Die «bösen» Nachbarn sind schuld…
Der Landesstreik von 1918 hat auch in ländlichen Gebieten gewirkt. Zum Beispiel im Aargau. Allerdings waren es oft Auswärtige, die den Streikgedanken dort verbreitet haben.
«Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.» Das weiss der Volksmund nur zu gut. Auch im Landesstreik von 1918 äussern sich Unternehmen und Behörden dahingehend. Damals will eine Viertelmillion Streikende die neun Forderungen des Oltener Aktionskomitees durchsetzen. Gegen die Landesregierung und eine beinahe hunderttausendköpfige Ordnungstruppe. Manche Stadtregierungen und einige Patrons zeigen sich davon überzeugt: Unsere eigenen Arbeiterinnen und Arbeiter sind eigentlich brav, aber sie lassen sich von auswärtigen Hetzern aufwiegeln.
So berichten Fabriken aus dem solothurnischen Schönenwerd, ihre Belegschaften seien zwar ordnungsgemäss an der Arbeit. Die Schuhfabrik Bally und auch in die Textilfirma Nabholz sind also von der Arbeitsniederlegung nicht betroffen. Aber sie melden, dass auswärtige Arbeiter auf dem Bahnhof und vor den Fabriktoren für den Streik werben. Letztlich vergeblich.
Baden erhält Hilfe aus Zürich
Auch im Aargau findet sich in den Quellen dieses typische Muster. Baden wird zum Hotspot des Landesstreiks im Kanton, doch lassen sich längst nicht alle für den Arbeitskampf begeistern. Zu stark ist die christlich-soziale Gewerkschaft, zu bedeutsam der Anteil der Rucksackbauern in den Werkstätten, in den Montagehallen und auf den Baustellen. Deshalb versucht die Streikleitung in Zürich, die Badener Genossen schon am ersten Streiktag zu unterstützen. Aus der grossen Stadt fährt ein Lastwagen mit 40 Streikposten nach Baden und dringt bis auf das Areal von Brown, Boveri & Cie. vor, der bedeutendsten Unternehmung am Ort. Allerdings müssen sie vor den Dragonern der Schwadron 22 flüchten. Die Agitation wirkt trotzdem nach. Anderntags erwägt eine Arbeiterversammlung auf dem Theaterplatz, das städtischen Elektrizitätswerks zu stürmen, um sämtliche Fabriken lahmzulegen – also auch Merker, Cioccarelli, die Schuhfabrik und Öderlin. Ebenso erfolglos. Deshalb versuchen es die Unterstützer des Landesstreiks nochmals. In der darauffolgenden Nacht marschieren sie von Zürich über verschiedene Strassen an das Limmatknie. Doch die Aktion fliegt auf. Die städtischen Ordnungstruppen bekommen Wind davon und setzen 120 Personen im Roten Turm fest. Man kann ihnen nichts nachweisen, weshalb sie im Verlauf des letzten Streiktags freigelassen werden. Das geschieht in kleinen Gruppen, um Aufsehen und Zusammenrottung zu vermeiden.
Die Stadtbehörden und die Fabrikbesitzer fürchten die auswärtigen Aufrührer. Sie kennen diese nicht persönlich und können sie auch nicht belangen, weder mit Lohnabzug noch mit Versetzung oder Entlassung. Das wissen auch die Streikführer. Leute von auswärts entziehen sich der sozialen Kontrolle und können sich radikaler gebärden. Die Obrigkeit weiss nämlich genau, was schon am zweiten Streiktag in Wildegg passiert ist. 200 streikende Arbeiter reisen aus Aarau an und erzwingen in der Jura-Cement-Fabrik eine sofortige Arbeitsniederlegung. Damit das auch so bleibt, demolieren sie die Transmissionen, die erst Tage später repariert werden.
Rasche Versöhnung nach dem Streik
Ebenfalls aus Aarau kommen am letzten Streiktag drei Lokomotivheizer und vier Angehörige des Zugpersonals der Schweizerischen Bundesbahnen nach Wohlen. Im Zentrum der Stroh- und Geflechtindustrie drohen sie angeblich den arbeitswilligen Kollegen, worauf sie zusammen mit einer Gruppe Typographen aus Zürich im Restaurant Schellenberg festgesetzt werden. Bei der Befragung stellt die von Landsturmtruppen unterstützte Ortspolizei fest, dass keine strafbaren Handlungen vorliegen. Es bleibt bei einer ernsten Ermahnung.
Auch in diesen Fällen also, so will es die Überlieferung, beeinflussen fremde, radikale Kräfte die im Grunde arbeitswilligen, eigenen Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Haltung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten mag zum einen vorsorglich rührend wirken. Sie erlaubt anderseits auf lokaler Ebene eine rasche Versöhnung nach dem ausgestandenen Schrecken des Landesstreiks. Die Belegschaften kehren zurück an die Werkbänke und in die Fabrikhallen. So sorgen sie brav für das Auskommen ihrer Familien und tragen zum wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmungen bei, als wäre nichts geschehen. Die bösen Nachbarn sind nämlich schon längst weg.