Während des Zweiten Weltkriegs gehörte das Schreiben von Briefen zum Alltag, wie dieses Bild von 1942 zeigt. Einige wie Marcel Beck schrieben auch Tagebücher.
Während des Zweiten Weltkriegs gehörte das Schreiben von Briefen zum Alltag, wie dieses Bild von 1942 zeigt. Einige wie Marcel Beck schrieben auch Tagebücher. Fotos: Schweizerisches Nationalmuseum, Jakob Tanner

Hammer und Sichel auf dem Gotthard

Im Militär mit Marcel Beck. Das Tagebuch des Mittelalterhistorikers offenbart andere, bisher selten thematisierte Seiten des Aktivdienstes während des Zweiten Weltkriegs.

Jakob Tanner

Jakob Tanner

Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Zwischen 1996 und 2001 war er Mitglied der Bergier-Kommission.

Der Mittelalterhistoriker Marcel Beck war ein streitbarer Mensch, der mit seinen politischen Ansichten auch in seinen Universitätsvorlesungen nicht hinter dem Berg hielt. Jeweils zu Beginn seiner Byzantinistik-Vorlesungen setzte der Professor zu rhetorischen Rundumschlägen über «Bundesbern» und die Weltpolitik an. «Becks tönende Wochenschau» wurden diese an der Universität genannt.
1908 in Bogotà geboren, studierte Beck ab 1926 Geschichte, Kirchengeschichte und klassische Philologie in Genf, Zürich und München. Nach seiner Promotion arbeitete er bis 1935 in Berlin am Institut der MGH (Monumenta Germaniae Historica), dem deutschen Grossprojekt zur Edition von Mittelalterquellen, und wechselte dann für zwei weitere Jahre als akademischer Mitarbeiter nach Freiburg im Breisgau. Er durchlebte also die nationalsozialistische Machtübernahme und die gewaltsame Durchsetzung der Diktatur vor Ort. 1937 kehrte er in die Schweiz zurück und wurde Mitarbeiter an der Landesbibliothek in Bern.
Beck erhielt 1947 eine Professur an der Universität Zürich. Während des Kalten Krieges profilierte er sich als pointierter Kritiker schweizerischer Geschichtsmythen und der Neutralität. Als Mitglied der Demokratischen Partei sass er zwischen 1955 und 1963 im Zürcher Kantonsrat. 1965 gelang ihm der Sprung in den Nationalrat. Inzwischen fraktionslos geworden, verpasste er 1967 die Wiederwahl. 1978 wurde er als Professor emeritiert und starb schliesslich 1986 in Winterthur.
Marcel Beck hält 1965 eine Rede im Nationalratssaal.
Marcel Beck hält 1965 eine Rede im Nationalratssaal. Dukas/RDB

Marcel Becks Tagebuch

Seite aus dem Kriegstagebuch von Marcel Beck.
1974 und 1976 veröffentlichte Marcel Beck im Badener Tagblatt einige kurze Ausschnitte aus einem Tagebuch, das er während des Zweiten Weltkrieges geführt hat und das danach als verschollen galt. Vor einigen Jahren gelangte es aus einem Privatbesitz zu Jakob Tanner. Das Tagebuch umfasst insgesamt 9 Hefte mit über 1100 dicht beschriebenen Seiten.

Dieses Tagebuch, das hier erstmals vorgestellt wird, unterscheidet sich mit seinen dichten Beschreibungen und unzensurierten Beobachtungen von den zahlreich vorhandenen Truppentagebüchern und trägt auch nicht «die Schminke nachträglicher Memoiren», wie es Beck 1976 ausdrückte. Es bietet einen faszinierenden Einblick in die Erlebniswelt eines nonkonformistischen Milizsoldaten, der stets darum bemüht war, Vorgänge im Lokalen (im «Mikrokosmos») im weiteren Deutungshorizonte der Weltpolitik (dem «Makrokosmos») zu verstehen.

Der erste Blogartikel berichtet von Becks Militäralltag und seiner Wahrnehmung des dramatischen ersten Kriegsjahres. Der zweite Teil handelt von der Zeit nach Becks erster Entlassung aus dem Aktivdienst Ende 1940 und fokussiert sich auf die politischen Zukunftsprojekte, in welche er involviert war.

