Philipp Etter, porträtiert von Ernst Emil Schlatter, Druckgrafik, 1943.
Philipp Etter, porträtiert von Ernst Emil Schlatter, Druckgrafik, 1943. Schweizerisches Nationalmuseum

Der erste Schweizer Kulturpolitiker

Bundesrat Philipp Etter war während 25 Jahren im Amt. Der Aufbau der schweizerischen Kulturpolitik ab den 1930er-Jahren war eine seiner grössten Herausforderungen.

Thomas Zaugg

Thomas Zaugg

Thomas Zaugg ist Historiker und hat eine Biografie über Philipp Etter verfasst.

Paul Senn fotografierte 1941 einige Mitglieder der Eidgenössischen Kunstkommission in der Wandelhalle in Bern. Auf dem Gruppenbild erkennt man bekannte Gesichter wie den Maler Augusto Giacometti (Dritter von rechts). Doch sassen auch heute mehr oder weniger unbekannte Persönlichkeiten in diesem Gremium: etwa der Genfer Plastiker Luc Jaggi mit Béret, der Winterthurer Architekt des Neuen Bauens Fritz Metzger oder die Kunstmalerin Susanne Schwob. Senns Fotografie fasziniert, weil sie für die oft vergessenen leiseren Töne in der Geschichte der Schweizer Kulturpolitik steht. Das Bild weist zurück in die Anfangsjahre, als 1939 die Kulturinstitution Pro Helvetia gegründet wurde. Erste Schritte zu einer staatlichen Kunst- und Kulturpflege sind in der Schweiz in die 1880er-Jahre zurückzuverfolgen. Doch blieb die Kulturpolitik bis in die 1930er-Jahre marginal. Einzelne Vereinigungen wie etwa die Neue Helvetische Gesellschaft konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in diesem föderalistischen Land an Institutionen wie auch Ambitionen mangelte. In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre wurde dies zum Problem. Den diktatorischen Nachbarstaaten hatte die Schweizer Propaganda wenig entgegenzuhalten. Eine eidgenössische Filmwochenschau gab es gar erst ab August 1940. Unter dem Druck der Wirtschaftskrise und der zunehmenden kulturellen Abschnürung vom Ausland forderten insbesondere sozialdemokratische Politiker dringend ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für notleidende Künstler.
Mitglieder der Eidgenössischen Kunstkommission begutachten 1941 in der Wandelhalle in Bern die Probearbeiten eines Kunststipendienwettbewerbs.
Mitglieder der Eidgenössischen Kunstkommission begutachten 1941 in der Wandelhalle in Bern die Probearbeiten eines Kunststipendienwettbewerbs. Staatsarchiv Zug

Kultur­mi­nis­ter Philipp Etter

Der 1934 in den Bundesrat gewählte Katholisch-Konservative Philipp Etter nahm sich als Vorsteher des Innendepartements dieser Aufgaben an. Der Innerschweizer aus dem unteren Mittelstand war als Stiftsschüler in Einsiedeln in den Genuss von humanistischer Bildung gekommen. Er hatte Rechtswissenschaften in Zürich studiert und war früh Parteijournalist bei den «Zuger Nachrichten» geworden. Um 1937 begann Etter erste Pläne zu der allseits geforderten «geistigen Landesverteidigung» auszuarbeiten, die zur Gründung der Pro Helvetia führten. Obwohl er auf die Vertretung der Parteien achtete, bevorzugte Etter unpolitische Expertengremien. Statt Kultur zu zentralisieren, stützte er sich auf bestehende Verbände und Bundesinstitutionen wie die Eidgenössische Kunstkommission. Die Zusammensetzung, eine peinlich genaue Landesarithmetik, war dabei entscheidend. Auch auf dem Gruppenbild von 1941 sind Vertreter aus verschiedenen Regionen und Sparten zu erkennen. Für Susanne Schwob etwa setzte sich Etter, selbst nicht frei von antisemitischen Stereotypen, besonders ein, als sie in den 1930er-Jahren in Künstlerkreisen antijüdischen Anfeindungen ausgesetzt war.
Bundesrat Philipp Etter war ein Zigarren-Liebhaber.
Bundesrat Philipp Etter war ein Zigarren-Liebhaber. Schweizerisches Nationalmuseum

Ambiva­len­tes Verhält­nis zur «Kunstpfle­ge»

