Der spätere König als Inkognito-Lehrer in Reichenau: Louis-Philippe zeigt auf den Globus.
Der spätere König als Inkognito-Lehrer in Reichenau: Louis-Philippe zeigt auf den Globus. Schweizerisches Nationalmuseum

Der royale Schürzenjäger

Louis-Philippe (1773–1850), Herzog von Orléans und später König Frankreichs, weilte nach den Wirren der Französischen Revolution in der Schweiz. Er lebte in den Kantonen Zürich, Zug, Aargau und Graubünden – und hinterliess Spuren bis in die Schweizer Gegenwartsliteratur.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

Dies ist die wilde Geschichte des wohl unfähigsten Lehrers aller Zeiten. Er unterrichtete ein Fach, das er nicht beherrschte, und hielt den Unterricht in einer Sprache ab, die keiner der Schüler verstand. Dazu schwängert er die Schulköchin. Dieser Lehrer hiess Louis Chabos und kam am frühen Morgen des 24. Oktober 1793 zu Fuss in Reichenau im Bündnerland an, in der Internatsschule des dortigen Schlosses. Chabos wohnte in einem düsteren Zimmer im Seitenflügel. Beim Abendessen stellte ihn der Internatsleiter den 15 Zöglingen als «Lehrer Chabos» vor. Er trug feine Hemden und edle Halstücher, unterrichtete am Morgen Geometrie und am Nachmittag Arithmetik oder Geografie. Weil er ausschliesslich Französisch sprach, wies ihm die Schulleitung nur gerade einen einzigen Schüler zu. Doch der Lehrer war gar kein Lehrer, und er hiess auch nicht «Louis Chabos», sondern Louis-Philippe und war der Herzog von Orléans. Nach Reichenau war er gekommen, weil er auf der Flucht war. Louis-Philippe hatte 1789 mit der Französischen Revolution sympathisiert, trotz seiner adeligen Herkunft. Der damals 16-Jährige kam derart ins politische Schwärmen, dass er sich den Beinamen «Égalité» gab und der Revolutionsarmee beitrat.
Ein ungestümer Kerl und Liebhaber: Louis-Philippe 1792 in jungen Jahren, gemalt von Léon Cogniet (1834).
Ein ungestümer Kerl und Liebhaber: Louis-Philippe 1792 in jungen Jahren, gemalt von Léon Cogniet. Château de Versailles
Doch Louis-Philippe geriet mitten in die politischen Wirren Frankreichs. Er beteiligte sich als Verschwörer an einem Putsch, doch der Umsturzversuch misslang. Daraufhin musste der ambitionierte junge Mann so schnell als möglich fliehen. Louis-Philippe wählte als Fluchtziel die Schweiz und reiste am 26. April 1793 nach Schaffhausen. Als er mit seiner Schwester Adélaïde d’Orleans und deren Erzieherin Gräfin Stéphanie-Félicité de Genlis am 6. Mai weiter nach Zürich zog, wohnte das Trio im Gasthaus «zum Schwert», an einer der besten Adressen im damaligen Zürich (heute Weinplatz 10). Zu dieser Zeit tummelten sich in Zürich viele Exil-Franzosen. Diese erkannten Louis-Philippe und Adélaïde d’Orleans auf der Strasse. Einer streckte absichtlich seinen spitzigen Sporn in Richtung Herzogin und zerriss damit einen Teil ihres Gazerockes. Zu Tode erschrocken, weil bei einem nächsten Mal nicht nur das Kleid kaputtgehen könnte, planten Louis-Philippe, Adélaïde und die Gräfin sofort ihre Abreise.