Erinne­run­gen an den Aktivdienst

Am 2. September 1939 rückt der inzwischen 31-jährige Korporal Marcel Beck als Motorfahrer der Batterie 112 in den Militärdienst ein. «Alle gefasst, denn der Krieg wäre nur durch ein Wunder zu vermeiden gewesen», heisst es im ersten Tagebucheintrag. Zur Stimmung während der Generalmobilmachung der Schweizer Armee wird festgehalten: «Sehr wenig Tränen, aber auch kein Gejohle. Mit einigem Stolz kann man sagen, dass unser Volk wirklich reif ist.» Die «ganze Gemeinheit der deutschen politischen Führung» liege dermassen offen zutage, dass man «eine Lust zum Kämpfen» spüre, «bei aller Friedensliebe»: «Gott möge uns vor diesem Moloch im Norden schützen.» Beck hegt von Anfang an markante Sympathien für die Alliierten und vertraut vor allem auf das Durchhaltevermögen und die militärische Schlagkraft der Briten; mehrmals spricht er von seinem «Glauben an England».
Filmaufnahmen der Generalmobilmachung von 1939. SRF
Die Tagebuchberichterstattung oszilliert zwischen dem Alltag in der Armee und dem Kriegsverlauf rund um den Globus. Über diesen ist der Verfasser erstaunlich gut informiert und beurteilt den Dienstbetrieb von einer höheren Warte aus. Zunächst berichtet er von Überraschungen. Um ein drängendes Problem zu lösen, erfindet er eine «Batterie-Latrine» mit Armlehnen, die sich sofort grosser Beliebtheit erfreut. Er beklagt das Nichtvorhandensein «vernünftiger Waffen» bei der Truppe und hofft Ende September 1939, «Westeuropa werde standhalten und sich durch grausige Gebärden nicht einschüchtern lassen». Dies trotz der Tatsache, dass viele militärische Vorgesetzte ihrer Rolle nicht gewachsen seien, weswegen «in der Mannschaft Zorn und Erbitterung emporsteigen». Während des langen Winters 1939 und Frühling 1940 häufen sich die Klagen über das Verhalten von Offizieren, über dienstlichen Leerlauf und «tödliche Langeweile».

