Im Januar 1994 wird vor dem Bundeshaus der rote Teppich ausgerollt.
Im Januar 1994 wird vor dem Bundeshaus der rote Teppich ausgerollt.   Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Unpoli­tisch politi­scher Empfang

Der Schweizer Bundespräsident lädt jedes Jahr das ausländische diplomatische Corps in Bern zum Neujahrsempfang ein. Dieser rein zeremonielle Anlass wurde gerade im Kalten Krieg für das Übermitteln politischer Botschaften instrumentalisiert.

Jonas Hirschi

Jonas Hirschi

Jonas Hirschi ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) und hat 2020 ein Buch über das diplomatische Protokoll der Schweiz publiziert.

Die Schaulustigen auf dem Bundesplatz müssen sich an diesem kalten Januarmorgen 2019 in eine frühere Zeit zurückversetzt fühlen. Da hält eine von Pferden gezogene Kutsche vor dem Bundeshaus, Männer mit Zylinder entsteigen dem Gefährt und winken vom roten Teppich aus der jubelnden Menge zu. Erst als die Zuschauenden unter dem Zylinder den Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried erkennen, werden sie zurück in die Gegenwart gerissen. Bei diesem anachronistischen Anlass handelt es sich um den jährlichen Neujahrsempfang für das diplomatische Corps in Bern, zu welchem auch die Regierungen der Stadt und des Kantons Bern eingeladen werden.
Kutsche und roter Teppich: Der traditionelle Neujahrsempfang vor drei Jahren.
Kutsche und roter Teppich: Der traditionelle Neujahrsempfang vor drei Jahren war auch eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Jonas Hirschi
In welchem Jahr genau der erste Neujahrsempfang stattfand, ist nicht belegt. Die NZZ berichtete jedenfalls bereits am 5. Januar 1873 über den «üblichen Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten des in Bern residierenden diplomatischen Korps» und wohl spielte auch bereits «Der Bund» am 3. Januar 1856 auf den Neujahrsempfang an, als er verkündete: «Am Neujahrstag haben im Bundesrat der Wechsel der Departemente und die üblichen diplomatischen Begrüssungen stattgefunden.» Doch so konsistent wie der Anlass auf den ersten Blick wirkt, ist er nicht. Noch bis 1952 konnten sich die Missionschefs am Neujahrstag gänzlich dereguliert zu einer beliebigen Zeit im Bundeshaus einfinden, um mit dem Bundespräsidenten Glückwünsche auszutauschen. Nur während des Zweiten Weltkriegs wurden die Diplomaten in «zwei feindliche Gruppen» getrennt, «die eine Begegnung zu vermeiden versuchten», wie die NZZ am 3. Januar 1946 berichtete. Nach dem Krieg zeigte sich dann ein Bedürfnis nach einer geordneten Reihenfolge, um ein Gedränge im Vorzimmer des Bundesratszimmers zu vermeiden. «Eine ordre de présance muss unbedingt eingeführt werden», drängte 1946 Protokollchef Jacques-Albert Cuttat, der für die Organisation des Anlasses als Vorsteher des eidgenössischen Protokolldienstes verantwortlich war. Dies geschah dann sechs Jahre später und die Missionschefs durften sich neu gemäss dem Anciennitätsprinzip beim Bundespräsidenten einfinden.
Anstehen für die Begrüssung durch den Bundespräsidenten, 1993.
Anstehen für die Begrüssung durch den Bundespräsidenten, 1993. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Die grösste Änderung erfuhr der Anlass am 3. Dezember 1965. Damals beschloss der Bundesrat, die gestaffelte Audienz im Bundesratszimmer durch einen kollektiven Empfang in der Wandelhalle des Bundeshauses zu ersetzen. Pro diplomatische Vertretung sollten sich maximal vier Personen zehn Minuten vor dem Anlass in der Wandelhalle einfinden und gemäss der «ordre de préséance» in einem Halbkreis anordnen. Der Bundespräsident würde dann mit dem Protokollchef von einer Vertretung zur anderen abschreiten und die Glückwünsche austauschen. Zudem wurde das Datum des Neujahrsempfang vom 1. auf den 10. Januar verschoben. Denn wie es der Vorsteher des Politischen Departements (heute EDA), Bundesrat Max Petitpierre, bereits 1957 richtig formulierte: «Dans la nuit du 31 décembre au 1er janvier, on se couche en général très tard.»
Max Petitpierre
Für Max Petitpierre war der 1. Januar nicht für offizielle Empfänge geeignet. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Parkieren auf dem Bundesplatz war Anfang Januar keine gute Idee. 1976 schleppen Feuerwehr und Polizei einen Wagen ab.
Apropos nicht geeignet: Parkieren auf dem Bundesplatz war Anfang Januar keine gute Idee. 1976 schleppen Feuerwehr und Polizei einen Wagen ab. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Nicht nur die äussere Form des Neujahrsempfangs wurde schrittweise formalisiert, sondern auch der Inhalt des kurzen Austauschs zwischen dem Bundespräsidenten und den Missionschefs wurde stark eingegrenzt. Unstimmigkeiten in der Beziehung der Schweiz zum entsprechenden Land wurden ignoriert, wie 1960 aus einer Notiz des Aussendepartements bezüglich des Umgangs mit Vertretern aus kommunistischen Ländern hervorgeht: «Mit dem meisten Oststaaten haben wir heikle und unangenehme Probleme, die sich nicht dazu eignen, anlässlich des Neujahrempfangs erwähnt zu werden.»