«Der Katholizismus hat die Sendung, Hüter der Mitte zu sein», schrieb Etter 1936 einem Freund und kritisierte damit die drohenden Sparmassnahmen im Sozialbereich zugunsten der Armee. «Wir dürfen auch nach Rechts keine Zeloten werden.» Diesem Selbstanspruch wurde Etter jedoch selten gerecht, zumal die «Mitte» nicht seiner politischen Position entsprach. Als Vertreter des politischen Katholizismus war er in linken und liberalen Kreisen nicht unumstritten. Zweifellos hatte Etter zur modernen Kunst und zu einigen Kulturvertretern ein ambivalentes Verhältnis. Viel diskutiert ist die antisemitisch geprägte Kampagne gegen den Germanisten und Spitteler-Spezialisten Jonas Fränkel, an der auch Etter beteiligt war. Der Kunstmaler Hans Erni, nachdem ihn 1949 ein Luzerner FDP-Nationalrat als Kommunisten parlamentarisch angegriffen hatte, verlor wegen Etters Einfluss mehrfach Ausstellungsmöglichkeiten und Aufträge. Auch nach seinem Rücktritt aus dem Bundesrat 1959 stand Etter nicht mit jeder Kunstrichtung auf gutem Fuss. So redigierte er als Verwaltungsratsmitglied das Kündigungsschreiben an den Walter-Verlagsleiter Otto F. Walter, der 1966 Ernst Jandls als religiös anstössig empfundenen Gedichtband «Laut und Luise» veröffentlicht hatte.
Druckgrafik von Ernis «Landi»-Bild «Die Schweiz, das Ferienland der Völker».
Druckgrafik von Ernis «Landi»-Bild «Die Schweiz, das Ferienland der Völker». Schweizerisches Nationalmuseum
Dennoch lässt sich nachweisen, dass Etter die Kulturpflege subsidiär, föderalistisch und möglichst offen gestaltete. Er war und blieb ein Leben lang von katholischer Mystik ergriffen. Doch die nationalsozialistische «Mist-ik», wie er sich 1937 in einem Privatbrief tatsächlich äusserte, durfte keinesfalls nachgeahmt werden. Eine dirigistische Einheitskultur lehnte Etter ab. Folklore und Abstraktion waren unter seiner Ägide zugleich möglich. Der im Stil der Neuen Sachlichkeit gehaltene Bau der neuen Landesbibliothek in Bern interessierte Etter bereits 1931 als Ständerat. Heinrich Danioths als bolschewistisch kritisiertes Wandbild am Bundesbriefarchiv in Schwyz verteidigte er als Bundesrat. Die Forderung nach mehr nationaler Erziehung, wie der Lehrerverein sie vorbrachte, kommentierte Etter mit den Worten: «Und glaubt man denn auch heute noch, dass man den Geist des guten Staatsbürgers durch ‹Verfassungskunde› eintrichtern kann?»
Das 1936 errichtete Bundesbriefarchiv erregte mit dem umstrittenen modernistischen Wandbild von Heinrich Danioth die Gemüter vieler Schwyzer.
Das 1936 errichtete Bundesbriefarchiv erregte mit dem umstrittenen modernistischen Wandbild von Heinrich Danioth die Gemüter vieler Schwyzer. Staatsarchiv Schwyz
International war Etter als Bundespräsident im patriotischen Taumel der Landesausstellung 1939 in Zürich durchaus angesehen. An der «Landi» wurde nicht zuletzt auch ein modernistisches Wandbild von Hans Erni gezeigt. Konzipiert hatte «Die Schweiz, das Ferienland der Völker» der marxistische Kunsttheoretiker Konrad Farner, der später während des Kalten Kriegs mit seiner Familie antikommunistischer Hetze ausgesetzt war. Doppeldeutig lobte die deutsch-jüdische Schriftstellerin Victoria Wolf die Landesausstellung 1939: «Vier Millionen Schweizer schaffen es allein. Und vor dieser millionenfachen Tatkraft muß man den Hut abziehen. Ich ziehe ihn.» Wolf war zu diesem Zeitpunkt bereits von der Fremdenpolizei aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Mit ihren Artikeln habe sie heimischen Schriftstellern ernsthaft Konkurrenz gemacht.
An der Landesausstellung 1939 in Zürich stand das Fahnenmeer der Gemeinden und Kantone auf dem Höhenweg für die föderalistisch-schweizerische Vielfalt in der Einheit.
An der Landesausstellung 1939 in Zürich stand das Fahnenmeer der Gemeinden und Kantone auf dem Höhenweg für die föderalistisch-schweizerische Vielfalt in der Einheit. Dukas / RDB

