Jungsteinzeitlicher Menhir in der Ausstellung «Menschen. In Stein gemeisselt» im Landesmuseum Zürich.
Jungsteinzeitlicher Menhir in der Ausstellung «Menschen. In Stein gemeisselt» im Landesmuseum Zürich. Schweizerisches Nationalmuseum

Geburt der Götter

Vor 5000 Jahren begannen die Menschen in Europa, Steinstelen mit menschlichen Formen aufzustellen. Sie waren Abbilder von Ahnen, die der Festigung der Dorfgemeinschaft durch Rituale dienten und Landbesitz legitimierten.

Ina Wunn

Ina Wunn

Ina Wunn ist Professorin für Religionswissenschaft an der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover.

Menschendarstellungen auf menhirartigen Steinkolossen entzogen sich noch vor wenigen Jahren jeglicher Deutung. Etwas hilflos war dann von «Kunstobjekten», «Göttern» oder «Häuptlingen» die Rede. Tatsächlich ist der Zugang zu den steinernen Menschendarstellungen der Jungsteinzeit nur auf Umwegen möglich. Oft lässt die Entzifferung der jungsteinzeitlichen Kunstwerke an einen Kriminalfall denken. Dabei ist das erste Stichwort bereits gefallen: Kunstwerk. Wir wissen aus der Völkerkunde und aus der Kunstgeschichte, dass Kunst als freies Gestalten, als l’art pour l’art, eine relativ neue Erscheinung speziell unserer europäischen Kultur ist. Demgegenüber spiegelte die Kunst in der Menschheitsgeschichte fast immer die herrschende Weltanschauung, vor deren Hintergrund sie einen ganz bestimmten Zweck erfüllte. Weltanschauungen beziehungsweise Religionen entstehen jedoch nicht spontan aus dem Nichts, sondern haben sich über viele Jahrtausende aus einfachen Anfängen entwickelt. Das gilt auch für unsere steinzeitlichen Monumente, die wir demnach an ihren Platz in der langen Kette der weltanschaulich gebundenen Menschendarstellungen stellen müssen, um ihrer Bedeutung dann über Rückschlüsse näher zu kommen. Konkret bedeutet das, dass die Stelen irgendwo zwischen der altsteinzeitlichen Venus von Willendorf einerseits und den Christus- und Mariendarstellungen des Mittelalters andererseits einzuordnen sind.
Die «Venus von Willendorf» ist 29‘500 Jahre alt und stammt aus Niederösterreich.
Die «Venus von Willendorf» ist 29‘500 Jahre alt und stammt aus Niederösterreich. Wikimedia / Naturhistorisches Museum Wien
Die Bedeutung der Willendorferin und ihrer Zeitgenossinnen kennen wir: Eine drastisch dargestellte Vulva, üppige Brüste und Hüften vereinigen drohende und beschwichtigende Signale, die zuerst vor konkreten Konkurrenten, dann aber schon bald vor dem Übel an sich schützen sollten. Christus- und Mariendarstellungen dagegen sind Idole einer der grossen monotheistischen Religionen. Ihre Vorgänger sind die Götterdarstellungen der Antike, und deren Vorgänger wiederum müssen also unsere «Menschen in Stein gemeisselt» sein. Allerdings unterscheidet sich die mittelalterliche Weltanschauung stark von der antiken Weltanschauung, auch wenn es natürlich entsprechende Übergänge gegeben hat. Während uns die Welt des Mittelalters und die Welt der Antike über schriftliche Zeugnisse zugänglich ist, fehlt für die schriftlose Steinzeit leider eine solche erläuternde Quelle.
Die Stele in der Mitte trägt den Namen «Moncigoli I», stammt aus der Toskana (IT) und ist ca. 5000 Jahre alt. Sie hat einen Kopf in Form eines halbmondförmigen Dolchknaufs, an den Körper angelegte Arme und vergleichsweise naturgetreu dargestellte Brüste.
Die Stele in der Mitte trägt den Namen «Moncigoli I», stammt aus der Toskana (IT) und ist ca. 5000 Jahre alt. Sie hat einen Kopf in Form eines halbmondförmigen Dolchknaufs, an den Körper angelegte Arme und vergleichsweise naturgetreu dargestellte Brüste. Archäologisches Museum Florenz
