Marcel Becks berufliche Heimat war die Landesbibliothek in Bern. Hier dachte und wirkte er während der Kriegsjahre.
Marcel Becks berufliche Heimat war die Landesbibliothek in Bern. Hier dachte und wirkte er während der Kriegsjahre. Fotos: e-pics, Jakob Tanner

Kriegs­wen­de und Reformgedanken

Schon 1940 plädierte Marcel Beck für eine innere Reform. 1942 spielen Diskussionen um einen demokratischen Umbau der Schweiz eine zentrale Rolle in seinem Tagebuch.

Jakob Tanner

Jakob Tanner

Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Zwischen 1996 und 2001 war er Mitglied der Bergier-Kommission.

Am 14. November 1940 beginnt Marcel Beck sein «4. Tagebuch des hoffentlich langen Urlaubs». Zurück an seinem Arbeitsplatz in der Landesbibliothek in Bern behält er dank umfangreicher Zeitungslektüre und vielen Kontakten einen beeindruckenden Überblick über das Kriegsgeschehen. Er stellt Überlegungen zu den strategischen Potenzialen der rivalisierenden Mächtegruppen an. England mit dem «grossen Mann Churchill» bleibt sein Leitstern, bereits gegen Ende 1940 notiert er jedoch, «dass das europäische Heil von Russland kommen kann». Am 6. Mai 1941 hält er fest, «die Theorie, dass ein Angriff auf Russland» bevorstehe, lasse sich «nicht von der Hand weisen». Nach dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion (Beck spricht durchwegs von Russland) im Sommer 1941 verfolgt er gebannt den zunehmend erfolgreichen Widerstand der Roten Armee gegen die deutschen Invasionstruppen. In den Räumen der Landesbibliothek richtet er ein «Fries der Siegesnachrichten» ein, in dem das Vorrücken der Alliierten zeremoniell dokumentiert wird.

Marcel Becks Tagebuch

Seite aus dem Kriegstagebuch von Marcel Beck.
1974 und 1976 veröffentlichte Marcel Beck im Badener Tagblatt einige kurze Ausschnitte aus einem Tagebuch, das er während des Zweiten Weltkrieges geführt hat und das danach als verschollen galt. Vor einigen Jahren gelangte es aus einem Privatbesitz zu Jakob Tanner. Das Tagebuch umfasst insgesamt 9 Hefte mit über 1100 dicht beschriebenen Seiten.

Dieses Tagebuch, das hier erstmals vorgestellt wird, unterscheidet sich mit seinen dichten Beschreibungen und unzensurierten Beobachtungen von den zahlreich vorhandenen Truppentagebüchern und trägt auch nicht «die Schminke nachträglicher Memoiren», wie es Beck 1976 ausdrückte. Es bietet einen faszinierenden Einblick in die Erlebniswelt eines nonkonformistischen Milizsoldaten, der stets darum bemüht war, Vorgänge im Lokalen (im «Mikrokosmos») im weiteren Deutungshorizonte der Weltpolitik (dem «Makrokosmos») zu verstehen.

Der erste Blogartikel berichtete von Becks Militäralltag und seiner Wahrnehmung des dramatischen ersten Kriegsjahres. Dieser zweite Teil handelt von der Zeit nach Becks erster Entlassung aus dem Aktivdienst Ende 1940 und fokussiert sich auf die politischen Zukunftsprojekte, in welche er involviert war.
Am 1. Augst 1941 veröffentlicht Beck in der Batteriezeitschrift Standarte unter dem Titel «Der Sünder wider das Kreuz» eine Reminiszenz an die «Sichel und Hammer»-Episode. Die Fakten stilisierend verlegt er sie auf den 2. August 1940 und begründet die Tat von «Bekitsch» (wie er sich im Artikel nennt) mit dem «Katzenjammer des verrauschten Nationalfests». Es kommt nun heraus, dass auf dem «grossen Felsblock» nicht nur die Symbolzeichen des Kommunismus, sondern auch ein Schweizer- und ein «Hackenkreuz» (sic!) aufgemalt war. Da «Bekitsch» beim Entfernen der Malerei von anderen Soldaten beobachtet und die Armeespitze über den Vorfall in Kenntnis gesetzt worden ist, beginnt eine Ermittlung wegen «kommunistischer Umtriebe». Am 11. August 1941 wird Beck zu einem eintägigen Aktivdienst ins Hauptquartier der 6. Division nach Brunnen aufgeboten und dort vom Oberstkorpskommandanten Herbert Constam persönlich in die Mangel genommen. Die Argumente des «auflüpfigen Korporal» überzeugen. Im Tagebuch hält er fest, Constam finde «die ganze Sache wirklich lächerlich» und sei überdies mit ihm der Meinung, «dass wir an der berechnenden schweizerischen Wirtschaftsgesinnung zugrunde gehen können». Der Vorfall ist damit «erledigt». Rückblickend sollte Beck vom «eindrücklichsten Erlebnis aus der Kriegszeit» sprechen.

