Von Fotografen und Coiffeuren
Es gab eine Zeit vor dem Handy, eine Zeit, in der Pressefotografen die Augen einer ganzen Nation waren. Viele ihrer Bilder sind heute in Vergessenheit geraten. So auch die vielschichtigen Fotografien des nationalen Coiffeur-Wettbewerbs von 1946.
Die Coiffeur-Schweizermeisterschaften des Jahres 1946 sollten ein besonderer Anlass werden, schliesslich waren sie die erste nationale Konkurrenz nach dem Krieg. Und was die Lausanner Organisatoren an diesem 7. und 8. April auf die Beine stellten, war wahrhaftig ein lebendiges Programm: Nebst den Wettbewerben gab es Haar- und Modeschauen, Messestände, Filmvorführungen und selbstverständlich eine Festwirtschaft. Gleich an beiden Tagen wurde zum Tanztee inklusive Live-Orchester geladen. Ein besonderer Coup gelang zudem mit der Anwesenheit von Pariser Prominenz: Stolz berichtete die lokale Presse vom weltweit gefeierten Meister-Coiffeur René Rambaud, der diese Titelkämpfe beehrte.
Für die Pressebildagentur «Presse Diffusion Lausanne» waren dies Gründe genug, einen Fotografen auf Reportage zu schicken. Sein Name ist uns heute unbekannt. Weder die Agentur selbst noch die veröffentlichenden Illustrierten benannten damals ihre Bildautoren – das war die weitum gängige Praxis. In der Namenlosigkeit spiegelte sich auch ein Stück weit die angestrebte Arbeitsweise: dem legendären deutschen Bildjournalisten Erich Salomon nacheifernd war es das Ziel der Profis, zur «Fliege an der Wand» zu werden – das Geschehen der Welt zwar von so nah wie möglich, aber dennoch unbemerkt zu dokumentieren.
Unter diesen Umständen überrascht eine Fotografie, die ihren Urheber aus der Anonymität holt – zumindest aus der visuellen. Ein wenig zu weit links positioniert, um sich aus dem Bild zu stehlen, lichtete er sich über den Spiegel selbst mit ab. So erfahren wir, dass unser Bildlieferant dem Anlass entsprechend gekleidet erschien. Und dass er mit einer Rolleiflex arbeitete, einer bei den Pressefotografen dieser Zeit äusserst beliebten zweiäugigen Mittelformatkamera. Ihr Vorteil: Der Blick von oben durch den Lichtschachtsucher wurde von den fotografierten Personen oftmals als weniger bedrohlich empfunden als das direkte Anvisiertwerden durch einen herkömmlichen Sucher.
Angepasstes Äusseres und diskrete Technik waren Strategien, um trotz der physischen Nähe zu den Fotografierten möglichst nicht gestellte Bilder einzufangen. An den Coiffeur-Meisterschaften war diesem Unternehmen selbstverständlich auch die Wettbewerbssituation zuträglich. Der unter Zeitdruck stehende Teilnehmer und sein Modell hatten sichtlich besseres zu tun, als einmal «recht freundlich» zu lächeln.
Die Pressebildagentur ASL
Actualités Suisses Lausanne (ASL) wurde 1954 von Roland Schlaefli gegründet und galt bis zur Schliessung 1999 als wichtigste Westschweizer Pressebildagentur. 1973 übernahm Schlaefli zudem das Archiv der 1937 gegründeten Agentur Presse Diffusion Lausanne (PDL). Die Bestände der beiden Agenturen umfassen ungefähr sechs Millionen Bilder (Negative, Abzüge, Diapositive). Im breiten Themenspektrum lassen sich die Schwerpunkte Bundespolitik, Sport und Westschweiz ausmachen. Den Schritt ins digitale Zeitalter machte die Agentur nicht mehr mit. Seit 2007 befinden sich die Archive von ASL und PDL im Besitz des Schweizerischen Nationalmuseums. Der Blog präsentiert in einer losen Abfolge Bilder und Bildserien, die bei der Aufarbeitung der Bestände besonders aufgefallen sind.
Die fehlende Konzentration auf die Kamera begünstigte die Entstehung einer äusserst vielschichtigen Fotografie. Die Abgebildeten blicken allesamt in unterschiedliche Richtungen. Das führt dazu, dass wir bei der Bildbetrachtung zur steten Wanderung angeregt werden: auf der glatten Spiegeloberfläche rutscht unser Blick vom Fotografen zum Frisurenmodell und von diesem zum Coiffeur – nur um kurz darauf jenseits des Spiegels einen weiteren Teilnehmer und sein Modell in Aktion zu entdecken. Die doppelte Rahmung durch Spiegel- und Bildrand führt dazu, dass alle Personen nur in Teilen erscheinen: sie sind horizontal, vertikal oder gleich doppelt und dreifach angeschnitten.
Dass der Blick auch bei wiederholter Bildbetrachtung nicht zur Ruhe kommt, mag mitunter daran liegen, dass wir uns in dieser zerstückelten Welt selbst vermissen. Denn dort, wo wir uns normalerweise selbst entdecken, sind wir nicht: im Coiffeurspiegel. Dieser lässt uns jeweils Handgriff für Handgriff beobachten, wie sich unser Aussehen verändert. Geht es nach den Veranstaltern des Wettbewerbs von 1946, so sollte solcherlei Transformation stets darauf ausgerichtet sein, die Kundin oder den Kunden trotz aller Mode sich selbst bleiben zu lassen. Ob das auch dann ein Kriterium war, als die Teilnehmer die Frisuren vom Hofe Louis XVI. zu inszenieren hatten, kann hier nicht beantwortet werden. Vielleicht wollte man den Titelaspiranten mit dieser Aufgabe auch einfach nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen führen, wer nach dem weit verbreiteten Motto ihre Königin zu sein habe: die Kundschaft.