Und plötzlich war Mister Morrison «real, real gone»
Musikjournalist Bänz Friedli erinnert sich an einen einmaligen Moment des Montreux Jazz Festivals.
Man fuhr nach St. Gallen (und wusste von vornherein, dass man Gummistiefel einpacken musste, weil das Gelände schlammig sein würde). Man autostoppte nach Nyon (und wusste nicht recht, ob man sich in einer Staubwolke wiederfinden würde, weil die Zehntausenden Festivalbesucher an trockenen Sommertagen das Terrain regelrecht aufzuwirbeln pflegten).
Aber nach Montreux, da fuhr man nicht einfach hin, in meiner Jugend. Man pilgerte. Das Montreux Jazz Festival hatte sich schon als Marke im Kopf festgesetzt, ehe man erstmals dort war. Mehr noch: als Mythos. Es war ein bisschen, als führe man ins Ausland. Und als man dann zum ersten Mal dort war, am mediterran anmutenden See flanierte und schliesslich Einlass ins «Casino» erhielt, roch alles um einen her nach Geschichte. Das Casino Montreux! Weltberühmt, weil es 1971 während eines Konzerts von Frank Zappa in Brand geraten war und danach neu hatte errichtet werden müssen. Die Episode war verewigt im Song «Smoke On the Water» von Deep Purple, dies hier war mehr als einfach ein Festival irgendwo in Switzerland. Es war Rock ’n’ Roll.
1991 muss es gewesen sein, mitten im Sommer, man durfte für die Lokalzeitung eine italienische Nacht rezensieren. Und man war so vereinnahmt und berauscht vom Gedanken, selber an dieser geschichtsträchtigen Stätte mit dabeizusein, dass man es in der Konzertbesprechung zu erwähnen verpasste, wie absurd die Programmierung des Abends gewesen war: Das Unterhaltungsorchester von Renzo Arbore und die harten Rocker von Litfiba auf einer Bühne – das war, wie wenn man Schlagerdarling Francine Jordi mit den harten Rammstein paaren würde. Es passte nicht. Egal. Alles dünkte einen legendär, alles historisch, und man war selber mittendrin!
Erst später würde man kritischer berichten, und «Monsieur Jazz», Claude Nobs persönlich, würde darob nicht sonderlich amüsiert sein. Aber wie er es so hielt mit seinen wenigen Kritikern: Er umgarnte einen, er wusste zu charmieren. Und eines muss man Nobs, diesem Rumpelstilzchen im Massanzug, lassen: Er wusste auch den Stars den Schmus zu bringen, er holte sie allesamt nach Montreux. Selbst solche, die als äusserst launisch galten wie der ebenso genialische wie sture Nordire Van Morrison. Morrison mochte sich noch so zieren, mochte auf der ganzen Welt Fehden anzetteln und Vereinbarungen brechen – bei Nobs war er Dauergast.
Einmal gönnte man sich sogar ein Zimmer im «Riviera», dem Hotelturm am See. Die Liebste war mitgekommen, die heutige Ehefrau, weil sie Van Morrison hören wollte. Und das Bild, das sich einem vom Balkon des neunten Stockwerks aus bot, wird man nie vergessen. Drunten am Pool des noblen «Palace», auf der Parzelle nebenan, lag ein schwabbeliger Koloss aus leichenweissem Fleisch; daneben, langbeinig, rank und braungebrannt, den Mann an ihrer Seite um zwei Kopflängen überragend: Michelle Rocca, die ehemalige Miss Irland, Van Morrisons neue Ehefrau. Das Biest und die Schöne. Ein Anblick, den man nie, nie aus dem Kopf bringen würde. Schlimmer noch: Nie würde man das traumhafte «Moondance» mehr hören können, ohne sogleich an den schwabbeligen Bleichen in seiner überdimensionalen Badehose und die Ex-Miss an seiner Seite denken zu müssen.