Attentat und amtliche Fälschung

Nächste Station ihrer Flucht war das Städtchen Zug, wo sie am 14. Mai 1793 ankamen. Sie bezogen dort das herrschaftliche Haus «Tschuopis» am Abhang des Zugerbergs (später Blumenhof, Zugerbergstrasse 28b). In Zug nahm man die neuen Bewohner zwar wahr, hielt sie jedoch für eine Familie aus Irland. Den adeligen Franzosen sollte es recht sein, sie wurden in Ruhe gelassen. Nur der tatendurstige Louis-Philippe liess es sich nicht nehmen, immer mal wieder im Hotel Ochsen am Kolinplatz zu dinieren oder sich abends etwas zu genehmigen. Doch auch in Zug verkehrten Exilfranzosen. So dauerte es nicht lange, bis Herzog Louis-Philippe erneut von einem Landsmann erkannt wurde.
Der Zufluchtsort Tschuopishof in Zug: heute etwas versteckt an der Zugerbergstrasse gelegen.
Der Zufluchtsort Tschuopishof in Zug: heute etwas versteckt an der Zugerbergstrasse gelegen. Michael van Orsouw
Am 26. Juni, abends um 22 Uhr 15, kam ein faustgrosser Stein durch die Fensterscheibe geflogen. Er traf zum Glück nur den Hut von Herzogin Adélaïde. Ein weiterer Stein zerschmetterte sogar eine Ofenplatte. Am nächsten Morgen entdeckte Louis-Philippe, dass zwei seiner Pferdegeschirre in kleine Stücke zerschnitten worden waren, «eine wahrhaft grässliche Bosheit», kommentierte die Gräfin. Louis-Philippe, Adélaïde und Stéphanie-Félicité de Genlis zogen sofort nach Bremgarten an der Reuss weiter. Der Prinz fand einen Unterschlupf an der Antonigasse 14 während Adélaïde und die Gräfin im Klarissenkloster unterkamen. Doch in Bremgarten wiederholte sich die Geschichte von Zürich und Zug: Herzog Louis-Philippe war seines Lebens nicht sicher. Deshalb floh er nach Reichenau ins Bündnerland, wo er inkognito als «Lehrer» unterkam.
Das Schloss Reichenau in einer kolorierten Druckgrafik von Rudolf Dikenmann.
Das Schloss Reichenau in einer kolorierten Druckgrafik von Rudolf Dikenmann. Schweizerisches Nationalmuseum
Vorher im revolutionären Paris, jetzt im Bündner Dorf ohne wirklich Aufgabe – Louis-Philippe langweilte sich und freundete sich mit der Italienerin Marianne Banzori an, der Internatsköchin. Bald darauf war die Köchin, für alle gut ersichtlich, schwanger. Die Folge war für das Liebespaar gravierend: Marianne Banzori wurde nach Italien ausgewiesen, wo sie in Mailand das Kind zur Welt brachte. Mangels Anwesenheit des Vaters und existenzsicherndem Beruf der Mutter kam das Baby in ein Waisenhaus. Auch Louis-Philippe musste die Lehranstalt verlassen, er zog für neun Monate wieder nach Bremgarten, wo unter dem Decknamen «Adjudant Corby» lebte. Doch erneut flog er auf. Nach den Zwischenfällen in Zürich, Zug, Reichenau und nun auch noch in Bremgarten sah sich Louis-Philippe nach gänzlich neuen Horizonten um. Damit der Adelige unbehelligt reisen konnte, stellte ihm der Zuger Landschreiber Franz Josef Müller einen falschen Pass aus. Weil dem Landschreiber beim Fälschen kein anderer Name einfiel, wählte er seinen eigenen Namen. Louis-Philippe reiste deshalb als «Franz Josef Müller» bis ins finnische Lappland. Dort lebte Louis-Philippe in einem Pfarrhaus und behielt den unverfänglichen Decknamen «Müller» bei. Diesmal ging er eine Liebesbeziehung mit der Haushälterin des Pfarrhauses ein, die prompt schwanger wurde. Noch vor der Niederkunft war Louis-Philippe bereits wieder abgereist.
Louis Philippe als König der Franzosen nach 1830: ein stolzer und mächtiger Herrscher. Gemälde von Franz Xaver Winterhalter, um 1840.
Louis Philippe als König der Franzosen nach 1830: ein stolzer und mächtiger Herrscher. Gemälde von Franz Xaver Winterhalter, um 1840. Château de Versailles