Wo ist der Geist, der die Schweiz rettet?

In dieser Phase positioniert sich Marcel Beck innenpolitisch stärker nach links. Schon ein Jahr zuvor, im Sommer 1940, sinniert er etwas diffus über eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft: «Ich hoffe in der Schweiz werden die Mächtigen, deren Position nicht auf Geist, sondern auf Geld beruht, freiwillig nachgeben, damit sie nicht notwendigerweise der Gewalt anheimfallen, was für das Land katastrophal wäre.» Sollte die erwartete Umwälzung aus dem Ruder laufen, so «ist mir klar, wo ich in einem solchen Fall stehen muss: sicher dort, wo das Leben sich regeneriert». Trotz dieser konservativen Tendenz kann er mit der «K.-K. Partei», den Katholisch-Konservativen, nichts anfangen. «Das schweizerische Kulturministerium mit Herrn Etter an der Spitze ist ganz in Händen der Papisten. (…) Wo ist aber der Geist, der die Schweiz retten soll. Er ist nicht da», klagt er am 13. August 1940. Er spricht vom «Volk der Schweiz, das so klug ist»: «Selbst im hinterwäldlerischen Urserntal, wo die Bauern unbändig nach einer Verbesserung ihres Loses trachten», würden die Leute «nicht mehr gläubig hinter ihren K.-K. Führern her trotten». Beck konstatiert generell eine «Kluft, die nichts mehr mit wahrer Demokratie gemein hat».
Bundesrat Philipp Etter bei einer Ansprache.
Von Bundesrat Philipp Etter hält Marcel Beck nicht viel. Schweizerisches Nationalmuseum/ASL
In solchen Aussagen ist der Übergang vom Tell-Verteidiger zum späteren Mythenkritiker angelegt. Im Vorfeld der 650-Jahr-Feier des Bundes vom 1. August 1941 distanziert sich Beck sich von «Herrn Etter und seinen Helfershelfern», die «natürlich aus der Schweiz so eine Art permanente Landesausstellung machen wollen». Er öffnet sich nach links. Gegen Ende des Jahres erwähnt er zum ersten Mal den antifaschistisch engagierten Schriftsteller und Etruskerforscher Hans Mühlestein. Eine gemeinsame ideelle Wellenlänge lässt sich darin erkennen, dass Beck im Frühjahr 1941 Verständnis für die Bestrebungen der Arbeiterbewegung erkennen lässt. Ende März notiert er, es werde «furchtbar (…) gewettert gegen die Erweiterung des Bundesrates und gegen den Eintritt von zwei sozialistischen Bundesräten». Ein solcher Schritt werde «mit der Volksfront verglichen» und mit dem Argument untermauert, «wenn Sozis die Schweiz regiert hätten (…), dann wäre unsere Freiheit jetzt dahin, weil sie gegen das Militär waren». Dagegen konstatiert Beck: «Wo ist die vielgepriesene Einheit? Wo ist das Verständnis für alle Mängel, die schliesslich die sozialistische Bewegung heraufbeschworen haben? Eine Bewegung, die übrigens berechtigt ist!».
Hans Mühlestein wurde von Zeitgenossen auch als «Arbeiterdichter» bezeichnet. Artikel aus der Schweizerischen Metallarbeiter Zeitung vom 11. Februar 1939.
Hans Mühlestein wurde von Zeitgenossen auch als «Arbeiterdichter» bezeichnet. Artikel aus der Schweizerischen Metallarbeiter Zeitung vom 11. Februar 1939. e-newspaperarchives
