Sicht vom Säntisgipfel auf den Seealpsee, um 1890.
Sicht vom Säntisgipfel auf den Seealpsee, um 1890. Fotografie von Albert Riggenbach-Burckhardt. Schweizerisches Nationalmuseum

Mord auf dem Säntis

Im Februar 1922 fielen der Säntis-Wetterwart und seine Frau einem Verbrechen zum Opfer. Neue Erkenntnisse bringen Licht ins Dunkel dieses Beziehungsdeliktes, das weitherum Bestürzung auslöste.

Beat Kuhn

Beat Kuhn

Beat Kuhn ist Regionalredaktor beim Bieler Tagblatt und bereitet dort gelegentlich auch spannende Geschichten aus der Geschichte auf.

Website: Bieler Tagblatt
Am Abend des 21. Februar 1922 wartet man im Telegrafenbüro St. Gallen vergebens auf die Wetterdaten vom Säntis. Das ist damals nichts Aussergewöhnliches, denn im Winter fällt die Telegrafen- und Telefonverbindung mit der meteorologischen Beobachtungsstation durch Schneelast oder Wind immer wieder einmal aus; auf dem exponierten Gipfel auf 2500 Meter über Meer herrschen Windgeschwindigkeiten bis über 200 Kilometer pro Stunde. Am folgenden Tag macht sich Josef Rusch auf, die Leitung zu kontrollieren, begleitet von einem Sohn. Rusch ist einer der «Säntisträger», die regelmässig Brennholz und Essen auf den Gipfel bringen. Die Luftseilbahn wird erst 1935 gebaut.
Die Wetterstation auf dem Säntis im Winter.
Die alte Wetterstation auf dem Säntis im Winter, um 1920. ETH Bibliothek Zürich
Wegen der extremen Schneeverhältnisse – welche die vermutete Ursache zu bestätigen scheinen –, müssen die beiden jedoch unverrichteter Dinge umkehren. Erst am 25. Februar lassen die Verhältnisse einen neuerlichen Versuch zu. Diesmal werden Vater und Sohn noch vom Wirt des Gasthauses auf der Meglisalp begleitet. Sie finden allerdings keine Beschädigungen an der Leitung. Einzig eine Skispur fällt ihnen auf, die einige Tage zuvor entstanden sein muss. Als sie dem Gipfel näher kommen, bemerken sie, dass Heinrich Haas ihnen nicht wie üblich zuwinkt und zujauchzt. Auch steigt kein Rauch aus dem Kamin des dreistöckigen Steinhauses. Arglos vermuten sie, dass der Wetterwart und seine Frau wohl krank seien. Als sie das Gebäude betreten, vernehmen sie ein Bellen und Jaulen aus dem Raum, in dem sich das Telefon und der Morseapparat zum Telegrafieren befinden. Es muss vom Haushund kommen, dessen Name zur häufigen Wetterlage passt: «Sturm». Die Tür zu dem Raum ist abgeschlossen, die drei Männer müssen sie aufbrechen. Ihnen bietet sich ein schreckliches Bild: Neben dem Stehpult am Fenster liegt der leblose Körper von Magdalena Haas in einer Lache von Blut. Das Zimmer ist völlig verwüstet. Böses ahnend, machen sich die drei auf die Suche nach Heinrich. Sie steigen hinauf ins zweite Obergeschoss und durchschreiten von dort den Verbindungstunnel zum Gipfelplateau. Dort finden sie die auf dem Bauch liegende Leiche von Heinrich.
Heinrich Haas wurde auf dem Gipfelplateau von hinten erschossen und fiel bäuchlings in den Schnee.
Heinrich Haas wurde auf dem Gipfelplateau von hinten erschossen und fiel bäuchlings in den Schnee. Staatsarchiv St. Gallen, GA 119/03.2
Magdalena Haas wurde im Büroraum neben dem Stehpult tödlich getroffen.
Magdalena Haas wurde im Büroraum neben dem Stehpult tödlich getroffen. Staatsarchiv St. Gallen, GA 119/03.2
Wie die polizeilichen Untersuchungen ergeben werden, ist Heinrich aus mehreren Metern Distanz von hinten erschossen worden. Auffälligerweise liegt er nicht zwischen dem Steingebäude und dem Windmess-Häuschen, wo er sich primär bewegt haben dürfte, sondern gut 20 Meter von Letzterem entfernt. Möglicherweise ist er von seinem Mörder mit der Waffe bedroht worden, worauf er sich umgedreht und die Flucht ergriffen hat. Das Durcheinander im Büro rührt nach den Erkenntnissen der Polizei nicht von einem Kampf her, sondern ist von «Sturm» angerichtet worden. Der Hund muss fast durchgedreht sein, als er vier Tage lang ohne Wasser und Futter in dem Zimmer eingeschlossen war. Auch Magdalena ist aus einigen Metern Abstand erschossen worden. Eine erste Kugel hat sie verfehlt und ist in die Wand eingeschlagen, eine zweite hat sie tödlich in die Brust getroffen. Als verwendeter Waffentyp wird aufgrund der Projektile eine Pistole der Marke Browning identifiziert. Es sind Dum-dum-Geschosse verwendet worden, die im Körper wie eine explodierende Granate wirken und im Überlebensfall das Leiden vergrössern. Zu solchen kann man nur auf illegalem Wege gelangen oder indem man legal erworbene Munition durch Manipulation mit einer Feile manipuliert. Der Abreisskalender zeigt den 21. Februar an und bestätigt damit, dass dies der Tag des Doppelmordes war.
Heinrich Haas im Arbeitszimmer der Wetterwarte mit Säntishund «Sturm».
Heinrich Haas im Arbeitszimmer der Wetterwarte mit Säntishund «Sturm». photobibliothek.ch
Säntisträger Rusch und sein Sohn, die den Wetterwart begrüssen
Ebenso wichtig wie der Wetterwart waren die Säntisträger. Sie brachten Brennholz und Essen auf den Gipfel. Hier Säntisträger Rusch und sein Sohn, die den Wetterwart begrüssen. Sie sollten später die Ermordeten finden. photobibliothek.ch