Allerdings gibt es andere Hilfsmittel: die Kulturanthropologie. Hier haben Wissenschaftler herausgefunden, dass entscheidend für die Weltanschauung eines Volkes seine Wirtschaftsweise und seine soziale Organisation sind. Während für die feudale Drei-Stände-Ordnung des Mittelalters der Monotheismus mit seinem Glauben an einen Gott (den christlichen Gott, aber z.B. auch an den indische Krishna) charakteristisch ist, ist es für die bürgerliche Gesellschaft der antiken Stadtstaaten der Polytheismus, der wiederum in den persönlichen Schutzgottheiten der einzelnen Städte seinen Ursprung hatte. Für unstratifizierte Gesellschaften von nomadisierenden Viehzüchtern und frühen Ackerbauern, die weder Arbeitsteiligkeit noch irgendeine Form von Obrigkeit kannten, ist dagegen die Verehrung der Vorfahren bis hin zum übermächtigen, mythischen Ahnen charakteristisch. Solche Gesellschaften finden sich noch heute: So werden zum Beispiel bei den Toraja auf der indonesischen Insel Sulawesi die Verstorbenen in einem langen, dreistufigen Ritual bestattet, an dessen Ende das Aufstellen ihres hölzernen Abbildes auf einer Art Balkon steht. Jedes Jahr am Tag der Toten wird diese Figur, die sogenannte TauTau, neu bekleidet, gefüttert und damit versorgt. Der oder die Verstorbene, so wird erwartet, versorgt dann seiner-/ ihrerseits wieder seine/ihre Nachfahren mit den Gütern dieser Welt, indem er/sie für die Fruchtbarkeit von Vieh und Feldern sorgt.
Sogenannte «TauTau»-Figuren der Toraja auf Sulawesi.
Sogenannte «TauTau»-Figuren der Toraja auf Sulawesi. Wikimedia / Michael Gunther
Unsere erste Frage an die jungsteinzeitlichen Stelen wäre damit geklärt: Entsprechend der damaligen Gesellschaftsordnung und Wirtschaftsweise muss es sich um Abbilder von Verstorbenen, möglicherweise gar von Ahnen handeln. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, welchen Zweck sie erfüllten. Auch hier helfen Erkenntnisse aus Kulturanthropologie und Völkerkunde weiter: In unstratifizierten und damit herrschaftsfreien Gesellschaften können Konflikte nicht durch den Schiedsspruch eines Herrschers oder Richters gelöst werden. Eine Gesellschaft von Gleichen muss selbst durch geeignete Massnahmen zu Lösungen und damit zu einem friedlichen Miteinander kommen. Solche Massnahmen sind Rituale.
Rituale, hervorgegangen aus biologisch in unserem Verhaltensrepertoire verankertem, ritualisiertem Verhalten, werden immer dann bemüht, wenn widerstreitende Emotionen eigentlich gegensätzliche Reaktionen hervorrufen würden. Im Falle eines Streites in einer jungsteinzeitlichen Dorfgemeinschaft würde das bedeuten, dass der Wunsch, den Kontrahenten zu beschädigen, mit der Einsicht kollidiert, dass das Dorf zusammenstehen muss, um überleben zu können. Ein Ritual, also eine festgelegte Abfolge von Zeichen und Symbolen (das können Gesten sein, Lieder, wichtige Objekte, Bilder usw.), schwört die Gemeinschaft dann auf die gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens ein, also auf die gemeinsamen, letztgültigen, nicht mehr hinterfragbaren Werte. Solche Werte werden jedoch in den besagten Gesellschaften durch nichts besser und eindrücklicher repräsentiert als durch die Vorfahren – die Ahnen, die die Seinsordnung ursprünglich einmal geschaffen haben.
Die Stele im Vordergrund stammt aus Südfrankreich und ist 4400 bis 5200 Jahre alt.
Die Stele im Vordergrund stammt aus Südfrankreich und ist 4400 bis 5200 Jahre alt. Die Armhaltung wird üblicherweise als anbetende oder verehrende Geste interpretiert. Musée d’Histoire Naturelle Nîmes
Wenn am Anfang der Sesshaftigkeit möglicherweise noch ein Ritual mit der Vergegenwärtigung der oder des Verstorbenen in einer Figurine ausgereicht haben mag, veränderten sich die Verhältnisse in dem Moment, als verschiedene Dörfer oder auch Bevölkerungsgruppen um Ressourcen zu konkurrieren begannen. Die Verstorbenen dienten nun auch dem Nachweis der Legitimität von Landbesitz. Es war eben der Gründer des Dorfes, der vor vielen Generationen verstorbene Begründer der Sippe, der seinen Sitz in der Stele genommen hatte und sowohl als Bürge für die Rechtmässigkeit des Anspruchs auf das Land als auch als schützende übermächtige Person aus der Anderswelt fungierte. Das bedeutete bei zunehmender Konkurrenz: Je grösser die Stele, desto mächtiger und wehrhafter der Ahne. Ein kurzes Fazit: Wir konnten unseren «Menschen in Stein gemeisselt» den ihnen zustehenden Platz auf der Skala der übermächtigen Wesen mit Schutzfunktion zuweisen. Als Vorgänger antiker Götter sind sie von kaum zu überschätzender Bedeutung und haben unsere Kultur, unsere Weltanschauung und unser Miteinander stärker geprägt, als uns bisher vielleicht bewusst war.

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