Rudolf Flükiger im Militärdienst.
Rudolf Flükiger im Militärdienst. zvg

Der Fall Flükiger

Bis heute ist der Tod des Offiziersaspiranten Rudolf Flükiger nicht geklärt. Kreuzte der Berner ungewollt die Wege jurassischer Separatisten? Wurde er von Schmugglern ermordet? Oder kam er der RAF in die Quere? Drei mögliche Hypothesen.

Hervé de Weck

Hervé de Weck

Hervé de Weck ist Militärhistoriker und und war zwischen 1991 und 2006 Chefredaktor der Revue Militaire Suisse.

Bis heute wird im Jura über das Schicksal von Rudolf Flükiger. In der Nacht vom 16. auf den 17. September 1977 verschwindet der 21-jährige Berner Offiziersaspirant und Radfahrer während eines nächtlichen Postenlaufs auf dem Waffenplatz von Bure. Erst einen Monat später findet man seine sterblichen Überreste in der Gegend von Grandvillars in Frankreich. Bis heute gilt Suizid als offizielle Todesursache. Doch ein Suizid mittels Handgranate, wie ihn der Abschlussbericht der Schweizer Justiz als Todesursache festhält, kann ausgeschlossen werden. Dies zeigt auch die 2024 erschienene Dokumentation «Operation Silence - Die Affäre Flükiger» von Werner Schweizer.Erstens war Rudolf Flükiger ein kräftiger und unbeschwerter junger Mann, der sich wohl in seiner Haut fühlte. Zweitens ereigneten sich beim Militär seit 1943 nur drei oder vier Selbsttötungen mittels Handgranate – die meisten Suizide werden mit der Ordonnanzpistole verübt. Drittens, trägt jede  Handgranate des Modells 43 eine Nummer, über die sich zurückverfolgen lässt, welche Truppe die entsprechende Serie erhalten hat. Am Tatort wurde offenbar keine Spur einer solchen Nummer gefunden. Viertens hält der frühere Truppenarzt Jean-Luc Eberlin, der die Aufzeichnungen der Unterlagen zum Fall genau studiert hat, aufgrund der Verletzungen und der Lage des Leichnams einen Selbstmord für unmöglich.
Ausgangspunkt von Flükigers Verschwinden: Der Waffenplatz von Bure um 1981.
Ausgangspunkt von Flükigers Verschwinden: Der Waffenplatz von Bure um 1981. ETH-Bibliothek Zürich

Drei Hypothe­sen zum Tod von Rudolf Flükiger

Nur der untere Teil der Leiche lag etwa zehn Meter vom Krater der Granate entfernt, während von der Pistole und dem Halfters jedoch jede Spur fehlte. Die Hälfte der militärischen Erkennungsmarke lag am Tatort. Ist es möglich, dass die Marke durch die Explosion zerrissen wurde? Weder Pistole, Kompass und Taschenlampe wurden gefunden. Die Waffe hat sich durch die Explosion nicht etwa verflüchtigt, sondern ist verschwunden. Wurde sie gestohlen? Hatte Rudolf Fükiger sie verloren? Ihre Nummer war im Dienstbüchlein des Aspiranten vermerkt. Wurde diese Nummer nie veröffentlicht, obwohl sich dadurch eine neue Fährte – in diesem Fall zur Klärung eines Verbrechen – hätte ergeben können? Als Erklärung für den noch immer ungeklärten Todesfall kommen drei Hypothesen in Frage:

Hypothese 1

Drogen- oder Waffenschmuggler werden von einem rennenden Mann in blauem Overall überrascht, der eine Taschenlampe hält und an der Seite eine Pistole trägt. Sie halten ihn für einen Grenzwächter oder Polizisten und erschiessen oder erschlagen ihn. Um eine falsche Fährte zu legen, bringen sie die Leiche nach Frankreich. Mit einer gestohlenen Handgranate mit Zusatzladung werden allfällige Spuren beseitigt.

Hypothese 2

Aspirant Flükiger wird im Umkreis des Waffenplatzes von Bure unfreiwillig Zeuge davon, wie Mitglieder der Roten Armee Fraktion den lebenden oder toten Hanns Martin Schleyer an einen neuen Ort bringen. Der Zeuge muss beseitigt werden. Eine unwahrscheinliche Hypothese, wenn man den Grad der Professionalität der westdeutschen Terroristen kennt.

