Auguste Forel als Protagonist der Tausendernote (Vorderseite), welche 1978 in Umlauf kam.
Auguste Forel als Protagonist der Tausendernote (Vorderseite), welche 1978 in Umlauf kam. Schweizerisches Nationalmuseum

Vom Sockel geholt

Auf der vorletzten Tausendernote blickte Auguste Forel als weiser, wacher Forscher in die Welt, als Ikone der Wissenschaft und helvetisches Nationalsymbol. Aber dieses stilisierte Heldenbild hielt einer näheren Überprüfung nicht stand. Eine Geschichte über die Tücken der Erinnerungskultur.

Peter Egloff

Peter Egloff

Der Volkskundler Peter Egloff ist Publizist in Zürich.

Professor Auguste Forel (1848-1931), Dr.med., phil.h.c. und iur.h.c., wurde jahrzehntelang als Personifizierung eines idealen Forschers, als einer der letzten Universalgelehrten der Schweiz gefeiert. Noch in seinem Todesjahr wurde eine Zürcher Strasse nach ihm benannt. 1932, gerade mal acht Monate nach seinem Tod, wurde am Dies academicus der Universität Zürich im Haupteingang auf einem Marmorsockel seine Portraitbüste enthüllt. Am 1. September 1948, seinem 100. Geburtstag, wurde vor dem Universitätsspital Zürich der Auguste-Forel-Brunnen eingeweiht. 1971 widmete ihm die PTT eine Briefmarke. Und von 1978 bis 2000 war die Tausendernote der Schweizerischen Nationalbank mit Forels Konterfei im Umlauf - immerhin der Geldschein mit dem weltweit höchsten Wert, im Volksmund liebevoll «Ameisli» genannt. 1986 und 1988 huldigten die Universitäten Zürich und Bern Forel mit einer grossen Ausstellung. Aber im Herbst 2007 verschwand das Ehrenmal des «Vaters der Schweizer Psychiatrie» sang- und klanglos aus dem Haupteingang der Universität Zürich. Was war passiert?
Auguste Forel, von 1879 bis 1898 vierter Direktor des Burghölzli und Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich. Bild von 1899.
Auguste Forel, von 1879 bis 1898 vierter Direktor des Burghölzli und Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich auf einem Bild von 1899... Wikimedia / Clark University
Sondermarke der PTT von 1971.
... und auf der Sondermarke der PTT von 1971. Museum für Kommunikation, Bern
1848 in Morges (VD) als Sohn eines Geometers und Gutsbesitzers und einer französischen Industriellentochter geboren, studierte Forel in Zürich Medizin, verbrachte einige Jahre als Assistenzarzt in München und wurde 1879 Direktor der – wie es damals hiess – «Irrenanstalt» Burghölzli. Die Position war verbunden mit einer Professur für Psychiatrie an der Universität Zürich. Bereits im Alter von 50 Jahren trat er von beiden Ämtern zurück und zog an den Genfersee, wo er sich bis zu seinem Tod als Privatgelehrter seiner wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit widmete. Forels Aktivitäten und Interessen waren weit gefächert. In unzähligen Publikationen behandelte er die verschiedensten Themenbereiche von der Hirnanatomie über Hypnose, Strafrechtsreform, Alkoholismus, Sexualmoral, Vererbungslehre, Kriminalpsychologie, Pazifismus und Sozialphilosophie bis zu Fragen der internationalen Politik. Vehement setzte er sich ein für die völlige Gleichberechtigung der Geschlechter, für freien Zugang zu empfängnisverhütenden Mitteln, Zulassung des Konkubinats und gegen die Diskriminierung von Homosexuellen. Sein Buch «Die sexuelle Frage» war ein Best- und Longseller, wurde in 16 Sprachen übersetzt und beeinflusste die Vorstellungen über Sexualität im 20. Jahrhundert nachhaltig. Bedeutend und berühmt war Forel auch als Insektenforscher mit Spezialgebiet Ameisen und Termiten. Auf ausgedehnten Forschungsreisen in Europa und Übersee beschrieb er an die 3500 Arten. Seine beiden diesbezüglichen Hauptwerke gelten bis heute als unentbehrliche Klassiker.
Rückseite der Tausendernote von 1976.
Hommage an den grossen Ameisenforscher und die Objekte seiner lebenslangen Sammlerleidenschaft: die Rückseite der «Ameisli»-Note mit Formica rufa und Strongylonathus Huberi (beide Schweiz) und Polyrhachis caulomna (Neuguinea). Schweizerisches Nationalmuseum