Der unsicht­ba­re Dienst – Geschich­te des diploma­ti­schen Protokolls der Schweiz 1946 – 1990

Der Neujahrsempfang für das diplomatische Corps ist ein zeremonieller Anlass, der durch den Protokolldienst der Eidgenossenschaft organisiert wird. Über die Geschichte dieses Dienstes, der für die Einhaltung des diplomatischen Protokolls in der Schweiz verantwortlich ist, wurde im Mai 2021 in der Reihe Quaderni di Dodis der Band «Der unsichtbare Dienst» von Jonas Hirschi veröffentlicht. Weitere Informationen und Download unter dodis.ch/q18.
Doch trotz dieser Regulierung, Formalisierung und Limitierung konnte der Neujahrsempfang nie gänzlich von politischen Fragen ferngehalten werden. Dabei sorgten insbesondere Abweichungen vom Protokoll für Aufsehen. So liess sich der rumänische Missionschef beim Neujahrsempfang 1949 entschuldigen, weil er nicht im Land weilen würde. Protokollchef André Boissier fand aber daraufhin heraus, dass derselbe am Neujahrstag in Bern gesichtet worden war. Die schweizerische Gesandtschaft in Bukarest brachte zudem in Erfahrung, dass die rumänische Vertretung in Bern von ihrer Regierung angewiesen worden sei, sich möglichst «schroff» gegenüber westlichen Staaten – und damit gegenüber der Schweiz – zu verhalten. Durch das Fernbleiben vom Neujahrsempfang wurde also eine nonverbale Botschaft ausgesendet.
Alles sauber? Der Neujahrsempfang wird jeweils minutiös vorbereitet.
Alles sauber? Der Neujahrsempfang wird jeweils minutiös vorbereitet. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Und auch dort, wo der Protokolldienst eine Politisierung des Neujahrsempfangs eigentlich unterbinden wollte – beispielsweise durch das Einordnen der Missionschefs in der Wandelhalle nach dem Dienstalter – spielten politische Fragen eine grosse Rolle. So hätte sich von 1981 bis 1983 gemäss Anciennität neben dem israelischen Vertreter die Delegation aus dem verfeindeten Emirat Katar einfinden sollen. Die Botschaft Katars beanstandete dies als grossen Fehler, zumal das EDA sich der «ambiguïté d’une telle situation» doch bewusst sein müsse. Protokollchef Hansjakob Kaufmann erklärte, dass die Platzierung nicht aus einem Missgeschick resultierte, sondern unter strikter Einhaltung der «ordre de préséance» erfolgte, dennoch versprach er «une solution pratique» zu finden. Wohl ohne Erfolg, blieb doch gemäss Präsenzliste der katarische Botschafter an den drei Empfängen fern. Er nahm erst 1984 wieder am Neujahrsempfang teil, als der neue israelische Vertreter in der Rangfolge nach hinten rutschte und zwischen den Botschaftern aus Zaire und Ecuador Platz nehmen musste, während sich der katarische Missionschef nun zwischen den Diplomaten der DDR und Dänemark einfand.
Edoardo Rovida und Bundesrat Arnold Koller nützen die Ansprache am Neujahrsempfang 1990 für unterschiedliche politische Botschaften.
Edoardo Rovida und Bundesrat Arnold Koller nützen die Ansprache am Neujahrsempfang 1990 für unterschiedliche politische Botschaften. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Hier gelang es dem Protokolldienst trotz Regulierung und Kompromissbereitschaft nicht, den politischen Aspekt auszuklammern. Der Neujahrsempfang konnte also durchaus politisch instrumentalisiert werden. Auch nach dem Kalten Krieg wurden am Neujahrsempfang politische Botschaften vermittelt. Während Bundespräsident Arnold Koller am Neujahrsempfang 1990 den Aufbruch in den Beziehungen zwischen Osten und Westen hervorhob, betonte der Doyen des Diplomatischen Corps, der apostolische Nuntius Edoardo Rovida, in seiner Antwortrede die noch bestehenden Probleme im Nord-Süd-Gefälle.

Gemein­sa­me Recherche

Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum (SNM) und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Actualités Suisses Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1991 wurden am 1. Januar 2022 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente und Bilder sind online verfügbar: dodis.ch/C1983.

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