Serie Schweizer Pässe, 1915–2003.
Serie Schweizer Pässe, 1915–2003. Schweizerisches Nationalmuseum

Gegen willkür­li­che Einbürgerungsentscheide

Den Gemeinden kommt bei der ordentlichen Einbürgerung eine Schlüsselrolle zu. Damit verbunden ist die Gefahr willkürlicher oder diskriminierender Einbürgerungsentscheide. Die in der Bundesverfassung verbrieften Grundrechte stellen dazu ein wichtiges Korrektiv dar.

Regula Argast

Regula Argast

Prof. Dr. Regula Argast ist Professorin für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Bern und Dozentin an der FernUni Schweiz. Sie ist Redakteurin der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte (SZG).

An einem kalten Wintermorgen 1963 tritt die 20-jährige Einbürgerungskandidatin Vittoria Zanetti (Name geändert) vor die Bürgerkommission des Basler Bürgerrats. Vittoria ist in Basel geboren und aufgewachsen. Ihr Vater stammt aus Italien, ihre Mutter aus Basel. Die Bürgerrechtskandidatin, wie ihr Vater italienische Staatsbürgerin, hat nach den Basler Schulen eine Lehre zur Dentalassistentin absolviert. Die Einbürgerungsbewilligung des Bundes liegt vor. Zwei erste Befragungen durch das Bürgerrechtsbüro, Arbeitszeugnisse und Informationen aus dem Bekanntenkreis haben nichts Nachteiliges ergeben. Im altehrwürdigen Basler Stadthaus muss Vittoria Zanetti den elf Damen und Herren der Bürgerkommission Rede und Antwort stehen. Die Kommissionsmitglieder sitzen an einem Tisch, einzelne noch ins Gespräch vertieft. Während «eine[r] geraume[n] Zeit», so wird man später aus den Rekursschriften von Zanettis Anwalt an den Basler Regierungsrat und das Bundesgericht vom April und Oktober 1964 gegen das abgelehnte Gesuch erfahren, ist die Kandidatin «unsicher», «ob die ‹offizielle› Befragung überhaupt schon begonnen» hat. Unvermittelt stellt eine Bürgerrätin die erste Frage: Ob Vittoria Zanetti «wisse, weshalb Damen in diesem Saal sässen». Das hat «wohl etwas mit dem Frauenstimmrecht zu tun», antwortet die Gefragte etwas vage. Tatsächlich hatten die Basler Bürgerinnen am 7. Dezember 1958 das Stimm- und Wahlrecht der Bürgergemeinde erhalten.
Elisabeth Vischer­-Alioth hält am 5. Dezember 1961 als Alterspräsidentin des weiteren Bürgerrats (heute Bürgergemeinderat) im Sitzungszimmer des Gemeindeparlaments eine Rede.
Elisabeth Vischer­-Alioth hält am 5. Dezember 1961 als Alterspräsidentin des weiteren Bürgerrats (heute Bürgergemeinderat) im Sitzungszimmer des Gemeindeparlaments eine Rede. Drei Jahre zuvor erhalten die Basler Bürgerinnen das Stimm-­ und Wahlrecht in der Bürgergemeinde. Die Fotografie von Hans Bertolf erscheint am 6. Dezember 1961 in der Basler National-Zeitung. Staatsarchiv Basel-Stadt
Auf Vittorias Antwort, so ist den Akten weiter zu entnehmen, reagiert die «fragende Dame [...] sauer». Auch scheint die «betreffende Frau Bürgerrätin das Bedürfnis [zu empfinden], Pralinés aus einer offenen vor ihr stehenden Tüte zu essen». Ein Bürgerrat will wissen, wie man «nach Olten oder Luzern» kommt. Vittoria antwortet spontan: «Den Wegweisern nach.» Und nun gibt ein Wort das andere. Der Bürgerrat: «Gehen Sie zu Pferd?» Zanetti: «Nein, mit dem Wagen.» Und wieder der Bürgerrat: «[W]as, e Wage hän Si au?». Das Gesuch wird abgelehnt. Die offizielle Begründung gemäss Paragraf 2d des damals geltenden Basler Bürgerrechtsgesetzes lautet: «notorisch anstössiger Lebenswandel». Vittoria Zanettis Fall war einer von rund 20 Fällen zwischen 1950 und 1969, in denen ausländische Bürgerrechtsbewerbende gegen die Abweisung ihres Gesuchs im Kanton Basel-Stadt Rekurs einlegten. Dabei handelte es sich um Zugewanderte der ersten und zweiten Generation, hauptsächlich um Deutsche und Italienerinnen und Italiener. Nach 15-jährigem Wohnsitz im Kanton bestand für unter 45-Jährige ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung.
In diesem altehrwürdigen Saal muss sich die Seconda 1963 den Fragen der Bürgerkommission stellen.
In diesem altehrwürdigen Saal muss sich die Seconda 1963 den Fragen der Bürgerkommission stellen. Ihr Einbürgerungsgesuch wird abgelehnt. Später begründet die Bürgergemeinde der Stadt Basel die Ablehnung damit, dass die Einbürgerungskandidatin «vor allem mit ihrer Wahlheimat ungenügend verbunden sei». Bürgerratssaal im Stadthaus Basel. Staatsarchiv Basel-Stadt