An Etters Kultur­po­li­tik schieden sich die Geister

Was also war «geistige Landesverteidigung» in ihren Anfängen? Ohne das Phänomen damit näher zu umschreiben, sahen Historiker in der neuen Schweizer Kulturpolitik entweder einen «antitotalitären Basiskompromiss» oder einen «helvetischen Totalitarismus» in Form von altväterischen Monumentalbildern und einer Militarisierung der Gesellschaft. Diese Sichtweisen sind stark vom Kalten Krieg und seiner Dichotomie geprägt. In vielen Darstellungen wurde dabei schlicht übergangen, dass Etter 1945 den «Ausbruch aus der geistigen und kulturellen Réduit-Stellung» forderte. Die «Luft der Welt» wünschte er sich damals gar anlässlich einer Ausstellung amerikanischer Baukunst in Zürich herbei. Ausschlusstendenzen sind in der Rückschau klar erkennbar. Doch hatte sich der Stil der Moderne offenbar trotz der Krisenzeit und trotz konservativer Einflüsse halten können. Daher vermutete 2010 der Kunsthistoriker Stanislaus von Moos, die geistige Landesverteidigung sei «kulturpolitisch doch zukunftsfähiger, moderner gewesen», als es unter «ästhetisch Aufgeklärten» gerne angenommen werde.
Philipp Etter und Leland B. Harrison, US-Gesandter in der Schweiz, bei der Eröffnung der Ausstellung «USA baut» im Kunstgewerbemuseum in Zürich im September 1945.
Philipp Etter und Leland B. Harrison, US-Gesandter in der Schweiz, bei der Eröffnung der Ausstellung «USA baut» im Kunstgewerbemuseum in Zürich im September 1945. Keystone / Photopress-Archiv / Milou Steiner
Die anfängliche Weigerung Etters, Kultur überhaupt zu organisieren, mag ein Teil der Erklärung dafür sein. Die Kunst wurde in vielen Bereichen sich selbst überlassen und im Schlechten wie im Guten hatte diese Zurückhaltung Folgen. Grosse Kulturprojekte konnten sich unter diesen Umständen nur mit Mühe behaupten. Anerkennend schrieb dagegen Jakob Wyrsch, Psychiater und Schriftsteller, 1971 zu Etters 80. Geburtstag: «Klugerweise hat Etter als Bundesrat nichts von einem Eidg. Kulturministerium wissen gewollt. Denn das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen soll in Freiheit blühen oder zeitweise auch serbeln, ohne dass es von einer Zentrale aus dirigiert wird.» Die geistige Landesverteidigung stand mit der Pro Helvetia anfänglich tatsächlich auf schmaler finanzieller Grundlage. Ein sozialdemokratischer Nationalrat war 1939 von der «sehr bescheidenen Vorlage» zur Gründung einer Kulturstiftung eher enttäuscht, während Etter sich damit zufriedengab, dass die Pro Helvetia «nicht alle Aufgaben» erfüllen werde, «die sich ihr stellen», und auch keine «geistesuniformierende Kraft» werde aufbringen können.
Philipp Etter mit dem Kurator Paul Hilber und den Kunstkommissionsmitgliedern Augusto Giacometti und Alfred Blailé an der Eröffnung der Ausstellung «Die Kunstpflege des Bundes seit 1887» 1943 in Luzern.
Philipp Etter mit dem Kurator Paul Hilber und den Kunstkommissionsmitgliedern Augusto Giacometti und Alfred Blailé an der Eröffnung der Ausstellung «Die Kunstpflege des Bundes seit 1887» 1943 in Luzern. Staatsarchiv Zug
An vielen Widerständen, inneren Hemmnissen und gegenseitigem Misstrauen drohte die frühe Kulturpolitik zu scheitern: an antisozialistischen Ressentiments und kantonalistischen Vorbehalten bei Etter selbst, an antikatholischen Reflexen, am Widerwillen gegen auch nur ansatzweise modernes Kunstschaffen auf konservativer Seite, an ultraföderalistischen oder intellektualistischen Zweifeln gegenüber einer «gleichgeschalteten» eidgenössischen Kulturpropaganda und an der von links wie rechts bisweilen geäusserten Furcht vor Untervertretung in den wichtigen Schaltzentren der künftigen Kulturpolitik. «Geistige Landesverteidigung!», klagte Etter daher bereits 1937 gegenüber einem Freund. «Als ich an die Lösung dieses Problems herantrat, war ich mir zum Voraus der Schwierigkeiten bewusst, die sich in den Weg stellen würden. Das ‹Geistige› lässt sich nicht so leicht organisieren wie das Materielle.»

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