
Europapolitisches Schicksalsjahr
1992 war für die Schweiz ein Schicksalsjahr, welches das Land in ihre europapolitischen Bahnen von heute lenkte.
Die diesbezügliche entscheidende Weichenstellung erfolgte an der ausserordentlichen Bundesratssitzung vom 18. Mai. Während die Vertreter der lateinischen Schweiz die Ausgangslage günstig für ein rasches Vorpreschen in Sache EG-Beitritt erachteten, fürchteten die Bundesräte Koller und Ogi zunächst, dies könnte die Abstimmungen über den EWR sowie über die Neue Alpentransversale (NEAT) belasten. Bundesrat Stich wollte verhindern, dass ein EG-Beitrittsgesuch nach einem EWR-Nein wieder zurückgezogen werden müsste und Bundesrat Villiger betonte, dass der EWR «eine echte Chance» habe, während die Beitrittsfrage «immer noch sehr kontrovers» sei.
In der Folge richteten sich die Bundesräte Felber und Delamuraz gezielt an Ogi: Ein Verhandlungsgesuch nach der NEAT-Abstimmung im September wäre nicht glaubwürdig. Auch wenn der Bundesrat bis zur Präsentation des EG-Erweiterungsfahrplans im Juni zuwarten würde, liesse sich der Eindruck im Schlepptau der EG zu agieren nicht mehr abwenden. In einer zweiten Diskussionsrunde gab Ogi seine Opposition auf und wurde damit zum Zünglein an der Waage. Zwei Tage später verabschiedete der Bundesrat die Gesuche um Beitrittsverhandlungen an die EG.
Dessen ungeachtet wurde die schweizerische Europapolitik im Parlament breit debattiert. Bekanntester und schlagkräftigster Gegner der bundesrätlichen Integrationspolitik war der Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Blocher, der einem Vertrag mit «dermassen entwürdigenden Bestimmungen für unser Volk» nicht zustimmen wollte. «Wir müssen halt bilaterale Verträge erzwingen», forderte er in einer Sitzung der Wirtschaftskommission im August 1992. «Vous êtes excellent quand il s’agit de dire pourquoi les choses vont mal, mais vous êtes faible pour dire comment il faudrait faire en positif», konterte Pascal Couchepin. Der Walliser FDP-Nationalrat beobachtete «beaucoup plus d’émotions que de réflexions» in der Deutschschweizer EWR-Debatte. «Mais si le débat devient émotionnel, on détruit la démocratie et la capacité d’avancer sur une base commune». Der Ständerat beschäftigte sich derweil bereits mit den notwendigen Anpassungen von rund 1500 Schweizer Rechtsakten, die im Falle eines EWR-Ja an den Acquis communautaire der EG angepasst werden mussten. Noch einen Schritt weiter dachte die Arbeitsgruppe «Eurovision» des EDA, die in einem Arbeitspapier festhielt: «Die EG-Mitgliedschaft bildet den Schlüssel für eine auf die Mitgestaltung ihres aussenpolitischen Umfeldes bedachte Schweiz». Insofern sei der Beitritt kein Ziel, sondern ein Mittel der schweizerischen Aussenpolitik.
Rückblick auf die EWR-Abstimmung von 1992. YouTube / SRF
Anlässlich des Treffens verabschiedeten die Aussenminister der KSZE-Staaten ihrerseits eine Konvention über die friedliche Streitbeilegung, die seit jeher ein Anliegen der Schweizer Diplomatie darstellte. Dass der damit verbundene Schlichtungs- und Schiedsgerichtshof in Genf gebildet werden sollte, galt als Krönung der langjährigen Bemühungen – und als glückliche Initiative für das internationale Genf, das 1992 im Standortwettbewerb einige herbe Niederlagen einstecken musste. Beim Sitz des Sekretariats der Organisation für das Verbot chemischer Waffen unterlag die Genfer Kandidatur Den Haag; das Sekretariat der Kommission für nachhaltige Entwicklung, das die Folgearbeiten des «Erdgipfels von Rio» innerhalb des UNO-Systems koordinieren sollte, wurde trotz einer aufwändigen schweizerischen Kampagne in New York angesiedelt.
Die KSZE selbst verschrieb sich 1992 ganz der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, die nach dem Umbruch im sicherheitspolitischen Gefüge Europas akut gefordert war. Es ging um den Krieg in Bosnien und Herzegowina sowie um die Auseinandersetzungen in Bergkarabach, Transnistrien und Abchasien, wo die KSZE künftig in Zusammenarbeit mit der NATO und der Westeuropäischen Union (WEU) Peacekeeping-Operationen durchführen sollte. Der Bundesrat präsentierte seinerseits einen Fahrplan, wie ab Ende 1994 ein erstes schweizerisches Blauhelmbataillon der UNO und der KSZE zur Verfügung gestellt werden könnte.
Sicherheitspolitische Integration und europäischer Alleingang – das Jahr 1992 endete ambivalent. Wie die Schweiz damit umgehen und sich im folgenden Jahr im internationalen Gefüge positionieren wollte, werden die Akten zeigen, die am 1.1.2024 der Öffentlichkeit zugänglich werden.
Gemeinsame Forschung

Der vorliegende Text ist das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen dem Schweizerischen Nationalmuseum und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Das SNM recherchiert im Archiv der Agentur Actualités Suisses de Lausanne (ASL) Bilder zur schweizerischen Aussenpolitik und Dodis kontextualisiert diese Fotografien anhand des amtlichen Quellenmaterials. Die Akten zum Jahr 1992 wurden am 1. Januar 2023 auf der Internetdatenbank Dodis publiziert. Die im Text zitierten Dokumente und weitere Akten aus dem Band Diplomatische Dokumente der Schweiz 1992 sind online verfügbar.