Paragraf 2d war ein Relikt aus dem Jahr 1902. Damals wollten der Bund und Kantone wie Basel, Zürich und Genf die Einbürgerung erleichtern. Angesichts der steigenden Zahlen der ausländischen Wohnbevölkerung sollte deren staatsbürgerliche Integration gefördert werden. Zwar scheiterte der Versuch um 1900, ein bundesweites ius soli einzuführen. Der Kanton Basel-Stadt weitete aber mit dem Gesetz vom 19. Juni 1902 das bestehende Recht auf unentgeltliche Einbürgerung aus und führte ein Rekursrecht ein. Zu den Ausschlusskriterien gehörte, wie bereits im Gesetz von 1879, unter anderem das Kriterium des «notorisch anstössigen Lebenswandels». Galt der Lebenswandel einer Person als offensichtlich «anstössig», verhinderte das die Einbürgerung. Die Auslegung des Paragrafen wurde immer weiter, seit sich nach dem Ersten Weltkrieg das Schlagwort der «Überfremdung» auch in der Einbürgerungspolitik des Kantons Basel-Stadt durchgesetzt hatte. So wies der Regierungsrat in seiner Stellungnahme an das Bundesgericht vom 24. November 1964 im Fall Zanetti darauf hin, dass das Einbürgerungshindernis des «notorisch anstössigen Lebenswandels» in Basel traditionellerweise als eine «Generalklausel» gelte. Entsprechend argumentierte die Bürgergemeinde in ihrem Schreiben an das Bundesgericht vom 16. November 1964: Der «Abweisungsgrund des ‹notorisch anstössigen Lebenswandels›» werde «gemäss jahrzehntelanger Praxis sehr extensiv interpretiert». Darunter würden alle Bewerber fallen, «die wegen ihrer politischen Einstellung, wegen unerfreulicher Charaktereigenschaften oder mangelnder Assimilation abgewiesen werden». So habe die Prüfung des Gesuchs von Vittoria Zanetti ergeben, dass sie «unreif, mit verschiedenen charakterlichen Mängeln behaftet und vor allem mit ihrer Wahlheimat ungenügend verbunden sei».
Der Kanton Basel­-Stadt lehnt das Gesuch einer jungen Italienerin ab, die sich in den 1960er-Jahren einbürgern lassen will.
Der Kanton Basel­-Stadt lehnt das Gesuch einer jungen Italienerin ab, die sich in den 1960er-Jahren einbürgern lassen will. Die Kandidatin sei zwar «in Basel geboren, aufgewachsen, habe hier die Schulen besucht und ihre Arbeitsstellen gefunden» und sie habe «in Basel Verwandte, Freunde und Bekannte». All das reicht dem Basler Regierungsrat aber nicht als «strikte[r] Nachweis» ihrer «Assimilation». Staatsarchiv Basel-Stadt
Das Bundesgericht liess die Argumentation nicht gelten und hiess die Beschwerde Zanettis am 23. Dezember 1964 gut. Die Bundesrichter leiteten aus Artikel 4 der damals geltenden Bundesverfassung – «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich» – ein Willkürverbot ab: «eine vielleicht freche Antwort auf eine nicht gerade geschickte und auch nicht eindeutige Frage sowie mangelndes Wissen über unsere Institutionen und Verhältnisse» könnten «keinesfalls unter den Begriff ‹notorisch anstössiger Lebenswandel› fallen». Darüber hinaus kritisierten die höchsten Richter die Auslegung des Basler Bürgerrechtsgesetzes als «unhaltbar». Diese lasse sich nicht mit einer «jahrzehntelangen Praxis» rechtfertigen. Vittoria Zanetti wurde in der Folge ins Basler Bürgerrecht aufgenommen. Im selben Jahr revidierte der Basler Gesetzgeber das Bürgerrechtsgesetz. Der Passus «notorisch anstössiger Lebenswandel» fiel weg. Das neue Gesetz vom 19. März 1964 führte jedoch vor dem Hintergrund des damals schweizweit neu aufgelegten und vor allem gegen Süditalienerinnen und Süditaliener gerichteten Überfremdungsdiskurses die Assimilationsforderung ein. In den 1960er- und 1970er-Jahren fand die restriktive Einbürgerungspolitik schweizweit einen Höhepunkt.
In seinem Einbürgerungsleitfaden aus dem Jahr 1968 definiert Marc Virot, Vorsteher der Berner Fremdenpolizei, erwünschte Tugenden einer einbürgerungswilligen Person
In seinem Einbürgerungsleitfaden aus dem Jahr 1968 definiert Marc Virot, Vorsteher der Berner Fremdenpolizei, erwünschte Tugenden einer einbürgerungswilligen Person: «Pünktlichkeit, Genauigkeit, Gründlichkeit, Ordnung, Perfektion, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Ruhe, Gewissenhaftigkeit, Zucht, Disziplin, Bürgerlichkeit, Solidarität, Verantwortungssinn, sozialer Friede.» Buchcover; Zitat S. 88. Regula Argast
Doch auch in den 1990er-Jahren, als das Kriterium der Assimilation allmählich durch dasjenige der Integration ersetzt wurde, kam es im schweizerischen Einbürgerungswesen zu Missständen. Der wohl berühmteste Fall war derjenige der Gemeinde Emmen. Zwischen 1999 und 2003 lehnten die dortigen Bürgerinnen und Bürger die Gesuche von Menschen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens aufgrund ihrer Herkunft in geheimer Abstimmung ab. Doch auch hier hiess das Bundesgericht die Beschwerde am 9. Juli 2003 gut. Es berief sich neu auf das Diskriminierungsverbot in Artikel 8 der totalrevidierten Bundesverfassung vom 18. April 1999. Seither gelten Einbürgerungen an der Urne als unzulässig.

Der Bund regelt Erwerb und Verlust der Bürger­rech­te durch Abstam­mung, Heirat und Adoption

Bundesverfassung von 1999, Artikel 38, Absatz 1

Weitere Beiträge