Der Sozial­dar­wi­nist

Forel war ganz von einer Epoche geprägt, deren praktisch unangefochtene Autorität die Naturwissenschaft war. Die von Herbert Spencer und Charles Darwin um die Mitte des 19. Jahrhunderts formulierten Gesetze der Entwicklung und Auslese in der Natur (Evolutionstheorie, survival of the fittest) hatten eine ungeheure Breitenwirkung. Sie wurden rasch trivialisiert und auch zu Grundprinzipien für das Zusammenleben von Menschen und Völkern erklärt. Dieser Sozialdarwinismus wurde zur klassischen Ideologie des bürgerlich-hochkapitalistischen Zeitalters, das seinen Expansionsdrang, seine aggressive Kolonialpolitik und die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Machtkonzentration mit Berufung auf ein scheinbar unentrinnbares Naturgesetz zu rechtfertigen suchte. Ohne diese Zielsetzungen zu durchschauen oder gar zu billigen (für Forel, ab 1916 Sozialdemokrat, war das kapitalistische System «ein ekelhafter, verpesteter Sumpf»), übernahm er grosse Bereiche der sozialdarwinistischen Vorstellungswelt und arbeitete an ihrer Weiterentwicklung. Seine Grundüberlegung dabei war, dass wie in der freien Wildbahn auch in der menschlichen Gesellschaft soziale und historische Prozesse in erster Linie von biologischen Voraussetzungen bestimmt würden. Der Arzt und Psychiater Forel war der Ansicht, dass «der Mensch durch seine im Gehirn tief verankerte erbliche Anlage ein egoistisches, individualistisches, leidenschaftliches, raubgieriges, herrsch-, rach- und eifersüchtiges Wesen» sei. Der Ameisenforscher Forel aber meinte: «Wahrhaftig, ich glaube, dass die in einer Ameise allmählich kumulierten und geordneten sozialen Instinkte viel weiser sind als diejenigen, die der Homo sapiens Linné trotz allen erworbenen Überlieferungen und trotz der besten Erziehung sich aufzwingen kann.» Forel stellte den «Sozialismus» einer Ameisenkolonie «turmhoch» über alle menschlichen Gesellschaftsordnungen und fragte sich 1922, eine Synthese seiner beiden Hauptarbeitsgebiete Psychiatrie und Insektenkunde suchend: «Was können wir tun, um ameisenähnlicher zu werden und zugleich Menschen zu bleiben?»
Aus dem Bestand der Schweiz. Volksbibliothek: Auguste Forels Sozialutopie, in der die Menschheit friedlich «wie eine einzige menschliche Ameisenkolonie die ganze Erdkugel überzieht».
Aus dem Bestand der Schweiz. Volksbibliothek: Auguste Forels Sozialutopie, in der die Menschheit friedlich «wie eine einzige menschliche Ameisenkolonie die ganze Erdkugel überzieht». Bild: Peter Egloff