Kleiner Disput über Willhelm Tell

Anfangs Mai 1940 findet sich ein Eintrag über eine Diskussion um Wilhelm Tell. Ein Korporal erklärte, das «sei alles Sage». «Er sagte ‹eine Sage› auf Hochdeutsch mitten in seinem Bärndeutsch, um der ‹Wissenschaftlichkeit› seiner Ausführungen mehr Gewicht zu verschaffen. Tell habe es nie gegeben. Blödes Zeug, (…) mit dem Tell stünde es nicht besser als mit Schneewittchen». Ein Wachtmeister brach daraufhin «eine Lanze für Tell», es seien «doch die Tellsplatte und die Tellskapelle heute noch mit Augen zu sehen» und «in den alten Schriften stünde es auch». Beck unterstützte ihn und erklärte, es sei «ein gesunder Schlag, der so spricht, und durch die rationalistischen Methoden sozialistischer Lehrer noch nicht verdorben ist». Denn «abgesehen davon, dass unsere Väter nicht allein mit Diplomatie die Befreiung von Habsburg durchsetzten, ist es sicher, dass die Tellsage durch ihren mannhaften Gehalt so viel mehr für den Aufbau der Schweiz getan hat, dass sie einfach nicht zerstört werden darf». Tell sei «als Symbol schweizerischer Kraft (…) eine Realität» und es habe «sogar viele Tellen gegeben. Darum Ehre, wem Ehre gebührt.»
Im Streitgespräch mit seinen Dienstkameraden brach Marcel Beck eine Lanze für Willhelm Tell. Druckgrafik aus dem 19. Jahrhundert.
Im Streitgespräch mit seinen Dienstkameraden brach Marcel Beck eine Lanze für Willhelm Tell. Druckgrafik aus dem 19. Jahrhundert. Schweizerisches Nationalmuseum
Als am 10. Mai 1940 mit dem deutschen Blitzkrieg gegen Westen eine neue Phase des Krieges beginnt, beobachtet Korporal Beck, dass die zweite Generalmobilmachung vom 11. Mai 1940 mit grosser «Gleichgültigkeit (…) aufgenommen» worden sei: «Es ist Selbstschutz. Man hat sich gewöhnt, Alarmnachrichten zu ertragen. Und was die Gefahren eines Krieges betrifft, so hat wohl jeder Schweizer die Rechnung mit sich selbst und seinen Angehörigen zu Hause beglichen». Beck schreibt gegen Defätismus an, für ihn ist klar, «wie schrecklich ein deutscher Sieg wäre», es sei besser, vom Krieg verschlungen zu werden «als in die Sklaverei des III. Reiches zu fallen».
Trotz dieser Beschwörung von «Kampfgeist» und «Widerstandswillen» spricht Beck von einer «bitteren Notwendigkeit der Anpassung an die Achsenmächte in wirtschaftlicher Hinsicht». Es gelte jedoch zu verhindern, dass diese in eine «Versklavung in geistiger Hinsicht» umschlägt. Dass es innerhalb der Truppe auch Freude über «Deutschlands Hegemonie in Europa» gibt, registriert er mit Widerwillen: Über Hugo Erb, den späteren Autohändler, hält er fest: «Leutnant Erb ist begeistert. Er lacht mit seinen 20 Jahren über das ganze Gesicht. (…)  Erb denkt eben ganz geschäftlich und sieht nur den väterlichen Autohandel. Und Deutschland ist heute das gesegnete Land der Motorisierung.»
Postkarte der Reichsautobahn Dresden West.
Für den Autohandel waren die Reichsautobahnen, im Bild jene von Dresden, ein Versprechen für einen steigenden Umsatz. Wikimedia
Innenpolitisch wird Beck vom Gedanken einer Erneuerung umgetrieben. Am 30. Mai 1940, als sich die Niederlage Frankreichs abzeichnet, notiert er: «Immer mehr scheint mir, als seien bald die Voraussetzungen zu einer Erschütterung der sozialen Grundfesten Europas vorhanden». Er berichtet über ein Gespräch mit seiner Frau während eines kurzen Urlaubs: Sie seien sich beide «im Klaren: sollte bei uns eine Revolution von unten kommen, die nicht von einem bestimmten Land angezettelt worden, sondern vielmehr Kraft der allgemeinen europäischen Entwicklung ausgelöst worden wäre, wir wüssten schon jetzt, wo wir stünden», denn «hier drängen mächtige Kräfte nach einer Entladung». Beck fasst seine Überzeugung so zusammen: «Hitler, der das Böse verkörpert, wird nicht siegen, aber die Weltrevolution wird an uns herantreten».
