Carl August Wildenhahn verewigte die heutige Schweiz in seinem Tagebuch von 1837 – textlich und zeichnerisch.
Carl August Wildenhahn verewigte die heutige Schweiz in seinem Tagebuch von 1837 – textlich und zeichnerisch. Deutsches Tagebucharchiv

Amüsantes Reiseta­ge­buch zeigt die Schweiz um 1837

Mit humorvollen Texten und comicartigen Bildern hielt der deutsche Theologe Carl August Wildenhahn seine Reise durch die Schweiz des 19. Jahrhunderts fest.

Gabriel Heim

Gabriel Heim

Gabriel Heim ist Buch- und Filmautor sowie Ausstellungsmacher. Er befasst sich vor allem mit Recherchen zu Themen der Neueren Zeitgeschichte und lebt in Basel.

Im Frühsommer 1837 steigt Carl August Wildenhahn in Dresden in eine Postkutsche, um die Schweiz zu bereisen. Der Theologe will endlich das Land seiner Träume mit eigenen Augen sehen. Das «Land der ewigen Eisberge und der zierlichen Berner Mädchen». Seine rund dreiwöchige Reise hat Wildenhahn amüsant festgehalten und  mit – heute würde man sagen – Comics  illustriert.
«Wir verlassen Art[h] dreiviertel auf sechs Uhr. Der kleine, aber robuste Führer geht voran. Er heisst Xaver Augusti aus Art[h], wo sein Vater Schiffer und Fischer ist; der 13-jährige Bub ist schon ein unermüdlicher Bergsteiger, immer voran, rastlos. Zuerst führt der Weg über das verschüttete Goldau, das heute noch den Grund der Verwüstung zeigt und nun rastlos vorwärts – bergan. Der Schweiss fiel mir bald in grossen Tropfen von der Stirne. Einzelne Sennhütten zeigen sich, – die alle malerisch daliegen. Während wir hier auf dem Dächli, einem Wirthshause, das wie ein Adlernest in die Felsen geklebt ist, einen kleinen Halt machen und Kirschwasser zur Stärkung geniessen, das dem kleinen Xaver leidlich schmeckt, klimmen schwarz-braune Ziegen die steilen Klippen herunter, dass es einen schwindlich machen könnte. Schon 7 Uhr. Wir haben noch 3 Stunden zu steigen, wenn wir heute noch den Kulm erreichen wollen.»
Mit comicartigen Zeichnungen gibt Wildenhahn auch einen visuellen Einblick in seine Reise durch die Schweiz.
Mit comicartigen Zeichnungen gibt Wildenhahn auch einen visuellen Einblick in seine Reise durch die Schweiz. Deutsches Tagebucharchiv
Die Besteigung der Rigi ist ein besonders amüsantes Kapitel in Wildenhahns Tagebuch. Er begegnet dabei einigen «wunderlichen» Zeitgenossen und zeichnet ganz nebenbei ein erstaunlich exaktes Bild des frühen Alpentourismus’.
«Montags früh 7 Uhr. Hier beginnen die vier Stationen, die zur Wallfahrtskapelle führen, – zur Righi Mater, – oder auch zum Klösterli schlechtweg genannt. Dieser Wallfahrtsweg ist sehr besucht. Uns voraus wandern mehrere kleinere und grössere Gruppen, unter welchen ein Weib sich besonders durch die fromme Hast auszeichnet, mit der sie die Stationen erklimmt, und bei jeder niederfällt und betet.»
Der Theologe aus Dresden begegnet vielen Pilgerinnen und Pilgern, die den Wallfahrtsweg in «frommer Hast» erklimmen.
Der Theologe aus Dresden begegnet vielen Pilgerinnen und Pilgern, die den Wallfahrtsweg in «frommer Hast» erklimmen. Deutsches Tagebucharchiv
«Xaver weiss viel von diesen Dingen zu erzählen, wir verstehen ihn aber fast gar nicht, er spricht den gemeinsten Schwyzerdialekt. Die neunte Station kann Schwangere zum Abortus und Verbrecher zum Geständnisse bringen. Guckt man durchs Gitter in die halbfinstere Kapelle, so funkeln einem ein Paar feurige Augen entgegen, es ist der halbliegende Christus, – das Kreuz auf ihm – dem man ein Paar gläserne Augen eingesetzt – daneben weint Maria, – ein Jude grinst, und ein Henkersknecht geisselt – alles plumpe abscheuliche angemalte Holzfiguren in übermenschlicher Grösse. Fällt ein Mondlicht da hinein, während ein friedsamer Wanderer vorübergeht, – so ist er verloren. Um unseren Unmut zu vermehren,  fängt es noch derb zu regnen an. Nacht und Nebel umlagert uns. Wir nahmen Herberge in der Staffel, wo wir eine äusserst freundliche Aufnahme fanden. Unterdess fiel draussen der Regen in bleischweren Tropfen. Der trieb dann auch einen neuen Fremdling herein, der in seinem breiten Strohhut wie eine Fontäne in die Stube trat, so troff das Wasser aus und von ihm, ungefähr so...»
Ein nasser Fremdling platzt in die Gaststube...
Ein nasser Fremdling platzt in die Gaststube... Deutsches Tagebucharchiv