Rassen­hy­gie­ne, Eugenik, Euthanasie

Forels «Lösung der menschlichen und sozialen Frage anhand einer besonnenen wissenschaftlichen Überlegung» ging davon aus, dass in prähistorischer Zeit gleich wie bei den Tieren auch bei den Menschen die intelligenteren, fruchtbareren und stärkeren Individuen sich gegenüber den schwächeren und dümmeren durchgesetzt hätten und dass auch noch auf der «Mittelstufe des barbarischen Altertums» die «Zuchtwahl» an der «Beseitigung minderwertiger Gehirne» gearbeitet habe. Im modernen Krieg hingegen seien «die Schwachen und die Krüppel am meisten geschützt, die Tüchtigsten hingegen besonders gefährdet». Auch Alkohol und andere Narkotika würden die «Keime, auf welchen die Zukunft der Rasse ruht», zur Entartung bringen. In der modernen Gesundheitsversorgung erblickte der Arzt und ehemalige Burghölzli-Direktor grosse Nachteile für die Zukunft der Menschheit: «Als Ärzte haben wir leider die Pflicht, das Leben der Idioten, der Entarteten, der geborenen Verbrecher und der Irrsinnigen so lang wie möglich zu erhalten.» Und, einen Denkschritt weiter gehend, fand er die Frage beachtenswert, «ob die Beseitigung der abscheulichsten Exemplare menschlicher Gehirne (Verbrecher und Geisteskranke) durch schmerzlosen Tod nicht das Beste und Humanste wäre». Er selbst hatte es im Burghölzli bei Sterilisationen und Kastrationen bewenden lassen.
Die Klinik Burghölzli auf einem Stich von 1890.
Forels langjährige Wirkungsstätte. Die Klinik Burghölzli auf einem Stich von 1890. Wikimedia / Zentralbibliothek Zürich
In der «verkehrten Zuchtwahl», für welche Forel den Begriff Kakogenik prägte (als Gegensatz zur Eugenik im Sinne von positiver Zuchtwahl und Rassenhygiene) sah er das schwerwiegendste Problem der Neuzeit und erachtete eine künstliche Korrektur für dringend: «Wessen es bedarf, ist die starke Vermehrung der Besten und künstliche Sterilisierung der Minderwertigen.» Minderwertig waren für Forel aber nicht nur die «faulen, impulsiv-leidenschaftlichen, verbrecherischen Naturen, die geistig Abnormen und körperlich Siechen», sondern auch die «niedrigen Rassen». Denn Forel war, wie viele Anthropologen und Naturwissenschaftler seiner Zeit, Rassist. Eine Gefahr für die «Kulturmenschen» bildeten aus seiner Sicht insbesondere «die Neger, die körperlich kräftig und zähe, ausserordentlich fruchtbar, dabei aber geistig minderwertig sind, obwohl sie sich unserer Kultur in gelehriger Weise sehr gerne anschmiegen. Wenn sie sich aber letztere angeeignet haben, so korrumpieren sie sie samt unserer Rasse durch Faulheit, Unfähigkeit und miserable Mischprodukte wie die Mulatten.»

Dunkle Seiten – lange ignoriert und beschwiegen

Die problematischen Seiten des Forel’schen Denkens und Schreibens (und seines Wirkens als Arzt am Burghölzli) wurden von den massgeblichen universitären Kreisen lange ignoriert, beschwiegen, gezielt ausgeblendet. Aus Anlass des 50. Todestages von Forel brachte der Zürcher Tages-Anzeiger 1981 eine ausführliche Würdigung, die sich auch mit seiner rassistischen Grundgesinnung, mit seinen rassenhygienischen Konzepten und eugenischen Forderungen befasste. Postuliert wurde im Artikel eine kritische Auseinandersetzung mit Forel als «ein für die schweizerische Medizin wichtiges Stück Vergangenheitsbewältigung». Die Forderung blieb einstweilen völlig unbeachtet. Die bereits genannten Ausstellungen von 1986 und 1988 an den Universitäten Zürich und Bern feierten Auguste Forel unbeirrt und rein affirmativ als einen Mann, «der uns noch heute Vorbild und Verpflichtung bedeuten kann» – so Universitätsrektor und Hirnforscher Konrad Akert 1986 im Katalog zur Ausstellung. 1988, bei der Neuauflage der Ausstellung an der Universität Bern, kam es zu Protestaktionen. Aber erst viele Jahre später, 1999, erreichte das Buch «Hirnriss – Wie die Irrenärzte Auguste Forel und Eugen Bleuler das Menschengeschlecht retten wollten» des Journalisten und Historikers Willi Wottreng eine breitere Öffentlichkeit.