Der Reformgedanke liegt damals in der Luft. Beck konkretisiert ihn in der Zusammenarbeit mit Mühlestein. Ende Mai 1942 kommt es zu einem «dramatischen Gespräch» in der Landesbibliothek in Bern. Beide unterstützen eine Gruppe «Neue Demokratie», welche sich gegen die reaktionäre Politik des Bundesrates richtet und eine innenpolitische Reform in Gang setzen will. Beck situiert die Initiative im «Makrokosmos»: Mühlestein habe «Verbindungen zu Moskau, das ist der springende Punkt. Und niemand zweifelt mehr daran, dass die Russen die eigentlichen Retter Europas vor der letzten, krankhaft übersteigerten Form des imperialistischen Nationalismus, dem Nationalsozialismus, sein werden».
Erleichtert werden diese Treffen dadurch, dass Mühlestein gerade den Druck seines ungemein populär werdenden Buches «Der grosse schweizerische Bauernkrieg» vorbereitet, in dem er Partei nimmt für die die Mitte des 17. Jahrhunderts aufbegehrenden Bauern der Alten Eidgenossenschaft: «Wir legten Abbildungen für Mühlesteins Werk über den Bauernkrieg vor uns auf den Tisch und sprachen uns gründlich über Russland aus. Die Abbildungen dienten zur harmlosen Ablenkungen für den Fall, dass Leute ins Büro kommen. Dreimal erschien der Alte [Leiter der Landesbibliothek], und wir plauderten gemächlich über die Ikonographie Leuenbergers», notiert Beck am 11. Juni 1942.
Beck und Mühlestein diskutierten oft über die aktuellen politischen Ereignisse. Als Tarnung dieses nicht ungefährlichen Meinungsaustausches diente die Illustration von Mühlesteins Buch «Der grosse schweizerische Bauernkrieg 1653».
Beck und Mühlestein diskutierten oft über die aktuellen politischen Ereignisse. Als Tarnung dieses nicht ungefährlichen Meinungsaustausches diente die Illustration von Mühlesteins Buch «Der grosse schweizerische Bauernkrieg 1653». Foto: Jakob Tanner
Mitte Juli bringt Mühlestein den Typografen Karl Hofmaier zu einem Mittagessen ins Restaurant du Théâtre mit. Hofmaier war vor dem Verbot der Kommunistischen Partei 1940 deren Parteisekretär. In diesem «Kommunistenerlebnis», wie es Beck ein paar Tage später beschreibt, kristallisiert sich der Vorschlag heraus, er solle als bodenständige Bibliothekar ein grosses Manifest an die Schweizer Bevölkerung verfassen. Beck willigt ein, will aber «auf Agitation verzichten». Er ist überzeugt, dass der «Weiterbau der europäischen Gesellschaft» ein dringendes Anliegen ist, glaubt jedoch, dass man diese Reformen «mit dem reinen, z.T. längst nicht mehr auf der Realität basierenden Marxismus (…) nicht bewerkstelligen könne». Beck vermutet, dass er von Mühlestein und Hofmaier deshalb zum Schreiben aufgefordert wird, «weil sie als eingefleischte Marxisten allzu sehr in ihrer Ideologie steckten und kaum aus der schablonenhaften Sprache herauskämen». So schreibt er denn in seinem Tagebuch einen von ideellem Elan getragenen Entwurf nieder, der um die Verteidigung der Freiheit kreist: «Not tut es, frei und mutig zu verkünden, was Freiheit ist. Frei leben, heisst in Wahrheit leben. (…) Freiheit ist der Kampf gegen Macht und Gewalt.»
Mit Karl Hofmaier hatte Marcel Beck «das Heu nicht auf der gleichen Bühne». Das Bild wurde 1945 gemacht.
Mit Karl Hofmaier hatte Marcel Beck «das Heu nicht auf der gleichen Bühne». Das Bild wurde 1945 gemacht. Schweizerisches Sozialarchiv, F 5149-Fa-005
Mit dieser Freiheitsemphase können seine Auftraggeber offensichtlich wenig anfangen. Als Ende 1942 ein aus anderer Feder stammender «Aufruf für die unterdrückten Völker Europas» vorliegt, kann sich Beck damit nicht identifizieren. Er schert aus jenem Reformaufbruch aus, der Ende 1944 zur Gründung der «Partei der Arbeit» führen wird.

