Das Ehepaar Tschudi bei Tisch – die traditionelle Szenerie steht im starken Gegensatz zu ihren beruflichen Laufbahnen.
Das Ehepaar Tschudi bei Tisch – die traditionelle Szenerie steht im starken Gegensatz zu ihren beruflichen Laufbahnen. e-periodica

Ein ausser­ge­wöhn­lich erfolg­rei­ches Paar

Sie war eine der ersten habilitierten Naturwissenschafterinnen des Landes, er prägte die Sozialpolitik der Schweiz: Irma und Hans Peter Tschudi-Steiner erzielten Spitzenleistungen – und blieben dennoch bescheiden.

Franziska Rogger

Franziska Rogger

Franziska Rogger ist freischaffende Historikerin.

Wäre das Paar im Showgeschäft gestanden, so wäre es eines der glitzerndsten und meist fotografierten der Schweiz gewesen. Irma Tschudi-Steiner als professorale Naturwissenschafterin mit Seltenheitswert, Hans Peter Tschudi als linker Politiker in ungewohnten Höhen. Sie präsentierten sich aber nicht im Scheinwerferlicht. Im Gegenteil. Hans Peter Tschudis Biograf nannte den Bundesrat «schlicht». Seine Aura sei die eines «pflichtbewussten Verantwortungsträgers» gewesen. Selbst sein Humor war trocken. Als er einmal im Zug von Bern nach Zürich zum Fenster hinausschaute und im Limmattal die ersten grossen Hochhäuser und Blockplantagen betrachtete, meinte der überzeugte Basler lakonisch: «Mir hätte das Züri sölle gäge Konstanz ustusche.» (Wir hätten Zürich gegen Konstanz tauschen sollen).
 
Seine Ehefrau Irma Tschudi-Steiner erzählte selbst haarsträubende Ungerechtigkeiten leidenschaftslos und ihren Lebenslauf mit viel Understatement: «Für mich gab es keine Probleme. Es ist mir alles mehr oder weniger in den Schoss gefallen.» Dabei war es nicht nur aussergewöhnlich, dass sie als Frau Naturwissenschaften studierte, sondern auch, dass sie eine wissenschaftliche Karriere verfolgte.
Hans Peter und Irma Tschudi-Steiner, Foto aus dem Jahr 1964.
Hans Peter und Irma Tschudi-Steiner, Foto aus dem Jahr 1964. Siegfried Kuhn © StAAG/RBA11-156_4

Das Studium als zweite Wahl

Irma Steiner erwarb nach dem Besuch des gemischten Gymnasiums in Solothurn das eidgenössische Apothekerdiplom an der Universität Basel. Dort schloss sie 1938 ihr pharmazeutisches Studium mit einer ersten Dissertation ab, der sie 1949 eine medizinische Doktorarbeit folgen liess. 1950 war sie die erste Frau an der naturwissenschaftlichen Fakultät in Basel, die sich habilitierte und fortan als Dozentin für pharmazeutische Spezialgebiete lehrte. Sie selbst hatte «mit keiner Ader an eine Karriere gedacht», wurde aber von ihrem «Doktorvater» und späteren Nobelpreisträger Tadeusz Reichstein gefördert. Ihre Habilitation sei «bäumig durecho».

Doch Irma Tschudi warf sich nicht mit vollem Elan auf die wissenschaftliche Laufbahn – im Gegenteil. Eigentlich wollte sie Pianistin werden. Sie hatte Klavier am Konservatorium studiert, das Klavierdiplom erhalten und war hin und wieder aufgetreten. Da ihr eine musikalische Laufbahn nach Rücksprache mit ihrem Vater aber als sehr unsicher, ja brotlos, erschien und sie sich nicht kümmerlich mit Klavierstunden durchs Leben schlagen wollte, entschied sie sich als Verlegenheitslösung für das wissenschaftliche Studium.
Irma Tschudi bei der Arbeit im Labor.
Irma Tschudi bei der Arbeit im Labor. zVg
Ihre universitäre Laufbahn war also zweite Wahl und stellte sich für sie nach ihrer Heirat als ebenso brotlos heraus: Ihr Ehemann Hans-Peter Tschudi wurde bald nach der Heirat Regierungsrat in Basel und «der Frau eines Regierungsrates, der zahle man doch nichts», wie Irma Tschudi später erzählte. «Vom Moment meiner Heirat an erhielt ich kein Gehalt mehr. Das waren Zeiten. Da behandelte man Frauen als quantité négligeable.» Von nun an hielt sie am pharmazeutischen und pharmakologischen Institut der Universität Basel ihre Vorlesungen über neuere Arzneimittel und Arzneiverordnungslehre ohne Entgelt.

Von Basel nach Bern

Hans Peter Tschudi wuchs in Basel auf und besuchte dort das Gymnasium. Sein Rechtsstudium in Basel und Paris schloss er 1936 mit dem Doktorat ab, später habilitierte er in Arbeits- und Sozialversicherungsrecht. Ebenfalls 1936 trat er der Sozialdemokratischen Partei (SP) bei, womit er den Grundstein für seine politische Karriere legte. Acht Jahre später war er Mitglied des baselstädtischen Grossrats, dann Basler Regierungsrat und 1956 zog er in den Ständerat ein.
 