Thronbe­stei­gung und Tabakdose

Für Louis-Philippe blieben seine amourösen Eskapaden ohne Folge. 1830 schaffte er es auf den Thron in Paris, wo er sich nicht «König von Frankreich» nannte wie seine Vorgänger, sondern «König der Franzosen». Dass König Louis-Philippe zeitweilig im Schweizer Asyl gelebt hatte, war seiner Politik nicht anzumerken. Er entliess die eidgenössischen Regimenter unter französischer Flagge, stattdessen gründete er die Fremdenlegion. Ein Entscheid, der die lukrativen Verdienstmöglichkeiten vieler Schweizer Patrizier massiv beschnitt. Auch mischte sich die Regierung des Bürgerkönigs anlässlich der Conseil-Affäre von 1836 in Schweizer Angelegenheiten ein: Dabei ging es um die Auslieferung eines französischen Spitzels, der in der Schweiz Informationen über französische Flüchtlinge gesammelt hatte. Zwei Jahre später verschärfte sich die Situation nochmals. Prinz Louis-Napoléon (der spätere Napoleon III.) hatte seine Jugend im Thurgau verbracht. Jetzt durfte er sich nur zeitlich begrenzt in der Eidgenossenschaft aufhalten, was er nicht akzeptierte. Frankreich drohte mit einem Einmarsch. Sogleich riefen einige Schweizer Kantone die Mobilmachung aus. Erst nachdem Louis-Napoléon freiwillig die Schweiz verliess, beruhigte sich die Lage wieder.
Eine Politik voller schnell platzenden Seifenblasen: So wurde König Louis-Philippe karikiert.
Eine Politik voller schnell platzenden Seifenblasen: So wurde König Louis-Philippe karikiert. Bibliothèque nationale de France
Doch Louis-Philippe hatte seine Jahre in der Schweiz nicht vergessen. Franz Josef Müller, der Zuger Passfälscher, bekam 1836 vom König das «Ehrenlegionskreuz» und eine mit Diamanten verzierte goldene Tabakdose mit dem Bild des Königs, gefüllt mit französischen Goldstücken. Alois Damian Bossard, der Wirt des Hotel Ochsen in Zug, in dem der Bürgerkönig gelegentlich dinierte, bekam ein vornehmes Tafelservice geschenkt, ergänzt um ein feinstes Kaffeeservice aus der königlichen Porzellanfabrik. Der Bürgerkönig beschenkte das Schloss Reichenau, von wo der junge Louis-Philippe nach Bekanntwerden der Schwangerschaft seiner Geliebten verschwinden musste, mit zwei Bildern: Auf dem ersten ist Louis-Philippe als «Lehrer Chabos» vor einem Globus im Schulzimmer zu sehen; auf dem zweiten posierte er, der König, in einer Galauniform.
Das edle Tafelservice: Dieses schenkte der König dem Zuger Ochsenwirt.
Das edle Tafelservice: Dieses schenkte der König dem Zuger Ochsenwirt. Museum Burg Zug
Nachzutragen ist schliesslich noch die weitere Geschichte des Sohnes von Louis-Philippe und Marianne Banzori, der im Waisenhaus in Mailand aufwuchs. Der berühmte Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky fand die Geschichte so berührend, dass er sie weiterdachte – daraus entstand der sehr lesenswerte Roman «Sein Sohn».

Royals zu Besuch – von Sisi bis Queen Elizabeth

13.06.2025 09.11.2025 / Landesmuseum Zürich
Obwohl die Schweiz keine royale Tradition hat, faszinieren die Geschichten der Königshäuser auch hierzulande. Ob Kaiserin, Königin oder Prinzessin: Eines hatten die königlichen Besuche gemeinsam, egal ob sie aus politischen, wirtschaftlichen oder privaten Gründen erfolgten. Sie lösten – damals wie heute – eine immense Begeisterung und Faszination in der Schweizer Bevölkerung aus. Dies zeigt die Ausstellung anhand von zahlreichen Bildern und exklusiven Objekten der Blaublütigen.

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