 2007 Musée du Louvre / Angèle Dequier

Zum beklemmenden Eindruck trägt bei, dass die Garderoben und Shops allesamt dicht sind. Café und Restaurant – auf ein Minimalprogramm geschrumpft. Statt Kassen und Infodesks mit Personal gibt es nur karge Flyer mit dem Plan der zugänglichen Säle. Französisch, Englisch, Spanisch. Die Ablagen für weitere Sprachen ebenso gähnend leer wie der Treffpunkt für Gruppen. Nur die prominenten chinesischen Beschriftungen überall weisen darauf hin, dass da mal was war. Chinesen, Japaner und Amerikaner waren zuletzt besonders eifrige Besucher des Louvre, was auch die Homepage des Museums verrät: Keine Infos auf Deutsch, nur auf Englisch, Mandarin und Japanisch.

Dann folgt eine erste echte Enttäuschung: Im Nordflügel ist die gesamte 2. Etage dicht. Somit ist die geplante Stippvisite bei Rubens und Rembrandt unmöglich. Das erinnert an graue Vorzeiten, als im Louvre viele Säle nur an bestimmten Wochentagen geöffnet wurden. Der aktuelle Ersatz, die pompösen Privatgemächer von Napoleon III., befriedigt uns nicht ganz.

Ein Bild früherer Zeiten: Eine Menschentraube vor der Mona Lisa.
Wikimedia / Max Fercondini

Bleibt die klassische Tour im Südflügel, für die sogar sorgsam desinfizierte Audioguides angeboten werden. Der Aufstieg zur Nike von Samothrake, der unerschütterlich beschwingten Siegesgöttin, ist noch grandioser als sonst, die Freitreppe hin zu ihr fast leer. Dann folgen wir brav der vorgegebenen Einbahnroute zur Grande Galerie und zur Mona Lisa im Salon Carré, dem Herz des Louvre. Es ist schon ein Genuss, durch die spürbar verkehrsberuhigte Grande Galerie zu flanieren. Man kann wieder Gemälde betrachten, ohne von kamerabewehrten Pulks auf dem Weg zur Mona Lisa fast umgerannt zu werden. Auch die übliche Menschentraube rund um letztere hat sich gelichtet. Nun erblickt man die Schöne schon von weitem. In die mit Absperrbändern organisierte Warteschlange vor dem Gemälde reihen sich die Fans ein. Das aktuelle Ritual besteht darin, nicht etwa das panzerverglaste Gemälde zu fotografieren, sondern ein Selfie mit Mona Lisa zu produzieren. Folglich wenden absurderweise fast alle dem Bild den Rücken zu, sobald sie nach einigem Warten endlich direkt davorstehen. Hinschauen ist ja im Grunde auch gar nicht mehr nötig. Das Werk ist zu Tode reproduziert.

Ein menschenleerer Aufstieg zu Siegesgöttin.
© 2008 Musée du Louvre / Cécile Dégremont

Ich wende mich den anderen Gemälden im Salon Carré zu. Dabei passiert etwas Unerwartetes. Die Darstellung der Emmausjünger von Veronese kommt mir auf einmal seltsam vor: Die sitzen ja viel zu dicht aufeinander! Dann schweift der Blick zum eigentlichen Juwel im Saal, Veroneses Hochzeit von Kana, ebenfalls eine napoleonische Trophäe aus der dem Refektorium der Kirche San Giorgio Maggiore in Venedig. Das opulente Bankett, bei dem die Menschen förmlich aneinanderkleben und feiern, habe ich schon oft betrachtet. Jetzt werden mir die Augen feucht. Warum? Schlagartig und intensiver als je zuvor in den letzten Monaten wird mir klar, welch enormen Einschnitt die Coronapandemie für unsere Kultur bedeutet: Sorglos und ausgelassen zusammen essen und feiern, das war seit Jahrhunderten etwas Zentrales gewesen – und ist jetzt erst einmal nur noch ein Risiko.

Trotz dieses Moments der posttraumatischen Trauer erweist sich mein Besuch im Louvre insgesamt als ungemein tröstlich. Ja, sie hängen alle noch völlig ungerührt da, die Werke, die Ikonen und Fixpunkte der europäischen Kultur seit Jahrhunderten. Das vermittelt Halt wie der Gang in die Natur während des Lockdown. Im Unterschied zu dieser zeigen die Bilder, was die Menschheit schon so alles erlebt und durchlitten hat: Auf Géricaults Floss der Medusa wird elend krepiert, Delacroix’ Liberté stürmt siegessicher für die Volksrechte voran, Marat, Opfer der Revolution, ist immer noch tot. Als ich schliesslich bei Jacques-Louis Davids monumentaler Krönung Napoleon Bonapartes vorbeikomme, lässt mich die hochinfektiöse Massenszene völlig ungerührt. Gut, anders als Veroneses Hochzeit zeichnet Davids doppelbödiges Auftragswerk vor allem ein Psychogramm der Macht. Sie stellt ein soziales Ritual aus, das eine hohle Machtdemonstration und damit komplett verzichtbar ist.

Ein Social-Distancing-Albtraum: Die Hochzeit zu Kana, gemalt von Paolo Caliari, genannt Veronese, vollendet 1563.
Musée du Louvre

Hubert Roberts Ruinengalerie übrigens sucht man derzeit vergebens. Das Gemälde hängt in den temporär geschlossenen Räumen. Womöglich ist das besser so, sonst kämen Besucher auf dunkle Gedanken. Denn wie werden Institutionen wie der Louvre, aber auch zahlreiche andere Museen aussehen, sollten die Eintritte über längere Zeit markant zurückgehen? Welche Folgen wird das für eine Stadt wie Paris haben – und für andere kulturelle Zentren in Europa und darüber hinaus? Später fällt uns ein Kioskaushang auf: «Tourisme – année zéro». Tourismus Jahr Null. Auch wenn wir aus egoistischen Motiven einen Museumsbesuch mit weniger Menschen schätzen mögen – das Museum lebt vom Zuspruch und der Begeisterung der Vielen. Das ist seine eigentliche Daseinsberechtigung, das war die Idee des «Volksmuseums», für den die Französische Revolution den einstigen Königspalast Louvre gekapert hat. Wir alle beleben diese Idee wieder, indem wir den Louvre und all die anderen Museen besuchen, die seither entstanden sind und uns auf vielfältige Weise mit unserer Geschichte und ihrer Reflexion verbinden.

Musée du Louvre

Homepage mit Online-Ticketsystem
louvre.fr

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