Martin Bodmer widmete sein Leben seiner aussergewöhnlichen Büchersammlung.
Martin Bodmer widmete sein Leben seiner aussergewöhnlichen Büchersammlung. ICRC Audiovisual Archives

150'000 Werke für die Weltliteratur

Der Schweizer Intellektuelle und Büchersammler Martin Bodmer widmete sein Leben der Bewahrung des geschriebenen Wissens. Seine umfangreiche Sammlung ist heute Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.

David Chauvier

David Chauvier

David Chauvier ist freischaffender Redakteur.

Martin Bodmer wurde 1899 in Zürich in eine wohlhabende Familie, die im Seidenhandel zu Reichtum gekommen war, geboren. Sein Erbe ermöglichte es ihm, sich bereits in jungen Jahren ganz auf sein Lebensprojekt zu fokussieren: der Sammlung und Erhaltung der grundlegenden Texte aller Kulturen. Viele Jahrzehnte später in Cologny im Kanton Genf: In der gedämpften Ruhe eines Büros tippte eine Bibliotheksassistentin die Worte und Gedanken eines Mannes mit markanten Gesichtszügen. Seit fast zehn Jahren ordnete Martin Bodmer in regelmässigen Abständen sein geistiges Vermächtnis in Manuskriptfragmenten, die er Chorus mysticus nannte, ein lateinischer Ausdruck zu Ehren Goethes. Bodmers ebenso faszinierender wie fragmentarischer Text blieb unvollendet, wurde nie veröffentlicht und geriet schnell in Vergessenheit. Geblieben ist seine Sammlung, die über 150'000 Dokumente aus 80 Kulturen und drei Jahrtausenden umfasste. Kaum drei Wochen vor seinem Tod unterzeichnete Martin Bodmer die Stiftungsurkunde zur Gründung der Bibliotheca Bodmeriana, die den Fortbestand seiner Sammlung sicherte. Diese Sammlung, die er als sein «geistiges Bauwerk» bezeichnete, war nicht nur eine Bibliothek, sondern viel mehr ein Museum der Entwicklung des menschlichen Geistes, dargestellt anhand schriftlicher Zeugnisse. Bodmer wollte damit «den Weg des Menschen zu sich selber» sichtbar machen.
Die Sammlung Martin Bodmers wird von seiner Stiftung bewahrt und der Öffentlichkeit im eigenen Museum in Cologny zugänglich gemacht.
Die Sammlung Martin Bodmers wird von seiner Stiftung bewahrt und der Öffentlichkeit im eigenen Museum in Cologny zugänglich gemacht. Fondation Martin Bodmer

Eine fesselnde Obsession

Martin Bodmers Bibliophilie ging weit zurück: Seit seiner frühesten Kindheit beschäftigte er sich intensiv mit den Klassikern und verschlang Werke von Goethe und Shakespeare. Mit 18 gründete er eine Literaturzeitschrift und vertiefte sich, getrieben von einem unstillbaren Wissensdurst, in die deutsche Literatur. Diese Leidenschaft sollte er nie wieder ablegen. Der Zürcher wurde schon früh zu einer Schlüsselfigur des intellektuellen Lebens seiner Zeit, insbesondere durch die Gründung des Gottfried-Keller-Preises mit nur 22 Jahren. Der Preis sollte schweizerische Autorinnen und Autoren zugutekommen und war damals der höchstdotierte im deutschsprachigen Raum. Später wollte Bodmer einen Ort schaffen, an dem die Geschichte und Kultur der Menschheit zugänglich sind. Zukünftige Generationen sollen von diesem Ort profitieren und sich inspirieren lassen– ganz im Sinne der «Weltliteratur». Dieses von Goethe im 19. Jahrhundert entwickelte Konzept setzt sich für eine transnationale Verbreitung bedeutender Werke ein.

[Weltli­te­ra­tur] bedeutet einerseits die zeitliche Entwick­lung und den räumli­chen Charakter der schrift­li­chen Aufzeich­nung, und anderer­seits die Beschrän­kung auf jene Sprach­wer­ke, die überzeit­li­che und überräum­li­che Wirkung haben. Anders ausgedrückt, jene, bei denen gleichsam die Kraft des mensch­li­chen Gehaltes und die Magie der Sprache das Entschei­den­de sind.

