Frauen bei der Granatenproduktion im Stahlwerk Osnabrück. Foto: Alois Wurm, 1915.
Frauen bei der Granatenproduktion im Stahlwerk Osnabrück, 1915. Museum digital, Niedersachsen

In Kriegs­zei­ten unterwegs

Trotz der Gefahren reist der Schweizer Landmaschinen-Fabrikant Jean Bucher im Ersten Weltkrieg mehrmals nach Deutschland. Im Reisegepäck hat er seine Tagebücher, in denen er eindrücklich den kriegsgeprägten Alltag des Landes festhält.

Katrin Brunner

Katrin Brunner

Katrin Brunner ist selbstständige Journalistin mit Schwerpunkt Geschichte und Chronistin von Niederweningen.

Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ging es Europas Wirtschaft ausgezeichnet. Es wurde reger Handel zwischen den Nationen betrieben. Die Grenzen bestanden fast nur auf dem Papier. Am 28. Juli 1914 ändert sich das schlagartig mit dem Ausbruch des Krieges. Zu dieser Zeit hat die Schweiz rund 30'000 Tonnen Brotgetreide an Lager. Aber die weitere Versorgung durch Lebens- und Futtermittel oder durch Dünger auf unbestimmte Zeit ist in Gefahr, sodass der Bund 1917 den erhöhten inländischen Anbau von Getreide verordnet. Deshalb macht sich der Schweizer Geschäftsmann Jean Bucher auf, um sich in Deutschland mit einem Hersteller von Landmaschinen zu treffen. Auf der Reise verarbeitet er seine Eindrücke in Tagebüchern. So schildert er seine Zugfahrt im Dezember 1916: «In Tuttlingen stieg eine Krankenschwester ein, mit einem ca. 22-jährigen Soldaten, der aus dem Krankenhaus daselbst kam… Er (Preusse) hatte am Leben scheinbar kein grosses Interesse mehr, er schimpfte über die Offiziere und wünschte, dass wenn er mit dem Leben davonkomme keine solche Massenschlächterei mehr durchzumachen (sic).»
Jean Bucher bei der Jagd, um 1935.
Jean Bucher bei der Jagd, um 1935. Archiv Familie Bucher
Als Inhaber einer Firma, die sich auf die Produktion von Landmaschinen spezialisiert hatte, bremst der Kriegsausbruch nur kurz die Entwicklung von Buchers Betrieb in Niederweningen. Die Nachfrage nach Landmaschinen wie Traktoren, Pflügen oder Futterschneidemaschinen, die eine Produktion von Grundnahrungsmittel im eigenen Land möglich machen, steigt. Jean Buchers Geschäftsreisen ins benachbarte Deutschland sind eigentlich seltene Ereignisse. Aber der 41-jährige Firmeninhaber braucht Stahl, Eisen und Ersatzteile. So erlebt er im Winter 1916 ein vom Krieg gezeichnetes Nachbarland. Detailliert beschreibt er in seinen Reisetagebüchern beispielsweise sein Frühstück: «(1.25 Mark) im Hotel Banzhaf in Stuttgart. Etwas Kaffee 4-5 Fingerhut voll Milch, keine Butter, etwas Konfitüre zum Brot.»
Lebensmittelmarke, die Jean Bucher von seinen Reisen aus dem Deutschen Reich mitbrachte. Foto: Katrin Brunner.
Lebensmittelmarke, die Jean Bucher von seinen Reisen aus dem Deutschen Reich mitbrachte. Archiv Familie Bucher / Foto: Katrin Brunner
Mit Erstaunen beobachtet er auf seiner Reise Frauen, die im «Fabrikhofe Eisenbahn- und Rollwagen hin- und her stossen.» Es sind auch mehrfach Frauen, die nun im Zug die Billette kontrollieren oder als Tramschaffnerinnen tätig sind – Emanzipation aus der Not heraus geboren. Die bis dahin geltende Gesellschaftsordnung gerät für viele Deutsche aus den Fugen. Vom «Verlust der Männlichkeit» ist die Rede. Ein prognostizierter Rückgang der Geburtenrate und die Veränderung der Gesellschaft macht vielen Menschen Angst. Jean Bucher reist bis nach Dresden. Auch dort dasselbe Bild.

…abgesehen von den weibli­chen Tramschaff­nern, gibt es jetzt auch noch weibliche Bahnschaff­ne­rin­nen… Der Tageslohn des weibli­chen Bahnper­so­nals liegt bei 2.50 Mark plus Kriegszulage.