Becks letztes Tagebuch

Im neunten und letzten Heft, das als «Tagebuch der grossen Wende» übertitelt ist, hält Beck einleitend fest, das Überleben Englands sei gesichert. «Seither bin ich ruhig.». So dominiert nun die professionelle Routine in der Berner Landesbibliothek. Im letzten Eintrag vom 17. Januar 1943 schreibt Beck, der Krieg nehme «den Verlauf, der unsere Bemühungen um eine Sammlung amerikanischer Bücher durchaus rechtfertigt» und so werde der Katalog der grosszügig durch die USA finanzierten «Americana», der kurz zuvor noch als «staatsgefährlich» eingestuft worden sei, nun doch publiziert. Im Bericht des von Philipp Etter geführten Departements des Innern darf er jedoch nicht Erwähnung finden – aus Neutralitätsgründen.
Trotz ätzender Kritik und impulsivem Aufbegehren ist Marcel Becks Tagebuch durch Verdrängungsleistungen geprägt. Und es gibt symptomatische Leerstellen. Mit Blick auf den «Mikrokosmos» schreibt er häufig von seiner Familie und regt auch eine «Frauennummer» der Standarte an, welche vor allem «die Freude über die Heimkehr der Männer» zum Ausdruck bringt. Doch die Rolle der Frauen während der Jahre des Aktivdienstes der Männer wird nur ganz randständig thematisiert. Von den Truppenübungen mit chemischen Granaten, welche ab Sommer 1940 durchgeführt wurden und praktisch den ganzen Viehbestand des Kantons Uri vernichteten, findet sich kein Wort. Im «Makrokosmos» des Kriegsgeschehens ist von der Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung der europäischen Juden nicht die Rede. Beck berichtet über persönliche Kontakte zu Juden; die schweizerische Flüchtlingspolitik kommentiert er nicht. Auch für koloniale Gewalt hat er kein Sensorium. Im schwungvollen sprachlichen Ausdruck entgleitet er sprachlich des Öfteren ins Rassistische, regelmässig bei der Beschreibung asiatischer und afrikanischer Akteure.
Der Zweite Weltkrieg wurde in der Schweiz als «Männersache» wahrgenommen. Gedrucktes Erinnerungsblatt an die Kriegsmobilmachung.
Der Zweite Weltkrieg wurde in der Schweiz als «Männersache» wahrgenommen. Gedrucktes Erinnerungsblatt an die Kriegsmobilmachung. Schweizerisches Nationalmuseum
Diese Blickverengung und dieses Ausblenden zentraler Fragen zeigen sich besonders deutlich, als sich Ende 1942 überraschend der Mediävist Theodor Mayer zum Besuch in Bern anmeldet. Bei ihm hatte Beck gearbeitet, bevor er sich von ihm «vor über 5 Jahren in Freiburg unter schweren Explosionen getrennt hatte». Als überzeugter Nationalsozialist war Mayer inzwischen führend beim «Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften» tätig und präsidierte das angesehene «Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde», in welchem die MGH aufgegangen war. Die beiden begegnen sich wohltemperiert. «Von Politik sprach er gar nicht, und auch wir mieden das Thema. Und nun, nachdem alte Streitigkeiten begraben sind, fand man den menschlichen Kontakt sofort wieder.» Und weiter: «Er ist aber ein lieber Mensch und auch ein heller Kopf, dem ich gar viel verdanke.» Mitten im Krieg hat Beck – im festen Glauben an den Sieg der Alliierten – vor allem die Zukunft der deutschen Mediävistik und die Wiederauferstehung der MGH im Kopf. Der Eintrag endet mit der Bemerkung: «Dann versicherte ich ihm wie sehr es mich freue, dass er mich besucht habe. Denn ich habe es mir vorgenommen, nach dem Krieg in Berlin die Versöhnung zu suchen.»
Marcel Beck, hier auf eine Bild von 1965, hegte bereits früh die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Zweiten Weltkriegs.
Marcel Beck, hier auf eine Bild von 1965, hegte bereits früh die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Zweiten Weltkriegs. Dukas/RDB
«Mögen wir frei bleiben in unseren wunderbaren Bergen.» Diesen Spruch trägt Marcel Beck anfangs Oktober 1940 nach dem Aufstieg zum Pizzo Rotondo ins Hüttenbuch ein. Er ist sich sehr früh darüber im Klaren, dass die Freiheit der Schweiz vom Sieg der Alliierten abhängt. Sein unerschütterlicher Glaube daran äussert sich im zuversichtlichen Grundtenor, der das ganze Tagebuch durchzieht. Die wiederkehrende Beschwörung des «Gotthard, Herz der Schweiz» befestigt das Vertrauen in das Überleben und die Reform der schweizerischen Demokratie und trägt zur beruhigenden Naturalisierung dieses Glaubens bei. Im Januar 1943 ist der Ausgang des Krieges für Marcel Beck entschieden; in der Weiterführung eines Tagebuches sieht er keinen Sinn mehr.
Anfang 1943 schien für Marcel Beck der Krieg entschieden und er beendete seine Tagebucheinträge.
Anfang 1943 schien für Marcel Beck der Krieg entschieden und er beendete seine Tagebucheinträge. Foto: Jakob Tanner

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