Opfer und Täter kennen sich

Säntisträger Rusch weiss von Anfang an, dass nur einer als Täter in Frage kommt: Es muss jener ungebetene Gast gewesen sein, über den sich Magdalena Haas am 19. Februar in einem Telefonat mit seiner Frau beschwert hat, weil er auch nach drei Tagen noch keinerlei Anstalten gemacht hat, zu gehen. In dem Gespräch hat sie auch dessen Namen genannt: Es handelt sich um Gregor Kreuzpointner, einen gebürtigen Deutschen, der aber vor einigen Jahren eingebürgert worden war. Der 29-Jährige und das Ehepaar Haas haben sich gekannt. Denn zeitweise war er Mitglied im selben Bergsteigerverein wie Heinrich und gemäss Gästebuch auch schon dreimal auf dem Gipfel, seit sie dort die Wetterstation betreiben. Sicher haben die beiden auch gewusst, dass Kreuzpointner unter Heinrichs Mitbewerbern um die Stelle als Säntiswart gewesen war. Am 26. Februar wird der Doppelmörder zur Fahndung ausgeschrieben, mit Foto und Beschreibung steckbrieflich gesucht. In den vier Tagen bis zum Auffinden der Leichen hätte Kreuzpointner genügend Zeit gehabt, das Weite zu suchen. Doch er bleibt in der Region und wird diverse Male gesehen, wie sich später zeigt. Da zu jenem Zeitpunkt noch niemand von seinem Verbrechen weiss, meldet ihn niemand der Polizei. Magdalenas Schmuck versetzt er, und die Tatwaffe übergibt er unter mysteriösen Umständen einer Drittperson, welche diese bei der Polizei abliefert.

