Gelehrtentreffen in Zürich, dargestellt auf einer Druckgrafik aus dem 19. Jahrhundert.
Gelehrtentreffen in Zürich, dargestellt auf einer Druckgrafik aus dem 19. Jahrhundert. e-rara

Die Grossmutter der Uni Zürich wird 500

Im Juni 1525 wurden in Zürich erstmals öffentliche Vorlesungen gehalten. So begann die Geschichte der höheren Bildung in der Limmatstadt, die 300 Jahre später zur Gründung der Universität führte.

Tobias Jammerthal

Tobias Jammerthal

Tobias Jammerthal ist Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Zürich.

Ob in den frühen Morgenstunden des 19. Juni 1525 Wolken am Himmel lagen oder die ersten Sonnenstrahlen schon den Chor des Grossmünsters in Zürich beleuchteten, wissen wir nicht. An jenem Montag vor 500 Jahren wird allerdings die kleine Schar der Anwesenden eine besondere Aufregung gepackt haben, als sich Huldrych Zwingli, seit bald sieben Jahren Leutpriester und Chorherr am Grossmünsterstift, zum Gebet erhob: Etwas Neues war in Begriff, seinen Anfang zu nehmen.
Blick ins Innere des Zürcher Grossmünsters. Druckgrafik von 1841.
Blick ins Innere des Zürcher Grossmünsters. Druckgrafik von 1841. e-rara
Bis kurz davor hatten sich die Chorherren und ihre Kapläne zu dieser Stunde versammelt, um das gregorianische Morgengebet zu verrichten. Ab diesem Tag sollten sich jedoch die Geistlichen der Stadt Zürich und alle, die mitmachen wollten, zum Studium der Bibel, speziell des Alten Testaments, täglich im Grossmünster einfinden. So betete Zwingli, Gott möge den Anwesenden rechtes Verständnis seines Wortes schenken und auch das Vermögen, «in das umgestaltet zu werden», was sie verstünden.

Allmäch­ti­ger, ewiger und barmher­zi­ger Gott, dessen Wort eine Leuchte für unsere Füsse und ein Licht auf unseren Wegen ist, öffne und erleuchte unseren Geist, damit wir deine Offenba­run­gen rein und heilig verstehen, und in das, was wir recht verstan­den haben, umgestal­tet werden, wodurch wir deiner Majestät in keinem Teil missfal­len, durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen.