Martin Bodmer beim Empfang der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft, 1947.
Bodmers Sammlung umfasste literarische Schätze wie die Gutenberg-Bibel, die ursprünglich aus dem Besitz des Zaren stammte, antike Manuskripte und Werke der grössten Autoren der Moderne wie Jean-Jacques Rousseau, Isaac Newton oder Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais. Die universelle Dimension der Sammlung lag Bodmer sehr am Herzen. So begnügte er sich nicht damit, Bücher aus dem europäischen Raum zu sammeln, sondern strebte danach, Werke aus aller Welt in seine Sammlung aufzunehmen.
Der babylonische Friedensvertrag von 2430 v. Chr., die Urschrift der Märchen der Brüder Grimm, ein handgeschriebener Entwurf einer Rede von Napoleons vor der Schlacht von Rivoli 1797 oder die Erstausgabe des «Manifests der Kommunistischen Partei» aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Bibliotheca Bodmeriana verfügt über zahlreiche literarische Schätze.
Der babylonische Friedensvertrag von 2430 v. Chr., die Urschrift der Märchen der Brüder Grimm, ein handgeschriebener Entwurf einer Rede von Napoleon vor der Schlacht von Rivoli 1797 oder die Erstausgabe des «Manifests der Kommunistischen Partei» aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Bibliotheca Bodmeriana verfügt über zahlreiche literarische Schätze. Fondation Martin Bodmer

Wissen für alle

Bereits 1954 veröffentlichte er den Text der Ilias von Homer aus einem seiner ersten erworbenen Papyri. So bekräftigte er seinen Wunsch, seine Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Während des Zweiten Weltkriegs engagierte sich Bodmer aktiv für den Intellektuellen Hilfsdienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Dieses humanitäre Programm versorgte Kriegsgefangene mit Büchern, um ihre intellektuelle und moralische Würde zu wahren. Unter seiner Leitung wurden 1,5 Millionen Bücher gesammelt und an Gefangene der kriegsführenden Länder verteilt. Er sah darin einen wichtigen Faktor für Trost und Bildung, der die Schrecken des Krieges überwinden konnte.
1939 zog Martin Bodmer nach Genf, um sich für das Rote Kreuz zu engagieren. Das Foto zeigt einer Besprechung beim Dienst für intellektuelle Hilfe des IKRK, Martin Bodmer sitzt an der rechten Tischseite.
1939 zog Martin Bodmer nach Genf, um sich für das Rote Kreuz zu engagieren. Das Foto zeigt einer Besprechung beim Dienst für intellektuelle Hilfe des IKRK, Martin Bodmer sitzt an der rechten Tischseite. ICRC Audiovisual Archives

Im Dienst der Gesell­schaft – oder von Büchern besessen?

Mehrere Bekanntschaften versuchten, die besondere Beziehung zwischen Bodmer und seiner Sammlung zu erfassen. Bernard Breslauer, ein auf seltene Bücher spezialisierter Londoner Buchhändler, erinnerte sich an eine von grosser Feierlichkeit geprägte Atmosphäre bei ihrer Begegnung im Jahr 1938. Der Eindruck einer Verschmelzung zwischen Bodmer und seiner Sammlung verstärkte sich, je länger man durch die Salons seines Hauses schlenderte. Breslauer zufolge «hatte man manchmal den Eindruck, dass nicht er seine Bibliothek besass, sondern sie ihn». Dieses Gefühl wurde von Werner Weber bestätigt, einem Schweizer Literaturkritiker und engen Vertrauten Bodmers, der ihn als «verändert» in seiner Bibliothek beschrieb, wo Bodmers Blick durch die Jahrhunderte zu blicken schien, «[…] als ob die Zeit stillstand und er in einem ständigen Dialog mit den grossen Geistern seiner Sammlung stand.» Odile Bongard, Bodmers persönliche Sekretärin während 30 Jahren, beschrieb seinen Charakter als den eines «einsamen Mannes, der Wert auf Ordnung und Einfachheit legte, aber vor allem auf Qualität». Jeder Tag war von Ritualen geprägt: Zeit mit seinen Sammlungen, Notizen machen, bevor er sich in die Ruhe seines Zuhauses zurückzog.
Martin Bodmer und eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes bei der Arbeit, 1942.
Martin Bodmer und eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes bei der Arbeit, 1942. ICRC Audiovisual Archives

Das Vermächt­nis des Bibliophilen

Martin Bodmers Engagement zur Bewahrung von Wissen ist Teil einer langen Tradition. Seit dem Mittelalter bewahrten und kopierten engagierte Menschen und Institutionen Schriften und formten so eine ununterbrochene Kette der Wissensbewahrung. Klöster in St. Gallen, Engelberg oder Einsiedeln spielten eine Schlüsselrolle bei der Erhaltung alter Handschriften. Nach der Reformation und dem Aufkommen des Buchdrucks entstanden akademische und öffentliche Bibliotheken. Im 18. Jahrhundert trugen Lesegesellschaften zur Verbreitung des Wissens bei. Die Kantonsbibliotheken entstanden im 19. Jahrhundert, gefolgt vom Aufschwung der öffentlichen Bibliotheken im 20. Jahrhundert. Vielleicht ist Martin Bodmers wahres Vermächtnis weniger seine Sammlung selbst, sondern viel mehr seine Bemühungen zur Bewahrung dieser Wissenskette. Martin Bodmer starb 1971 in Genf. Auf seinem Grabstein steht: «Was du getan hast, wird sich erst zeigen, wenn du stirbst.»

Weitere Beiträge