Jean Bucher
Die erste Dienstfahrt der Strassenbahn-Schaffnerinnen, Dresden 1915.
Die erste Dienstfahrt der Strassenbahn-Schaffnerinnen, Dresden 1915. Stadtarchiv Dresden, 17.6.1, Ansichtskartensammlung, Nr.: TR 007/1
Postkarte mit Briefträgerin, um 1916.
Postkarte mit Briefträgerin, um 1916. Historische Bildpostkarten, Universität Osnabrück, Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht
Jean Bucher berichtet in seinem Tagebuch von mit Soldaten überfüllten Zügen, die entweder von der Front zurückkommen oder dorthin fahren. Bis Kriegsende sollten es rund 13 Millionen deutsche Männer sein, die für den Krieg mobilisiert wurden. Das Tagebuch enthält ein Gespräch mit einem jungen Mann, der seit 29 Monaten an der Front sei. Bucher ist überrascht, wie freimütig die Armeeangehörigen über neue (geheime?) Waffensysteme plaudern: «…über das allerneuste Geschoss, das beim Aufschlagen wieder ca. 8 Meter hoch springe und dann erst platze». Aber er hält sich auch an der fragilen vermeintlichen Normalität in Deutschland fest und besucht bei der Durchreise in Berlin ein bekanntes Café.
Seine zweite Reise nach Deutschland führt Jean Bucher ins Ruhrgebiet zu den Eisenwerken Gebr. Stumm. Auf dem Weg dorthin macht er Halt in Saarbrücken und geht abends ins Lichtspieltheater, um sich den Film «Die verflixten kleinen Mädels» anzuschauen. Die Vorstellung dauert nicht lange, um 22.30 Uhr wird der Fliegeralarm ausgelöst.

…alles flüchtete sich in den Keller. Geschoss­stü­cke prassel­ten hin und wieder auf die Lichthof­fenster des Theaters. Bald stärker wie Trommel­feu­er, bald schwächer waren die Detona­tio­nen hörbar, einmal ein starker Krach mit Zittern des Gebäudes.

Jean Bucher
Nach rund 40 Minuten ist der Spuk vorbei. Als Jean Bucher in sein Hotel kommt, geht das Bombardement aber von Neuem los. Eine halbe Stunde verbringen Gäste und Personal im Heizungskeller, um danach ins Bett zu gehen.
Apollo-Theater in Saarbrücken, um 1900.
Apollo-Theater in Saarbrücken, um 1900. Wikimedia
Jean Bucher erzählt in seinen Notizen, dass er als Schweizer unterwegs öfters gefragt werde, «was man in der Schweiz über die Kriegsdauer denke, und warum der Deutsche eigentlich überall so verhasst sei». Die letzte Frage lasse er als «Neutraler» jeweils unbeantwortet. Nach der Dauer des Krieges gefragt, antworte er, dass dieser noch gut zwei Jahre dauern könne, «sofern nicht ein grösserer Staat der Entente abspringt und einen Sonderfrieden macht. Ist das nicht der Fall, so wird es weder Sieger noch Besiegte geben, und nur die zurückkehrende Vernunft könne diesem nutzlosen, schrecklichen Morden ein Ende bereiten».  Am Montag, 11. November 1918 endet der Erste Weltkrieg offiziell. Bis dahin haben weltweit rund 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Als Jean Bucher im Februar 1919 ein drittes Mal nach Deutschland reist, diesmal nach Stuttgart, beobachtet er Wagenladungen mit Pflügen plus deren Ersatzteile, die nun in Richtung Frankreich fahren. «Auf Nimmerwiedersehen», so sein Kommentar. Frankreich holt sich so seine dringend benötigte Kriegsbeute. Deutschland aber kommt nicht zur Ruhe. Mit der sogenannten Novemberrevolution fällt die Monarchie. Von Frieden keine Spur, die geplante Reise in den Norden Deutschlands bricht Bucher ab. Bewaffnete Mitglieder des sogenannten Spartakusbundes, der zukünftigen Kommunistischen Partei Deutschlands, bewachen öffentliche Gebäude und drohten täglich mit Generalstreik.
Spartakisten bewachen eine Strasse in Berlin, 1919.
Spartakisten bewachen eine Strasse in Berlin, 1919. Wikimedia
Nach einer längeren Irrfahrt kommt Jean Bucher schliesslich krank, aber lebend zurück in die Schweiz. Für die Zukunft Deutschlands sieht er schwarz. Die Eigene gestaltete er jedoch erfolgreich, indem er Alternativen zu den zunehmend verwendeten künstlichen Düngern fand. Jean Bucher reiste auch später noch des Öfteren nach Deutschland. Seine Reiseberichte schlummern heute im Privatarchiv.

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