Ankunft von italienischen Arbeitskräften 1956 in Brig.
Ankunft von italienischen Arbeitskräften 1956 in Brig. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Svizzera, wie weiter?

In den 1960er-Jahren stellte sich die Schweiz die Frage, wie es mit den Gastarbeitern aus Italien weitergehen sollte. Ihre Arbeitskraft war gefragt, ihre Präsenz in der Gesellschaft hingegen weniger...

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz

Noëmi Crain Merz ist Historikerin an der Universität Basel.

Mit seinem Diktum «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen» entlarvt Max Frisch 1965 die Haltung der Schweiz beim Rekrutierungsabkommen mit Italien von 1948: Für die brummende Wirtschaft brauchte man ausländische Arbeitskräfte, eine «Überfremdung» sollte jedoch unter allen Umständen vermieden werden. Aber auch das südliche Nachbarland hoffte zu profitieren. Vor dem Hintergrund der grassierenden Arbeitslosigkeit ermutigten die regierenden Christdemokraten junge Menschen zur vorübergehenden Ausreise. So würden sie nicht in die Fänge der Kommunisten geraten. Das sogenannte Rotationsmodell sollte italienische Arbeitskräfte, je nach Bedarf und möglichst oft wechselnd, in die Schweiz bringen, ohne dass sie langfristig im Land blieben. Mit der boomenden Konjunktur stieg die Nachfrage in der Schweiz in den 1950er-Jahren stetig an. Auf Baustellen, in Fabriken und Privathaushalten arbeiteten bald Hunderttausende Männer und Frauen aus Italien. Eine Niederlassungsbewilligung erhielten sie frühestens nach zehn Jahren. Wer nicht arbeitete, konnte nicht im Land bleiben – mit dramatischen Folgen für Kinder, die in der Illegalität oder getrennt von den Eltern aufwachsen mussten.
Porträt von Max Frisch, 1990.
Max Frisch kritisierte die schweizerische Haltung gegenüber den italienischen Arbeitskräften. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Gegenstand innenpolitischer Debatten ist um 1960 jedoch nicht die prekäre Situation der italienischen, sondern jene der einheimischen Bevölkerung. Dass eine «Überfremdung» mit fatalen Folgen für die Schweizerinnen und Schweizer im Gang sei, ist weitherum Konsens. Eine Begrenzung der Zuwanderung wird von verschiedenen Seiten gefordert, sowohl von der 1961 gegründeten Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat als auch vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. In seinem Arbeitsprogramm verlangt er 1961 eine Kontrolle, um «die politische, kulturelle und sprachliche Eigenart der Schweizer zu erhalten». Die Schweizer Wirtschaft möchte hingegen am System festhalten, das zu ihrem Erfolg beiträgt. Um es nicht zu gefährden, tritt der Bundesrat auf Verhandlungen für eine Revision des Abkommens mit Italien ein. Dort wird die rechtliche Situation der Landsleute in der Schweiz zunehmend kritisiert. Im November 1961 versetzt ein «informeller Besuch» des italienischen Arbeitsministers die Schweiz in Aufregung. Fiorentino Sullo wünscht sich ein Bild der Lebens- und Arbeitsverhältnisse seiner Landsleute zu machen. Er besichtigt Fabriken, spricht mit italienischen Arbeiterinnen und Arbeitern und wird von kantonalen und städtischen Behörden offiziell begrüsst. Der wohlwollende Empfang soll die guten Beziehungen der beiden Länder bekräftigen. Doch Diplomatie ist Sullos Sache nicht. In einem Ton, «den wir in der Schweiz lieber nicht hören», so das katholische Basler Volksblatt, kritisiert er die Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte und die Rückständigkeit der Sozialversicherungen. Mit der unverhohlenen Drohung, Italien werde die Anwerbung weiterer Arbeitskräfte erschweren, sofern man seinen Forderungen nicht nachkomme, stösst er die Gastgeber vor den Kopf.
TV-Beitrag über Gastarbeiter in Baden (AG). YouTube / SRF Archiv
Der Bundesrat drückt «in angemessener Form» sein Befremden aus, die beiden Botschafter werden vom jeweiligen Aussenminister vorgeladen, und man möchte beidseitig einen Strich unter die Affäre ziehen. Doch in der Politik und der Presse kochen die Emotionen hoch. Während Sullo aus Italien Rückendeckung erhält, gibt man die Vorwürfe in der Schweiz reflexartig an den Absender zurück. Der Minister solle sich in den Elendsquartieren von Neapel umsehen – er stammt aus dieser Region – und dafür sorgen, dass jeder in Italien einmal täglich seine Minestra auf dem Tisch habe, schimpft der Sozialdemokrat Oreste Fabbri, Sohn norditalienischer Einwanderer, im Basler Grossen Rat. Auch der Blick der linken wie bürgerlichen Presse richtet sich umgehend nach Süden: Aus Sizilien berichten Menschen, wie sie «mit leerem Magen herumlaufen und Kräuter und Schnecken essen müssen». Man zitiert eine Frau, die in Italien «mit Blut und Schweiss» gearbeitet habe – «seit meiner Geburt» – und trotzdem keine Rente bekomme. Falls dem «Herrn namens Sullo» das Los der italienischen Arbeiter am Herzen liege, habe er «im eigenen Land mehr als genug zu tun», so der Tenor.