Der Abend kam, es war der 9. Juli 1994. Und weil Claude Nobs mit manischem Eifer sämtliche Auftritte filmisch festhalten liess, hatte er auch die Unart begründet, ein Konzert jeweils auf Monitoren im Saal wiederzugeben. Dies mag inzwischen gang und gäbe sein, damals war man als Konzertbesucher irritiert und wusste nicht mehr recht, ob man nun auf das Geschehen auf der Bühne achten oder dessen Live-Übertragung anschauen sollte.
Ein Freistoss mit Folgen
Van «the Man» Morrison verbat sich die Kamerabilder. Die Monitore blieben schwarz, an dem Abend. Morrison, nach dem nachmittäglichen Sonnenbad bestens aufgelegt, bot eine musikalische Feier des Augenblicks, einen Auftritt ganz im Hier und Jetzt, und schon nach «Whenever God Shines His Light» waren die Liebste und man selber hin und weg. Dass zeitgleich an der Fussball-WM-Endrunde in den USA ein Viertelfinal im Gang war – wen kümmerte es? Brasilien gegen die Niederlande, darauf konnte man gut verzichten.
Nicht so einer der Techniker, in Montreux. Wie sich der Brasilianer Branco neun Minuten vor dem Schlusspfiff beim Stand von 2:2 knapp 30 Meter vor dem Tor den Ball zum Freistoss zurechtlegte, wie er sehr viel Anlauf nahm und den Ball dann mit Riesenwucht zum siegbringenden Tor ins Netz drosch, dies wollte besagter Techniker dem Konzertpublikum nicht vorenthalten. Er liess die Sequenz kurzerhand über die Bildschirme flackern. Ein Spuk von wenigen Sekunden nur, ein Raunen im Publikum, vereinzelter Jubel. Und als man den Blick wieder auf die Bühne richtete, war Van Morrison verschwunden. Er hatte das Einblenden des Freistosses als Majestätsbeleidigung empfunden und empört den Saal verlassen.
Morrison kam nicht wieder
Seine Band aber spielte weiter. Und was folgte, war ein denkwürdiges Konzert. Candy Dulfer, die Saxofonistin, drehte voll auf. Und Georgie Fame, der britische Rhythm-and-Blues-Musiker, der sich ansonsten stets in den Dienst Morrisons stellte, an dessen Seite er bisher 18 weitere Montreux-Auftritte absolviert hat, dieser Georgie Fame, der nicht nur ein begnadeter Pianist, sondern auch ein hinreissender Sänger ist, fand sich plötzlich inmitten des Geschehens wieder. «I’ll Take Care of You», «It’s a Man’s Man’s World», «Be-Bop-A-Lula», «Turn On Your Love Light» von Bobby «Blue» Bland, «You Give Me Nothing But the Blues» von Guitar Slim und schliesslich, als letzte Zugabe, einen Titel des Chefs, Van Morrison, der wohl nie wörtlicher dargeboten wurde: «Real Real Gone».
Während alledem vermisste man den beleidigten Morrison, der «real gone» war, keine Sekunde. Die stupende Band hatte sein Fernbleiben mehr als nur wettgemacht. Fussball war Nebensache, doch der Abend wurde im besten Sinne einmalig.
P.S. Am 11. Juli spielt Van Morrison wieder am Montreux Jazzfestival. Und wie es der Zufall will, wird exakt an diesem Abend der zweite Halbfinal an der WM in Russland ausgetragen. Ob das wohl gut kommt?
Montreux. Jazz seit 1967
Landesmuseum Zürich
19.1. - 21.5.2018
David Bowie, Miles Davis oder Deep Purple – sie alle haben schon am Jazzfestival Montreux gespielt. 1967 gegründet, zählt es heute zu den bekanntesten Musikveranstaltungen der Welt. In Montreux trifft sich jedes Jahr das Who is Who des Musikbusiness. Was normalerweise an den Gestaden des Genfersees über die Bühne geht, kommt nun in Form einer Ausstellung nach Zürich. Das Landesmuseum blickt auf 50 Jahre Festivalgeschichte zurück, erinnert an den legendären Claude Nobs und füllt die Ausstellungsräume mit Musik und einzigartigen Blicken hinter die Kulissen. Für einmal sind die Stars und ihre Musik zum Greifen nah.