Als am 17. Dezember 1959 die Gesamterneuerungswahl des Bundesrates mit vier Ersatzwahlen anstand, zirkulierte Hans Peter Tschudis Name nur im Hintergrund. Er selbst unterstützte den offiziell nominierten SP-Parteikollegen Walther Bringolf, der wegen seiner kommunistischen Vergangenheit keine Chance hatte und vor dem dritten Wahlgang auf die Kandidatur verzichtete. Mit Hans Schaffner stand Tschudi nur noch ein Gegner gegenüber, der den Sitz für den Freisinn erobern wollte. Doch Hans Peter Tschudi gewann für die SP und diese Bundesratswahlen endeten erstmals mit der sogenannten Zauberformel: Nun sassen je zwei Mitgliedern der Freisinnig-Demokratischen Partei, der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei (heute Die Mitte), der Sozialdemokratischen Partei und ein Mann der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute Schweizerische Volkspartei) in der Exekutive.
Nach seiner Wahl in den Bundesrat sprach Hans Peter Tschudi am Rednerpult zur Bundesversammlung, 1959.
Nach seiner Wahl in den Bundesrat sprach Hans Peter Tschudi am Rednerpult zur Bundesversammlung, 1959. Schweizerisches Nationalmuseum
Irma Tschudi hatte noch am Abend vor der Bundesratswahl ihren Mann angerufen und gemeint, sie habe das ungute Gefühl, dass er gewählt werden könnte. Er solle sich ein frisches Hemd besorgen. Hans Peter Tschudi kaufte es in der EPA, die neben dem gewerkschaftlichen Volkshaus lag und erschien anderntags im strahlend weissen Hemd. Zum preisgünstigen Kauf meinte er später: «I be äbe emmer e sparsame Bondesrot gsi.» (Ich war eben immer ein sparsamer Bundesrat). Seine Frau feierte seine Wahl, in dem sie sich wieder einmal ans Klavier setzte und eine Mozartsonate spielte.
 
Ihre Umhabilitierung von Basel nach Bern, wo das Paar nun wohnte, war Irma problemlos ermöglicht worden. Der Frau eines Bundesrates «durfte man doch keine Steine in den Weg legen.» Während sie schliesslich als nebenamtliche ausserordentliche Professorin mit nun bezahltem Lehrauftrag in Bern und Basel lehrte, suchte ihr Ehemann im zügigen «Tschudi-Tempo» die Schweiz zu modernisieren. Nachhaltig war sein Einsatz für den sozialen Ausbau der Altersvorsorge mit den Revisionen der AHV, der Einführung von Ergänzungsleistungen und dem Dreisäulenprinzip. Während seiner 14-jährigen Amtszeit engagierte er sich als sozialdemokratischer Konkordanzpolitiker für den Autobahnbau und die Atomkraftwerke. Beides waren Projekte, die damals als progressiv galten. Sie sollten die Schweiz im internationalen Vergleich und als Werkplatz der Arbeitenden vorwärtsbringen.
Hans Peter Tschudi bei der Eröffnung der Autobahn Lausanne-Genf, 1964. Schweizerisches Bundesarchiv
Hans Peter Tschudi war stolz auf seine wissenschaftlich erfolgreiche Ehefrau, die er im Frühjahr 1952 geheiratet hatte: «Gegen Ende meiner Amtszeit im Gewerbe-Inspektorat ist mir das grosse Glück beschieden worden, Irma Steiner, Dr. med. et phil. nat., Privatdozentin und Assistentin am Pharmazeutischen Institut der Universität, kennen zu lernen.» Er schätzte ihr sicheres Urteil in Sach- und Personenfragen. Doch als Vorsteher des Departements des Innern seien ihm vor allem ihre medizinischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse für die Leitung des Eidgenössischen Gesundheitsamtes zugutegekommen.

Irma Tschudi-Steiner war nicht nur beruflich eine aussergewöhnliche Frau. Sie pflegte Zigarren zu rauchen und war eine begeisterte Autofahrerin mit speziellen Sportwagen. Ihr Gatte hingegen, als Vorsteher des Departements des Innern auch zuständig für den Nationalstrassenbau, besass nicht einmal den Führerausweis.

Hans Peter Tschudi gewann grosse Sympathien, als er nach seiner Pensionierung für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB gratis das Buch zum Schweizerischen Arbeiterschutzrecht verfasste. Irma Tschudi stellte sich den Seniorenuniversitäten in Basel und Bern als Dozentin zur Verfügung und behandelte erfolgreich Themata, die den älteren Menschen interessierten.
Das Ehepaar Tschudi im Jahr 1993.
Das Ehepaar Tschudi im Jahr 1993. Dukas
Nach seinem Tod wurde im Basler Stadtteil St. Johann ein Park nach Hans Peter Tschudi benannt. Eine grosse Ehre für den Bundesrat. Seine Frau hingegen stiftete den Irma-Tschudi-Preis, der für die beste pharmazeutische, von einer Frau verfasste Dissertation an der Universität Basel verliehen wird.

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