Der auf die Einschliessung der Schweiz durch die Achsenmächte folgende Rückzug in die Alpen vollzieht sich unspektakulär. Schon drei Tage vor dem «Rütlirapport» General Guisans, den Beck im Tagebuch nicht zur Kenntnis nimmt, disloziert die Batterie am 22. Juli 1940 aus dem aargauischen Freiamt nach Hospenthal im Kanton Uri. «Wir gehören also zu den Gotthardtruppen, die so etwas wie eine besondere Stellung innerhalb der schweizerischen Armee einnehmen. Mich erfüllt so etwas wie Stolz, inmitten einer erhabenen Bergwelt dem Vaterland dienen zu dürfen.» Beck erkennt den Grund für den Rückzug in eine «Igelstellung» in der «neuen Strategie, zu der der Generalstab gezwungen ist, seit wir quasi von allen Seiten denselben Gegner zu fürchten haben.» Immer wieder kontrastiert er die «granitene Majestät des Gotthard» mit dem «kümmerlichen Verdienst des Tales». Die Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung stellt eine willkommene Abwechslung dar. So werden am 31. Juli «sechzehn Mann (…) zum Heuet nach Realp kommandiert. Alle waren am Abend der Überzeugung, einen ihrer schönsten Diensttage erlebt zu haben.» 
Die Festung Bäzberg war Teil des Réduits. Im Hintergrund ist Hospenthal zu erkennen.
Die Festung Bäzberg war Teil des Réduits. Im Hintergrund ist Hospenthal zu erkennen. e-periodica
Der militärische Alltag bleibt ernüchternd. Neben dem täglichen Drill – genannt «Ölbohren» – baut die Truppe eine hoch gelegene Strasse. Im Tagebuch wird plastisch das Miteinander von übermässigem Alkoholtrinken und mangelnder Hygiene beschrieben: Die «Symbolik des Kotzens» vereint sich mit der «Liebe zum Schmutz». Für Beck ist das kein Grund zur Aufregung. Doch er sieht Verbesserungspotenzial. Immer wieder kommt er auf seine massgebliche Mitarbeit bei der zwischen Herbst 1940 und Juli 1943 mit 17 Nummern erscheinenden Batterie-Zeitung Die Standarte zu sprechen, welche sich der Hebung der Truppenmoral verpflichtet sieht.
Die Batteriezeitung Die Standarte hob mit kecken Texten und einem frechen Layout die Moral der Truppe.
Die Batteriezeitung Die Standarte hob mit kecken Texten und einem frechen Layout die Moral der Truppe. Schweizerische Nationalbibliothek, allgemeine Sammlung
Blickt Beck auf das Kriegsgeschehen, so rumort es allerdings in ihm. In der Beschiessung englischer Bombergeschwader auf ihrem Weg nach Oberitalien durch die Schweizer Flaktruppen sieht er eine «Neutralitätscalamität». Da sei die Neutralität «keine Idee und nur Erbärmlichkeit». Beck stellt mit Sorge fest, dass viele England bereits aufgegeben haben und wertet dies als «Besessenheit für die Achsenmächte», die «eben nicht heilbar» sei. Er spricht von den «achsenfreundlichen Kreisen unserer Regierung – und wer ist das nicht!». Für diese «feigen und verlogenen Neutralitätskröten» diene das «Sirenengeheul» nur dazu, «die Wut gegen die ohnedies unpopulären Engländer zu steigern». Angesichts dieser Situation bestehe «bei der Zivilbevölkerung durchaus der Eindruck, das Militär sei jetzt überflüssig. (…) Der Sinn, dass der Soldat eben selbstlos für die Allgemeinheit einsteht, ist im Schwinden begriffen.» Eine Aufklärung durch den Armeestab fehle, so dass Vermutungen ins Kraut schössen: «So etwa wie jener Arbeiter meinte, dass die Stacheldrahtverhaue vor der Nationalbank gar nicht gegen die Schwaben, sondern gegen die Arbeiterschaft gerichtet seien.»
So steht Becks Sinn auf Provokation. Am 9. Oktober 1940 bekommt er den Befehl, mit einer kleinen Gruppe auf der neu gebauten Strasse die Kilometersteine einsetzen. «Aus Jux (…) meisselten und strichen wir Hammer + Sichel auf einen Stein. Wir freuten uns auf den Sturm im Wasserglas.» Ins Kantonnement zurückgekehrt, wird Beck allerdings von Zweifeln beschlichen; ein Wachtmeister, beruflich Polizist, erklärt ihm, man könne ihn deswegen «vor Divisionsgericht ziehen». So ergreift er das Gesetz des Handelns: «Morgen eile ich voraus, um das verhängnisvolle Emblem mit einem Hammer zu tilgen, bevor eines andern Menschen Antlitz es entdeckt.» Dies gelang nur halb – die Sache sollte ein Nachspiel haben!
Im November 1940 wird Marcel Beck demobilisiert. «Ein volles Jahr warteten wir auf diesen Tag.» Er nimmt «Abschied aus dem Bergtal» im Bewusstsein, «dass unsere Truppe nicht als demoralisierte Einheit entlassen wird, sondern in bester Verfassung. Fast besser als vor einem Jahr.» Dank der weiter publizierten Batteriezeitung Die Standarte höre das «Leben der Einheit» nicht auf und er fange jetzt «voll Vertrauen (…) mein ‹Kriegstagebuch im Urlaub› an».
Die Réduit-Strategie der Schweiz betraf Marcel Beck ganz direkt. Er gehörte zu den Gotthardtruppen und war in Hospenthal (UR) stationiert. Ausschnitt aus Adolf Forters Film «Wehrhaft und frei» von 1948. Historic Admin

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