Zum Sterben schön…

Am Nachmittag des 4. März wird Kreuzpointner unterhalb der Schwägalp, auf der sich die Talstation der Säntis-Schwebebahn befindet, in einem Stadel erhängt aufgefunden. Gemäss Obduktion ist der Tod am Morgen desselben Tages eingetreten. Damit kommt der Mörder wohl einer Verurteilung zum Tode zuvor, weil in beiden für das Gerichtsverfahren in Frage gekommenen Kantonen damals noch die Todesstrafe existiert, sowohl St. Gallen wie auch Appenzell Innerrhoden. Die Vorgeschichte dieser Tragödie beginnt im Jahr 1919, in dem der vormalige Wetterwart, der mit seiner Frau 30 Jahre auf dem Berg gelebt hat, in den Ruhestand tritt. Seit 1846 gibt es auf dem Säntis ein einfaches Gasthaus – vom ersten Besitzer ironisch «Grand Hotel Thörig» genannt –, in dem ein Zimmer ab 1882 als Wetterstation genutzt wird. Ab 1887 steht dem Wetterwart das eigens dafür erstellte Steingebäude zur Verfügung. Über 50 Bewerber soll es für die aussergewöhnliche Stelle gegeben haben. Obenaus schwingt am Ende Heinrich Haas, ein gebürtiger Appenzeller, der ein begeisterter Berggänger ist. Er hat eigentlich Bäcker gelernt, arbeitet zu jener Zeit aber als Kondukteur in Zürich. Der 33-Jährige wird genommen und hat damit seinen Traumjob gefunden. Denn bereits als er den Säntis das erste Mal bestiegen hat, hat er geschwärmt: «Dort oben ist es zum Sterben schön.»
Blick auf den Säntis, 1932.
Blick auf den Säntis, 1932. Schweizerisches Nationalmuseum
Im Oktober 1919 zieht Haas mit seiner Frau Magdalena in der Wetterstation ein. Sie, mit der er seit 1911 verheiratet ist, ist seine zweite Frau: Seine erste ist 1909 nach bloss fünf Monaten Ehe gestorben, drei Monate nach der Geburt von Tochter Bertha. Diese bekommt Ende 1911 eine Halbschwester, Helena. Die Kinder wohnen im Tal unten bei der Mutter von Magdalena Haas, nur in den Ferien sind sie bei den Eltern oben. Bertha hat ihre Stiefmutter später als bescheiden, gutherzig und ordnungsliebend beschrieben, ihren Vater als Helfer, Ratgeber und Menschenfreund, der stets munter und liebenswürdig gewesen sei. Das Paar habe eine glückliche Ehe und ein weitgehend konfliktfreies Leben geführt. Heinrich war ein begeisterter Hobbyfotograf und hat das Leben auf dem Berg reichlich mit Bildern dokumentiert. Auch Glasplatten-Stereoaufnahmen sind darunter.
Magdalena Haas als Coiffeuse ihres Mannes Heinrich. Hund «Sturm» schaut zu. Das Foto entstand per Selbstauslöser.
Magdalena Haas als Coiffeuse ihres Mannes Heinrich. Hund «Sturm» schaut zu. Das Foto entstand per Selbstauslöser. photobibliothek.ch
Auch für Gregor Kreuzpointner wäre dies ein Traumjob gewesen. Er ist aber von vornherein chancenlos, weil er keine Frau hat, wie in der Stellenausschreibung verlangt wird, damit auch die Stellvertretung gesichert ist. Er ist 1911 aus Oberbayern in die Schweiz ausgewandert. Zunächst wohnt der gelernte Schuster in Herisau und arbeitet in einer Fabrik, die Gummi produziert. Als leidenschaftlicher Kletterer und Skifahrer geht er in seiner Freizeit oft in die Berge. Im SAC Säntis, dessen Mitglieder vorwiegend aus der Oberschicht stammen, kommt der sportliche Mann aus der Unterschicht gut an. Er kann offenbar sehr einnehmend sein. Es gibt allerdings auch weniger schmeichelhafte Charakterisierungen. So beschreibt ihn ein Bergkamerad als ausgesprochen «ichbezogen und gefühlskalt». Einmal meint er zum Beispiel, dass man Bergunerfahrenen in Not nicht helfen, sondern diese «verrecken lassen» solle. Als der deutsche Kaiser am 31. Juli 1914 den Kriegszustand anordnet, stellt Kreuzpointner schleunigst ein Einbürgerungsgesuch, da er sonst eingezogen wird, und er bekommt den Schweizer Pass auch zügig. Im Februar 1919 zieht er innerhalb des Halbkantons Ausserrhoden um nach Trogen und eröffnet dort eine Schuhmacherwerkstatt. Nachdem er nicht Säntiswart geworden ist, zieht er im Dezember 1919 in die Stadt St. Gallen und versucht sich dort ein zweites Mal als selbstständiger Schuhmacher. Wegen alter Schulden wird über den Spezialisten für Berg- und Skischuhe im Dezember 1921 der Konkurs verhängt. Zwar findet er eine Anstellung als Schuhmacher bei der Schuhhandlung in Romanshorn, die er am 30. Januar 1922 auch antritt. Aber schon nach einer Woche wirft er das Handtuch.
Der Steckbrief für den Doppelmörder Gregor Kreuzpointner enthielt eine überaus detaillierte Beschreibung seiner Person und der Tat. Er wurde auch im grenznahen Gebiet von Deutschland und Österreich ausgehängt.
Der Steckbrief für den Doppelmörder Gregor Kreuzpointner enthielt eine überaus detaillierte Beschreibung seiner Person und der Tat. Er wurde auch im grenznahen Gebiet von Deutschland und Österreich ausgehängt. Staatsarchiv St. Gallen, GA 119/03.2
Am 16. Februar steigt er bei widrigen Schneeverhältnissen zum Säntisgipfel auf. Es ist bereits das vierte Mal, dass er dort oben auftaucht, also ist sein Kommen für Magdalena und Heinrich Haas nichts Besonderes. Vielleicht freuen sich die beiden anfangs sogar über die Abwechslung, die er bringt. Sie bewirten ihn, und er kann im Gästezimmer übernachten. Dass er dann gleich tagelang bleibt, begründet er mit dem schlechten Wetter, wie Magdalena am Abend des 20. Februar dem Telegrafenbüro St. Gallen mitteilt. Sie merkt allerdings an, dass ihr dies als Ausflucht erscheine, denn er sei ein guter Skifahrer. Sie meldet sich heimlich, denn Kreuzpointner hat das Ehepaar angewiesen, nichts über seinen Aufenthalt verlauten zu lassen. Am Morgen des 21. Februar meldet sich Magdalena erneut telegrafisch und teilt mit, dass Kreuzpointner angesichts des schönen Wetters nun endlich Anstalten mache, zu gehen. Das ist das letzte Lebenszeichen vom Gipfel. Aufgrund des bei der Obduktion vorgefundenen Magen- und Darminhaltes kann erschlossen werden, dass Magdalena spätestens zwei Stunden nach dem Mittagessen ermordet worden ist, Heinrich schon eine halbe oder ganze Stunde vorher. Da Kreuzpointner eine Pistole bei sich hatte, wird er von Anfang an vorgehabt haben, die beiden zu erschiessen. Er scheint sie dafür verantwortlich zu machen, dass nicht er die für ihn so attraktive Stelle des Säntiswartes erhalten hat, die noch dazu sehr gut bezahlt ist. Im kurzen Abschiedsbrief an seine Freundin erwähnt er die Tat mit keinem Wort.