Hypothese 3

Haben sich einige Béliers oder Autonomisten, nicht unter der Kontrolle ihrer «Glaubensbrüder», auf einen «Scherz» eingelassen, eine Operation, die schiefgelaufen ist? Am 15. Oktober 1977 erhält die Redaktion der Zeitung «L’Impartial» in La Chaux-de-Fonds ein anonymes Schreiben, das die Untersuchungsverantwortlichen von Beginn weg als Instrument eines pro-bernischen Ränkespiels einordnen (der Fall wurde denn auch tatsächlich instrumentalisiert). In diesem Schreiben «gesteht» ein angeblicher Bélier-Anhänger, der mit dem Brief sein Gewissen erleichtern möchte, Rudolf Flükiger sei in der Absicht entführt worden, den Fernsehkameras vor dem Bundeshaus einen nackten «Fritz» (Deutschschweizer) vorzuführen. Beim Transport im Kofferraum eines Autos sei der gefesselte und geknebelte Aspirant an seinem Erbrochenen erstickt. Der Suizid mittels Handgranate wird inszeniert. Im Unterschied zu den damaligen Zeitungsartikeln wird der Name Flükiger im Brief korrekt geschrieben. Die Ereignisse um dem Fall und der Brief werfen Fragen auf:
  • Haben Suchhunde eine Spur bis zu einem Hof am Rande des Waffenplatzes von Bure verfolgt? Haben sie sie daraufhin verloren?
  • Gibt es Zeugen, die im entsprechenden Rayon verdächtige Bewegungen beobachtet haben?
  • Wurde das Modell der Schreibmaschine identifiziert, auf der der anonyme Brief getippt wurde? Wer ist ihr Eigentümer?
  • Wurden die Autoren des Briefs an Bundesrat Gnägi und der Berichte unter dem Namen «Groupe action vérité affaire Flükiger» (Aktionsgruppe Wahrheit im Fall Flükiger) identifiziert?
  • Was ist über das Treffen s im Restaurant Grandfontaine vom 16. auf den 17. September 1977 bekannt? Dessen Wirt, Alfred Amez, der damit geprahlt haben soll, so einiges über den Fall Flükiger zu wissen, beging 187 Tage später unter ungeklärten Umständen «Selbstmord» in der Nähe von Lyon.
Rudolf Flükiger im Militärdienst.
Rudolf Flükiger im Militärdienst. zvg
Was hat die Militärjustiz unternommen? Es geht schliesslich um die Ermordung eines sich im Dienst befindenden Militärangehörigen. Und was hat die Bundespolizei unternommen, in deren Zuständigkeit ein Sprengstoffdelikt fällt? Hatten die Ermittler der Ajoie die Mittel und Möglichkeiten, die Untersuchung in aller Gründlichkeit durchzuführen und alle daraus resultierenden Schlüsse zu ziehen? Bis heute sind die Archive des Rassemblement jurassien und der Bélier unter Verschluss – sie werden es bis 2088 bleiben. 1977 stand man kurz vor der Abstimmung der Kantone und des Schweizer Stimmvolks über die Gründung der Republik und des Kantons Jura. Die Berner Kantonsregierung hatte sich da bereits mit dem Verlust eines Teils ihres Kantonsgebiets abgefunden. Im Norden des Berner Juras zeigen Polizei und Justiz (noch immer Berner) keine sonderliche Dynamik mehr, besonders, wenn ein Fall in Zusammenhang mit der Jurafrage steht. Befürchten die Exponaten des jurassischen Verfassungsrats, dass die Wahrheit die für 1978 geplante eidgenössische Abstimmung über die Gründung des neuen Kantons ungünstig beeinflussen würde? Möchte Bundesrat Kurt Furgler, der in der Jurafrage grosses Engagement gezeigt hat, sein Wirken nicht gefährden? Jedenfalls lädt den Chefredakteur des «Bundes» vor und bittet ihn, vom Fall Flükiger nicht allzu viel Aufhebens zu machen. Der Tod von Aspirant Flükiger ist nicht restlos geklärt. Nicht zu vergessen ist der unbeschreibliche Schmerz seiner Familie, die sich von Anfang an sicher war, dass sich der junge Mann nicht das Leben genommen hat. Der Dokumentarfilm von Werner Schweizer hat sie zufriedengestellt...
Trailer zum Dokumentarfilm von Werner Schweizer «Operation Silence – Die Affäre Flükiger», 2024. Dschoint Ventschr Filmproduktion
SRF Dok zum Fall Flückiger vom Frabruar 2024. SRF Dok

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