Zwinglis «Prophezeygebet» von 1525
Danach wurde ein Abschnitt aus dem Buch Genesis in der lateinischen Vulgata-Übersetzung vorgelesen. Darauf ergriff Jakob Ceporinus das Wort. Der junge Humanist aus Dinhard (ZH) verlas den gleichen Text im hebräischen Original, übersetzte ihn ins Lateinische und erläuterte das Vokabular und die Grammatik. Nun war wieder Zwingli an der Reihe. Er las die behandelte Passage aus der griechischen Übersetzung des Alten Testaments – der sogenannten Septuaginta – vor, übersetzte und erläuterte sie. Allerdings erörterte er dabei nicht nur sprachliche Fragen, sondern ging auch auf den Inhalt ein, um die Bedeutung des Bibeltextes für die Gegenwart festzuhalten.
Herrenporträt von Huldrych Zwingli, hergestellt im 19. Jahrhundert.
Herrenporträt von Huldrych Zwingli, hergestellt im 19. Jahrhundert. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Sprache, in der dies alles geschah, war Latein – die Sprache der Gelehrten. Was die Gruppe während der Stunde, die sie so zusammen verbrachte, an Erkenntnissen gewonnen hatte, sollte jedoch nach Überzeugung der Reformatoren Zürichs auch der breiten Bevölkerung zugutekommen. Deshalb sprach ein anwesender Pfarrer das Volk an, das sich inzwischen bei Glockengeläut im Kirchenschiff versammelt hatte, an: Er fasste in einer Predigt auf Deutsch zusammen, was die Gelehrten zuvor unter sich behandelt hatten. Das Interesse daran war gross, fast zu gross: Weil nicht ganz klar war, wann genau die deutsche Predigt beginnen würde, kamen viele Menschen schon deutlich früher ins Grossmünster – und störten damit die Gelehrten bei der Arbeit. Zwingli regte deswegen schon im November 1525 an, dass die Glocken gegen Ende des wissenschaftlichen Treffens läuten sollten. Damit sollte signalisiert werden, wann es Zeit war, zum deutschsprachigen Teil zu kommen.
Das Zürcher Grossmünster aus dem Stadtplan von Jos Murer, 1576.
Das Zürcher Grossmünster aus dem Stadtplan von Jos Murer, 1576. Baugeschichtliches Archiv Zürich
Dieses Gefüge von gelehrtem Studium der Bibel und auf ihm basierender Verkündigung in der Volkssprache nannte man später gelegentlich «Prophezey». Dabei knüpften die Zürcher an ein Verständnis von «Prophetie» als Bibelauslegung, das schon bei den Kirchenvätern zu finden ist und von Erasmus von Rotterdam wiederbelebt worden war. Charakteristisch für die Zürcher «Prophezey» war jedoch, dass die philologisch geschulte wissenschaftliche Arbeit in engem Zusammenhang mit der kirchlichen Verkündigung stand. Darin offenbart sich auch die Absicht, in der Zwingli und seine Mitstreiter diese Vorlesungen initiierten – eine Absicht, die im Anfangsgebet ebenfalls prägnant zur Sprache kommt: Das Ziel war, nicht nur Erkenntnisse zu gewinnen, sondern eine entsprechende, tiefgehende Umgestaltung – eine Reformation also – der Zuhörenden zu befördern. Die Bibelauslegung in lateinischer Sprache wurde als «öffentliche Vorlesung» (lectio publica) bezeichnet. Öffentlich war sie nicht nur, weil jeder teilnehmen durfte, der Latein verstand, sondern auch deshalb, weil die Besucher dafür nichts bezahlen mussten. Die Finanzierung war durch Mittel des Grossmünsterstiftes gesichert: Als einzige mittelalterliche religiöse Einrichtung Zürichs war dieses nicht aufgelöst worden, sondern hatte sich als Institution reformiert. So würde es noch drei Jahrhunderte lang weiterbestehen.
Aus der Prophezey entstand 1531 die Froschauer-Bibel, die erste vollständige und direkt aus dem hebräischen Alten und dem griechischen Neuen Testament ins Deutsch übersetzte Bibel.
Aus der Prophezey entstand 1531 die Froschauer-Bibel, die erste vollständige und direkt aus dem hebräischen Alten und dem griechischen Neuen Testament ins Deutsch übersetzte Bibel. e-rara
Bereits ein Jahr später, 1526, wurden zwei weitere öffentliche Vorlesungen ins Leben gerufen werden. Die eine, über lateinische Dialektik und Rhetorik, oblag Johann Jakob Ammann, die andere, über griechische Poetik, Rudolf Collin. Die beiden jungen Humanisten hatten gemeinsam in Mailand studiert und traten als lectores dem Hebraisten Konrad Pellikan zur Seite, der kurz davor die Nachfolge des Ende 1525 verstorbenen Ceporinus angetreten hatte. So entstand eine Art höhere Bildungsanstalt, deren Lehrplan und Unterrichtsmethoden ebenso vom humanistischen wie vom reformatorischen Geist geprägt waren. Ab 1541 begann man das Curriculum um weitere Fächer – wie etwa Naturphilosophie (physica), Ethik und Neues Testament – zu erweitern. 1559 wurde der höhere Unterricht im Rahmen einer Schulordnung erstmals detailliert geregelt. 42 Jahre später erfolgte sodann im Rahmen einer grossangelegten Schulreform die Gründung des Collegium Humanitatis als Mittelstufe zwischen den Lateinschulen und den öffentlichen Vorlesungen. Für diese bürgerte sich wiederum die Bezeichnung Collegium Carolinum ein.
Porträt von Konrad Pellikan, Druckgrafik, um 1700.
Porträt von Konrad Pellikan, Druckgrafik, um 1700. Schweizerisches Nationalmuseum
Das Carolinum war zwar keine Universität und hatte deshalb auch nicht das Recht, akademische Grade zu verleihen. Das Niveau des Unterrichtes war jedoch vergleichbar mit dem der Universitäten und sogenannt «Hohen Schulen». Damals wie heute trug nicht zuletzt die Reputation der Dozenten dazu bei, das Renommee einer Bildungsanstalt zu steigern. Davon profitierte auch das Zürcher Carolinum: Mit dem Arzt und Naturwissenschaftler Conrad Gessner, dem Hebraisten Theodor Bibliander, dem Theologen Petrus Martyr Vermigli, dem Orientalisten Johann Heinrich Hottinger sowie den Philologen Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer – um nur einige zu nennen – konnten immer wieder international bekannte Gelehrte nach Zürich geholt werden. Das Grossmünsterstift wurde erst 1832 endgültig aufgehoben und mit ihm endete auch die Geschichte des Collegium Carolinum. Bereits ein Jahr später wurde jedoch die Universität Zürich als Tochterinstitution gegründet. Wenn aber das Carolinum als Mutter der Universität Zürich betrachtet werden kann, so dürfte es inzwischen klar geworden sein, was deren Grossmutter war: jene «öffentlichen Vorlesungen», die an einem Montagmorgen im Sommer vor 500 Jahren erstmals stattfanden.

500. Geburts­tag

Die Tradition von 1525 wird an der Universität Zürich vor allem durch die Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät fortgesetzt. Dort forschen und lehren heute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit neusten Methoden zu aktuellen Themen rund um Theologie, Religion und Spiritualität. Der inoffizielle 500. Geburtstag wird mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert.

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