Fiorentino Sullo (Zweiter von rechts) bei seinem Arbeitsbesuch in der Schweiz 1961. Bild aus der Zeitung «Die Tat».
Fiorentino Sullo (Zweiter von rechts) bei seinem Arbeitsbesuch in der Schweiz 1961. Bild aus der Zeitung «Die Tat». e-newspaperarchivs
Erst 1964 wird das «Italienerabkommen» verabschiedet. Es bringt leichte Verbesserungen im Familiennachzug und verkürzt die Frist für die Umwandlung der saisonalen in eine Jahresaufenthaltsbewilligung. Obschon andere Forderungen Italiens nicht erfüllt werden, stösst die Vereinbarung in der Schweiz auf harsche Kritik, auch auf gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Seite. Dies irritiert die italienische Linke. Als die Zürcher SP im Einklang mit den Gewerkschaften eine Obergrenze der Anzahl ausländischer Arbeiter in der Schweiz verlangt, ohne die sie das Abkommen zur Ablehnung empfiehlt, titelt die sozialistische Libera Stampa: «Quo vadis Svizzera?» Im ehemals weltoffenen Nachbarland macht sie gar Tendenzen aus, die an die Hitlerzeit erinnerten. Ein «Gastarbeiter» aus Zürich klagt in der kommunistischen Unità, die Schweizer Sozialisten hätten den Emigranten eine Ohrfeige verpasst. Während der Nationalrat noch über die Ratifizierung des Abkommens debattiert, kommt es zu antiitalienischen Kundgebungen. Die Nationale Aktion wächst weiter, 1967 schickt sie mit James Schwarzenbach erstmals einen Nationalrat nach Bern. Seine Volksinitiative zur Begrenzung der ausländischen Arbeiterschaft auf zehn Prozent der Bevölkerung kommt 1970 zur Abstimmung. Das ausschliesslich männliche Stimmvolk lehnt sie ab, doch die Zustimmung zum von allen Bundesratsparteien und Wirtschaftsverbänden bekämpften Begehren ist gross.
TV-Doku über die Schwarzenbach-Intitiative von 1970. YouTube / SRF
Tief gespalten sind die Gewerkschaften. Millionär Schwarzenbachs Narrativ vom Kampf des einfachen Volks gegen die Wirtschaftsvertreter erhält viel Zuspruch in der Arbeiterschaft. Nicht die Fremden seien schuld, «sondern jene, die sie geholt haben». Die Sozialdemokratie, deren Vertreter sich – mit Ausnahme der Kantonalpartei Zug – gegen die Initiative aussprechen, verliert langfristig einen Teil ihrer traditionellen Wählerschaft an die äussere Rechte. Wie könne es sein, dass «im Jahr 1970 mitten in Europa in einem Land, das schon vor Jahrhunderten seine eigene europäische Einigung geschaffen hat, eine derart massive und irrationale Welle der Fremdenfeindlichkeit möglich» sei, fragt der Mailänder Corriere della Sera. Schwarzenbachs Rhetorik hat das Bild der Eidgenossenschaft im Ausland erschüttert. Minister Sullos Ton, über den man sich in der Schweiz so echauffiert hatte, war dagegen harmlos gewesen. Heute sind italienische Einflüsse in der Schweiz omnipräsent, Nachkommen von Zugewanderten finden sich überall in der Berufswelt und der Politik. Es ist kaum mehr vorstellbar, wie stark Italienerinnen und Italiener bis vor einem halben Jahrhundert zur Bedrohung der «Eigenart der Schweizer» stilisiert wurden. Die Politik der Ausgrenzung, die in Schwarzenbachs Initiative kulminierte, ist jedoch nicht verschwunden. Sie richtete sich danach auf Menschen anderer Herkunft. «Die Rollen sind geblieben», so der Historiker Angelo Maiolino, «nur die Darsteller haben gewechselt.»

Erfahrun­gen Schweiz — Italianità

16.01.2024 14.04.2024 / Landesmuseum Zürich
Ein südliches Lebensgefühl gehört in der heutigen Schweiz zum Alltag. Diese Italianità hat vor allem mit Einwanderungen aus Italien zu tun. Es gibt aber auch eine «einheimische Italianità» im Tessin und in Graubünden. Der italienische Lebensstil ist mit der Zeit von vielen Schweizerinnen und Schweizern übernommen worden und heute im ganzen Land spürbar. In Basel genauso wie in Vevey oder Sitten. Auf Zürichs Strassen ebenso wie in der Bieler Altstadt. Er ist Teil des immateriellen Kulturerbes. Doch der Weg zur heutigen «mediterranen Schweiz» war nicht immer einfach und hat viele schöne, aber auch zahlreiche traurige Lebensgeschichten geschrieben. Davon erzählen zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in der Ausstellung «Erfahrungen Schweiz – Italianità».

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