«Vom Ehrenmal zur histori­schen Hypothek»

Im Mai 1986, im Vorfeld der grossen Forel-Ausstellung an der Universität Zürich, war es zu einem merkwürdigen Vorfall gekommen. Eines Tages war Forels Bronzebüste von ihrem Marmorsockel am unteren Uni-Haupteingang verschwunden. Wenige Tage später wurde sie an einem Stand auf dem Zürcher Bürkliplatz-Flohmarkt entdeckt und sofort wieder an ihren angestammten Ehrenplatz gebracht. Auf eine Strafanzeige wurde verzichtet.
Die Neuen Zürcher Nachrichten berichteten am 31. Mai 1986 über das Verschwinden der Büste. Das «Signalement» war allerdings ungenau...
Die Neuen Zürcher Nachrichten berichteten am 31. Mai 1986 über das Verschwinden der Büste. Das «Signalement» war allerdings ungenau... e-newspaperarchivs
Die Medizinhistorikerin Iris Ritzmann hat der Forel-Büste und deren Bedeutungswandel eine höchst spannende Studie gewidmet. Sie schlägt vor, den rätselhaften Diebstahl, an dessen Aufklärung offenbar kein Interesse bestand, als «politischen Akt», als Protest gegen die Forel-Verehrung zu lesen. Die Botschaft: Auf den Flohmarkt versetzt, wird das Wissenschaftsidol zur Trödelware, die höchstens noch als ausgedientes Kuriosum verhökert werden kann und «auf den Komposthaufen der Geschichte gehört». Ein kleiner studentischer Geniestreich? Wie dem auch sei: 17 Jahre später kam der inneruniversitäre Impuls zur Entmystifizierung Forels von studentischer Seite. Der Protest und die nachfolgende Debatte kristallisierten sich in der Frage nach dem angemessenen Umgang mit der Büste. 2003 erschien in der Zürcher Studierendenzeitung ein Artikel: «Und täglich grüsst der Eugeniker». Irritiert von seiner Forel-Lektüre, zeigte der Autor Simon Hofmann wenig Verständnis für die anhaltende Verehrung, welche in der Bronzebüste zum Ausdruck kam. Er sah darin nicht zuletzt «eine Verhöhnung der Opfer der Zwangsmassnahmen in der Schweizer Psychiatrie». Der Studierendenrat nahm das Anliegen auf und wandte sich 2004 an die Universitätsleitung, welche ihrerseits die Ethikkommission der Hochschule um Rat ersuchte, wie in den Räumen der Universität mit Forels Andenken angesichts seiner «eugenischen Vergangenheit» umzugehen sei. 2005 befasste sich ein hochkarätig besetztes Kolloquium mit der Frage. Einig war man sich, dass die Büste keinesfalls kommentarlos aufgestellt bleiben könne. Aber sie dürfe auch «nicht einfach in der Versenkung verschwinden, sondern sei mit einer Ausstellung zu koppeln oder künstlerisch zu verfremden und mit Wegweisern zu vertiefenden Informationen zu versehen.» Nach einigem Hin und Her passierte aber genau dies: Die Büste verschwand still und leise in der Kunstsammlung des Kantons Zürich. Dort steht sie bis heute im Aussenlager Embrach. Ohne Marmorsockel.
Sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden: die Forel-Büste von Bildhauer Walter Späny, ein Geschenk des Zürcher Regierungsrates an die Universität Zürich.
Sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden: die Forel-Büste von Bildhauer Walter Späny, ein Geschenk des Zürcher Regierungsrates an die Universität Zürich. Kunstsammlung des Kantons Zürich
Trotzdem kommt Medizinhistorikerin Ritzmann zum Schluss, dass die Debatte um das 52 cm hohe und 24,5 kg schwere Bronzeding sich als durchaus fruchtbar erwiesen habe. Die dadurch ausgelöste wissenschaftliche Beschäftigung mit Forels Texten und der Zürcher Psychiatriegeschichte sei wichtig gewesen «in einer Zeit, da sich auch in der Schweiz vermehrt Opfer von Zwangsmassnahmen durch Behörden und die Psychiatrie zu Wort meldeten und eine Auseinandersetzung mit vergangenem Unrecht einforderten.»

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