«Der Ankömmling war übrigens ein lieber, freundlicher Mann, ein junger Mediziner aus Lichtensteig in St. Gallen, der schon im April dieses Jahres den St. Gotthard bestiegen, um eine dort eine heimische Brustkrankheit zu beobachten. Wir soupirten zusammen und sprachen dem Markgräfler bis elf Uhr nachts zu, der uns über die Massen heiter und gesellig machte. Am Morgen um zehn Uhr theilt sich das Gewölk und gestattet einen wundersamen Blick aufs Luzerner, Schwytzer und Zuger Land! Einzelne Lichtpunkte auf dem tausendfachen Grün mit seinen freundlichen Städten und Dörfern. Und alles liegt so nahe, dass man mit einem Sprunge hinkommen möchte, und alles sieht so nett und proper aus, als wär’s gemalt. Die liebe Gotteswelt in ihrer Herrlichkeit und Pracht drückt einen ganz zu Boden. Wir hatten frische Kräfte und erreichten von der Staffel aus in einer halben Stunde den Kulm, wo wir in dem reinlichen Wirthshause eine freundliche Aufnahme fanden. Von Aussicht war noch wenig Rede – uns blieb zurzeit nur die Einsicht im Hause übrig.»
Am 12. Juni 1837 erreicht Wildenhahn sein Ziel: Rigi Kulm.
Am 12. Juni 1837 erreicht Wildenhahn sein Ziel: Rigi Kulm. Deutsches Tagebucharchiv
«Wir fanden ein großes Wirthszimmer vor: drei junge Männer, einer aus Boston, zwei aus Zürich. Sie haben die Nacht hier zugebracht, und wenig genossen. Jetzt aber kam ein Gast, der brachte eine Abwechslung. Ein Kapuziner, ein großer starker Mann mit brauner lederderber Kutte, einen weißen Strick um seine Hüften, in der Kapuze das blaue Schnupftuch, und in der Ärmeltasche die Dose, aus der er fleißig schnupft, aber Niemandem davon anbietet. Er ist der Pater Superior im Klösterle, – trägt sein Brevier bei sich und lässt sich Kaffee, Wein, Brot und Käse, der ihm um Gottes Willen gereicht wird, trefflich schmecken. Ich conversire mit ihm lateinisch, das ihm etwas schwer wird, doch geht’s noch. Ich biete ihm eine Cigarre – die er nicht annimmt: es rauche auch keiner im Kloster – obgleich es nicht verboten sei. Er erzählte uns, dass im Winter nur zwei Fratres im Kloster bleiben, im Sommer aber deren sechs oder acht da sind. Der Wirth hier heißt Bürgi, ein stiller,  fast plumper Mann, dagegen seine Frau Lisette ein hübsches junges Weib in Schwyzer Landestracht. Sie hat früher eine Zeit lang in Dresden gelebt – sich von einem treulosen Mann lange Zeit betrügen lassen, und lebt jetzt auf dem Rigi-Kulm zufrieden doch wie es scheint, glücklicher wachend als zunacht. Ihre Gesellschafterin hier, ein junges hübsches Mädchen wurde von mir anfangs für die Wirthinn gehalten; sie sagte aber erröthend: ‹Verzeihens, Herr – i bi nit d’Madam.› – Jetzt zeigte sich auch ein Engländer mit seiner Frau, der seit drei Tagen schon hier auf liegt und auf gutes Wetter wartet; ein ächt inglisch Beefsteak-Gesicht mit Speciesthalerknöpfen auf dem Mac Intosh Rock und den Guide de Voyageurs in der Hand.»
Auf der Rigi trifft Carl August Wildenhahn auch einen Kapuziner. Die beiden «conversieren» Lateinisch.
Auf der Rigi trifft Carl August Wildenhahn auch einen Kapuziner. Die beiden «conversieren» Lateinisch. Deutsches Tagebucharchiv
Die Stunden auf der Rigi hatten etwas komödiantisches. Während der lateinisch sprechende Klosterbruder sein Verzicht auf Raucherwaren erklärt, verschwindet ein auf besseres Wetter wartender Engländer plötzlich im dichten Nebel...
«Jetzt mochte der Spleen über ihn kommen, – er eilt hinaus in die Nebelluft. Frau und Führer folgen ihm; da wo das Kreuz steht, an der gefährlichsten Stelle, wo man mit einem Fehltritt 5600 Fuß tief hinab stürzen kann, verschwindet er – der Nebel verhindert jede Nachsuchung – der Führer ruft: ‹Mylord, ou êtes vous?  Montez, s‘il vous plait, ne descendez pas !  Il y a de danger!› Keine Antwort. Die Frau guckt weniges etwas den steilen Pfad hinab – Mylord ist verschwunden. Mir lief Todesangst durch die Seele – Was tut Mylady? Sie lächelt und geht mit dem Führer ins Wirthshaus zurück. Endlich nach einer halben Stunde kommt Mylord wieder heraufgekrochen. Hei, die Freude des Wiedersehens muss ich sehen. Ich gehe mit ihm ins Haus. Mylady sitzt auf dem Sopha und liest. Mylord tritt ein, kein Grüssen, keine Fragen. Keiner sieht den Andern an. Der Führer schüttelt den Kopf. Originales Volk die Engländer!  Auch hier gibt’s schlechten Kaffee, wie in der ganzen Schweiz, desto bessere Milch, welche auch in größerem Maße, als der Kaffee gegeben wird. Die Kulm-Bibliothek umfasst die meisten und besten französischen und deutschen Classiker der belletristischen Literatur.»

