Mystisch und eindrucksvoll: Die Menhire von Clendy.
Mystisch und eindrucksvoll: Die Menhire von Clendy. Foto: Thomas Weibel

Stonehenge made in Switzerland

Die Menhire von Clendy sind eindrucksvolle Zeitzeugen der Steinzeit. Die Anlage am Südufer des Neuenburgersees ist ebenso mystisch wie geheimnisvoll und ermöglicht eine Reise in längst vergessene Zeiten.

Thomas Weibel

Thomas Weibel

Thomas Weibel ist Journalist und Professor für Media Engineering an der Fachhochschule Graubünden und der Hochschule der Künste Bern.

Am Südufer des Neuenburgersees, unmittelbar vor der Ortstafel von Yverdon und wenige Meter von der Strasse entfernt, liegen die alignements de Clendy, eine eindrucksvolle, aus insgesamt 45 Steinblöcken bestehende steinzeitliche Anlage. Als die erste Juragewässerkorrektion (1868–1891) den Seespiegel um fast drei Meter sinken liess, tauchten im Sumpfgebiet rätselhafte Menhire auf, die ihr Entdecker, der Ingenieur Charles de Sinner, erstmals 1887 in einem Aufsatz beschrieb: «Am Fuss einer kleinen Treppe ans Seeufer (die normalerweise für Badende bestimmt ist) begegnet man drei kleinen kristallinen Blöcken, und rund 100 Meter weiter den ersten grossen Blöcken der Hauptgruppe.»
Plan der Anlage, erstellt von Entdecker Charles de Sinner 1877.
Plan der Anlage, erstellt von Entdecker Charles de Sinner 1887. Bulletin de la Société vaudoise des sciences naturelles Nr. 23
Dass es sich nicht um gewöhnliche Findlinge handelte, war de Sinner auf Anhieb klar: «Die Höhe der Steine bewegt sich meistens zwischen einem und drei Metern, ihre Dicke zwischen 80 und 150 Zentimetern. Einzelne dagegen sind mehr als 4 Meter hoch. (…) Während die einen Felsblöcke tief in den Boden eingelassen sind, scheinen andere bloss hingestellt worden zu sein. Dieser Umstand, das flache Gelände und die quasi-militärische Anordnung in zwei Reihen haben mich von Anfang an auf eine von Menschen gebaute Anlage deuten lassen.» Indes, fast 100 Jahre lang geriet die megalithische Anlage wieder in Vergessenheit. Erst 1975 brachten Ausgrabungen die ursprünglichen Gruben mitsamt den dazugehörigen Keilsteinen zutage, in denen die grossen Blöcke ursprünglich gestanden hatten. 1981 wurde die Anlage ein weiteres Mal eingehend untersucht und präzise kartiert. Um Diebstählen vorzubeugen, wurden die kleinsten Blöcke durch Kopien aus Beton ersetzt; die Originale befinden sich im Museum von Yverdon.
Anfang März 1975 mutmasste das Journal du Jura über die Menhire von Clendy.
Anfang März 1975 mutmasste das Journal du Jura über die Menhire von Clendy. e-newspaperarchives
Die wissenschaftlichen Befunde brachten Überraschendes an den Tag. Viele der bis zu fünf Tonnen schweren Megalithen zeigen menschenähnliche Züge: ein angedeuteter Kopf, zwei aus dem Stein gemeisselte Schultern. Damit sind sie nicht einfach Felsen, sondern vielmehr Statuen; ob sie Götter, Vorfahren, Herrscher oder Helden darstellen sollten, bleibt im Dunkeln. Stilvergleiche mit Menhiren aus der Bretagne lassen den Schluss zu, dass die alignements aus der Zeit von 4500–4000 v. Chr. stammen. Die Anlage wurde möglicherweise bis in die Bronzezeit (2300 bis 850 v. Chr.) genutzt und in dieser Zeit kontinuierlich ausgebaut. Wenn die Archäologie vor einem Rätsel steht und Quellen fehlen, ist rasch von einem «Heiligtum» die Rede. Die Anlage von Clendy könnte durchaus kultischen Zwecken gedient haben. Sie könnte aber auch ein prähistorischer Kalender gewesen sein. Für die Forschung ist eine genaue Kenntnis von Position und Ausrichtung der Steine entscheidend. Und genau damit gab es ein Problem: 1986 hatte ein lokaler Bauunternehmer die Blöcke umplatziert – allerdings mehr nach Kriterien der Ästhetik als der Wissenschaft. Glücklicherweise erwiesen sich die Daten aus früheren Untersuchungen aber als so genau, dass sich die Anlage dennoch präzise rekonstruieren lässt.
Schön und geheimnisvoll. Bis heute weiss man nicht ganz genau, welchem Zweck die Menhire in Clendy gedient hatten.
Schön und geheimnisvoll. Bis heute weiss man nicht ganz genau, welchem Zweck die Menhire in Clendy gedient hatten. Wikimedia
In vielen prähistorischen Kulturen gibt es Hinweise auf eine grosse religiöse Bedeutung des Mondes für die damaligen Menschen. Am Himmel aber ist der Mond ein unsteter Geselle. Weil er sich auf einer Bahn um die Erde bewegt, die um fünf Grad gegen die Erdumlaufbahn geneigt ist wandern die Punkte seines Auf- und Untergangs jedes Jahr hin und her. Nur ist der Winkel zwischen den beiden Mondauf- beziehungsweise Untergangspunkten nicht immer gleich gross: Die Ebene der Mondbahn vollführt im Raum eine leichte Drehbewegung, und der Winkel erreicht alle 18,6 Jahre sein Maximum, jeweils 9,3 Jahre später sein Minimum. Die beiden nördlichsten und südlichsten Punkte von Mondauf- oder -untergang nennt man Mondwenden.
War Clendy vielleicht eine Kultstätte für den Mond? Stereobild eines Vollmondes. Aufgenommen von Professor Henry Draper, um 1880.
War Clendy vielleicht eine Kultstätte für den Mond? Stereobild eines Vollmondes. Aufgenommen von Professor Henry Draper, um 1880. Schweizerisches Nationalmuseum
Astronomische Untersuchungen zeigen nun, dass die Steinreihen von Clendy in Winkeln von 222 beziehungsweise von 246 Grad angelegt sind und eine Art natürlicher Visierlinien bilden. Sie zeigen genau auf jene zwei Punkte am Horizont, an denen vor sechs Jahrtausenden der Monduntergang einmal in 18,6 Jahren seine beiden südlichsten Punkte erreichte, die sogenannte «kleine» und die «grosse südliche Mondwende». Stand ein Himmelsbeobachter genau am Schnittpunkt der beiden Steinreihen ganz im Nordosten der Anlage und blickte über ihre Kuppen, konnte er bei Monduntergang ablesen, wann genau eine der beiden Mondwenden erreicht war – ein wichtiges Ereignis in jedem prähistorischen Kalender. Forscher mutmassen, dass auch die vier äussersten Steine der Anlage von Stonehenge bei Amesbury in Südengland, die sogenannten «Stationssteine», auf die Mondwenden hin ausgerichtet waren. War die Megalithanlage bei Yverdon also ein Tempel? Ein steinzeitliches Observatorium? Beides? Was immer es war: Einen Monduntergang in den Alignements von Clendy zu erleben, ist eine Zeitreise zurück in die Anfänge der Astronomie.

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