1415 statt 1291? Ein historischer Kick
Burgenbruch 1291: Fehlanzeige. Anders bei der Eroberung des Aargaus 1415. Die Feste Baden wurde geschleift, auf der Lenzburg dagegen wechselten die Berner bloss die Wappen aus. Wann waren Sie letztmals dort?
Ziemlich spektakulär, dieses Aufsteigen und Verlöschen: Ulrich I. von Lenzburg, 1036 Graf im Aargau und Kastvogt des Stifts Beromünster, 1037 Reichsvogt von Zürich, 1045 Kastvogt des Klosters Schänis. Ein Kastvogt sorgte für militärischen Schutz, er sprach Recht, überwachte die eingehenden Zehnten und Abgaben, hatte die Oberaufsicht über die Verwaltung. Wen wundert’s, dass Ulrich I. den Beinamen «der Reiche» bekam. Er war eng verflochten mit der Reichspolitik der Könige Konrad II. (990–1039) und Heinrich III. (1016–1056). Ein Sohn Ulrichs wurde Bischof von Lausanne, ein anderer wohl Bischof von Genf. Noch in der letzten Generation erreichten einige Lenzburger herausragende Stellungen. Friedrich I. Barbarossa (1122–1190) belehnte sie mit Grafschaftsrechten in den Tessiner Tälern, um seine Italien- und Passpolitik zu festigen. Wenn das kein Palmarès einer Familie des Hochadels im schweizerischen Raum ist! Sieben Generationen Lenzburger, geraume Zeit in zwei Linien – aber 1173 starb die Familie in beiden Zweigen aus. Einmal mehr die verpönte Frage: Was wäre gewesen, wenn.
Lob der Sachquelle! Ein Wappenschild als Manifestation
Im Zentrum das Reichswappen, der doppelköpfige Adler. Wo immer sich Gelegenheit fand, betonten die Eidgenossen ihre Reichsfreiheit. Man hatte nur den Kaiser über sich, und der war weit weg. Das Wappen wird überhöht von einer mächtigen Reichskrone mit goldenem Kreuzchen. Gehalten wird der Schild von zwei Löwen, die an Stelle eines Herrschers die Reichsinsignien tragen. Der Löwe rechts rückt den Reichsapfel demonstrativ zum Wappenschild. Antike Vorstellungen von der Kugelgestalt der Erde klingen an. Bereits im alten Rom symbolisierte der Globus den Anspruch auf universale Herrschaft. Darauf basierten mittelalterliche Darstellungen von christlichen Herrschern, die den Reichsapfel in der Linken, das Schwert in der Rechten halten. Der Löwe ist sich seiner Aufgabe bewusst: Mund offen, Blick drohend, Ohren gespitzt. Sein Kollege zur Linken scheint gutmütiger, zum Scherzen aufgelegt. Jedenfalls prüft er mit seiner Zunge, ob die Scheide des Schwertes scharf genug sei. Herrschaftnochmal, mit dem Herrschaftssymbol über Leben und Tod, dem rechtlichen Zeichen aller Zeichen, scherzt man nicht! – Das Berner Wappen ist dem Reichswappen nachgeordnet, behauptet sich aber wuchtig mit doppelter Präsenz. Den Abschluss bilden die Inschrift und das Wappen von Landvogt Junker Anthoni von Erlach (1557–1617). Sein Familienwappen folgt an letzter Stelle. In solcher Gesellschaft Letzter zu sein, war allerdings erstklassig.
Exemplarität pur
Nach dem Aussterben der Lenzburger ging ihre Burg vorerst an Kaiser Friedrich Barbarossa. Eher unüblich, betont aber nochmals die Nähe der Lenzburger zum Reich. Was wichtiger ist: Das Lenzburger Erbe kam an die Kyburger, dann an die Habsburger. Nur die Zähringer fehlen in dieser Reihe, sonst wäre die idealtypische Abfolge komplett: Lenzburger (†1173) > Zähringer (†1218) > Kyburger (†1264) > Habsburger > Eidgenossen. Einmal begriffen, immer begriffen: Ein Hochadelsgeschlecht nach dem andern starb aus, vererbte seinen Besitz. Nur die Habsburger sterben nie aus. Ihnen wurde die Lenzburg, wie aller Besitz im Mittelland, von den Eidgenossen im 15. Jahrhundert nach und nach entrissen – nicht ohne dafür entschädigt zu werden. Wie bereits nach Sempach 1386 wollten die eidgenössischen Eroberer rechtlich nichts anbrennen lassen und machten auch den Raub des Aargaus 1415 nachträglich zu einem Kauf.
Baden statt Rütli, 1415 statt 1291?
Die Grablege der Lenzburger, die Stiftskirche in Beromünster, fiel bei der Eroberung des Aargaus 1415 samt Michelsamt an Luzern. Die Lenzburg und der Oberaargau kamen an Bern. Das Freiamt und die Grafschaft Baden, zusammen erobert, wurden zum ersten gemeinsamen Besitz der Eidgenossen und damit zur ersten gemeinsamen Verwaltungsaufgabe. Dieser gemeinsame Nenner, obwohl höchst bedeutsam, reicht dennoch kaum aus, um 1291 durch 1415 zu ersetzen. Aber komplett falsch wäre es nicht.
«Mine Gnädigen Herren»
In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.
Das historische Menu dieser Woche: Schauplatz Eidgenossenschaft – vom «alten Adel» zum «neuen Adel»
Montag:
1415 statt 1291? Ein historischer Kick
Die Eroberung des Aargaus bescherte den Eidgenossen die erste gemeinsame Verwaltungsaufgabe. Seit 1415 rückte man näher zusammen.
Dienstag:
Aufstieg zur Macht, Version «CH»
Geld machte es möglich: Wie Händler, Fährleute und Schneider adelig wurden. Die Diesbach-, Feer- und Pfyffer-Saga.
Mittwoch:
Familienherrschaft, wie funktionierte das?
Ob in Bern, Luzern oder Zürich: Die «Gnädigen Herren» bestimmten, wer in ihren exklusiven Kreis aufgenommen wurde.
Donnerstag:
Adel, Klerus, 3. Stand – alles Mutzen
Das Selbstverständnis der «wohledelfesten» Republik Bern – um 1680 bildhaft vor Augen geführt von der allegorischen Berna.
Freitag:
Versailles und Paris in Solothurn
Die Paläste der Gnädigen Herren zeugen noch heute von einer Zeit, in der man auch hierzulande als Herr oder als Untertan geboren wurde.