Warum die Jungfrau Madame Meyer genannt wird

«Und nun die Aussicht von Righi – Kulm. Aus dem Nebel tritt ein Theil nach dem andern vor; westlich der Sempacher-, Hallwyler- und Baldegger-See, dazwischen und darüber hinaus kleine Bergzüge mit lauter Wiesen, von Bäumen lieblich umzäunt, nirgends aber ein Saatfeld. Östlich: der Zugersee in seiner ganzen Glorie, der Ägeri- und Lowerzersee mit der Ruine von Goldau, der Zürcher-See wird auf zwei Punkten sichtbar, weiter hinaus die beschneiten Appenzeller Alpen und nun südlich  die prachtvollen Schwyzer Alpen, unter denen der Mythen wie ein Großpapa dasteht. Darunter und darüber zeigen sich der Urner Rothstock und das Stanzer Horn. Die Berner Alpen aber blieben noch verhüllt in den Wolken – nur die Conturen lassen sich durch die Wolken erkennen. Einer der Führer teilte uns den Witz mit, dass die bis dahin unberührte Jungfrau – nach ihrer Besteigung durch Johann Rudolf Meyer und sein Bruder Hieronymus –  jetzt ‹Madame Meyer› heisse. Neben uns steht der Engländer, die breiten Ohren seiner Pelzmütze heruntergeklappt, die Bergkarte in der Hand, und neben ihm der Führer, der ihn auf allen Tritten und Schritten begleiten muss, um sogleich Alles zu erklären, wobei er mit seinem Regenschirme in die Luft hinaus figurirt. Mylady steht dabei und zittert vor Frost. Sie hält sich mit beiden Händen den Strohhut, läuft auf und nieder, denn es weht ein arger, kalter Sturm, und trägt den Bergstock unterm Arme.»
«Where is the Jungfrau?» Mylord und Mylady lassen sich die Schweizer Bergwelt erklären.
«Where is the Jungfrau?» Mylord und Mylady lassen sich die Schweizer Bergwelt erklären. Deutsches Tagebucharchiv
«Als die Sonnenscheibe strahlenlos sichtbar wurde, rief der Führer mit dem Regenschirme auf die Sonne zeigend: ‹Mylord et Mylady, c’est le soleil ce que vous voyez là-bas!›  – ‹Ah- ah – le soleil› – antwortet Mylady und flucht ein ‹Goddam› dem Winde, der ihre Formen wahrer abdrückte, als sie wünschen mochte. Mylord dreht währenddem an der Bergkarte, worauf ihm der Führer den Punkt zeigen muss, wo die Sonne eben untergeht. Ganz durchkältet, schmeckte uns trefflich das reiche Souper, das aus Suppe, Kartoffeln mit Butter, Hecht mit Sauce, Huhnpasteten, Kalbsbraten mit Salat, Rinderbraten mit Sauce, Aepfelpudding und allerhand Confect, Nüssen, Eingemachtem, Torten bestand. Dazu gehört allerdings ein Schweizermagen! Schon um 3 Uhr trieb mich der Eifer, den Sonnenaufgang zu sehen, aus dem Bette. Bald erscheinen Mylord und Mylady, die, wie wir am Abend erfuhren, amerikanische Engländer sind, mit ihrem Führer, und spazieren der Kälte wegen, munter auf und nieder. Ich kanns nicht beschreiben genug. Die Sonne kam bald in ihrer ganzen Herrlichkeit und völlig unbedeckt strahlte sie auf die silberweißen Alpen des Berner Hochlandes. Die grandiose Jungfrau mit ihren gigantischen Nachbarn blickte ruhig in  der Sonne Antlitz hinein, bis sich vor Scham ihre schneeigen Wangen röteten. Glückliche Menschen, die wir sind – glücklicher als der Mylord, der trotz des Führers Explicationen die Jungfrau nicht herausfinden kann.»

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