Makaberes Hin und Her um die Leichen

Um die kantonale Zuständigkeit für das Verbrechen kam es damals zu einem Gerangel unter Fachleuten: Auf dem Säntisgipfel kommen die Grenzen des Kantons St. Gallen sowie der beiden Halbkantone Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden zusammen. Die Leiche von Magdalena Haas wurde klar auf Territorium von Innerrhoden gefunden, da sich die Wetterwarte voll und ganz auf diesem befindet. Heinrichs Leiche lag hingegen an einer Stelle, für welche der Grenzverlauf zwischen St. Gallen und Innerrhoden auf der Karte zu ungenau eingezeichnet war, als dass sie eindeutig zugeordnet werden konnte. Darum wurden die polizeilichen und anatomischen Ermittlungsarbeiten zwischen Innerrhoden und St. Gallen aufgeteilt. Kreuzpointners Leiche wurde auf dem Gebiet der ausserrhodischen Gemeinde Urnäsch gefunden. Ein Grab auf dem dortigen Friedhof wurde ihm jedoch verwehrt, mit der Begründung, dass dies zu einer «Entweihung des Friedhofs» geführt hätte. Auch sein Bürgerort Herisau und die Stadt St. Gallen, wo er zuletzt seine Schriften hatte, wollten den Übeltäter nicht auf ihrem Grund und Boden haben. Damit verstiessen die drei alle gegen die Bundesverfassung. Denn gemäss dieser haben die Behörden dafür zu sorgen, «dass jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden kann». Die Leiche wurde dem Anatomischen Institut der Universität Zürich für Studienzwecke zur Verfügung gestellt. Den Transport bezahlten die drei Gemeinden.
Beerdigung des Ehepaares Haas auf dem Friedhof von Appenzell am 1. März 1922
Beerdigung des Ehepaares Haas auf dem Friedhof von Appenzell am 1. März 1922. photobibliothek.ch
Die Nachricht von dem Doppelmord verbreitet sich wie ein Lauffeuer und löst weitherum Bestürzung aus. Nach fasnächtlicher Ausgelassenheit ist in der katholischen Region niemandem mehr zumute. Wie gross die Anteilnahme ist, zeigt sich am Trauerumzug, der am 1. März in Appenzell stattfindet: Dichtgedrängt stehen die Menschen am Strassenrand, als die beiden Särge durch die Strassen zum Friedhof getragen werden. In einem sogenannten Grab-Gedicht, das in der Lokalzeitung abgedruckt wird, heisst es: «Man kann es nicht fassen, man will es nicht glauben und fragt sich nur immer: Wie konnt’ dies geschehen? Es könnte den Glauben an Gott uns fast rauben! Warum, Schöpfer, liessest die Tat du begeh’n?» Die grosse Anteilnahme umfasst auch die beiden zu Vollwaisen gewordenen Töchter. Eine Sammelaktion bringt viel Geld ein, und weil auch von der Hinterbliebenenversicherung finanzielle Unterstützung kommt, braucht man sich um die Zukunft der beiden Mädchen keine Sorgen zu machen. Beide erhalten einen Vormund, der bis zur Volljährigkeit ihre Interessen wahrnimmt. Zunächst kommen beide bei Verwandten unter, dann einzeln bei Pflegeeltern. Sogar der Verbleib von Hund «Sturm» wird in den Akten erwähnt: Heinrichs Bruder übernimmt ihn.
Dieser Artikel wurde vom Bieler Tagblatt übernommen. Er ist dort am 19.2.2022 unter dem Titel «Dort oben ist es zum Sterben schön» publiziert worden.

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