Werbung für den Telefondienst "genaue Zeit" mit der Nummer 161.
Weisch no, als die genaue Zeit durchs Telefon mitgeteilt wurde. Museum für Kommunikation Bern, PRO_97615

Die exakte Zeit

Lange brachte die Post die genaue Zeit in die Haushalte. Per Telefon oder via Radio. Manchmal übernahm sie auch den morgendlichen Weckdienst.

Juri Jaquemet

Juri Jaquemet

Dr. phil., Sammlungskurator für Informations- und Kommunikationstechnologie, Museum für Kommunikation, Bern

Zeitsysteme sind bis weit ins 19. Jahrhundert hinein regional unterschiedlich und richten sich nach dem Sonnenaufgang und -untergang sowie nach dem Sonnenhöchststand um die Mittagszeit. Mechanische Uhren werden nach Sonnenuhren gerichtet. Insbesondere in ländlichen Gebieten rhythmisiert das Glockengeläut den Tag. Raum und Zeit werden dem kosmischen Rhythmus angepasst – im Sommer dehnen sich die Stunden, da die Sonne viel länger am Himmel steht. Kurz gesagt: Die Kirche ist die Herrin der Zeit.

Dieser qualitativ «gefühlten» Zeit erwacht mit der zunehmend präzisen mechanischen Uhr eine quantitative Konkurrenz. Die Einführung der gemessenen Zeit erfolgt langsam und lange existieren unterschiedliche Zeitsysteme nebeneinander. Kirche und Klerus sehen in der unerbittlich exakten Zeit eine Konkurrenz, da sie zur Desakralisierung des Tages führt. Die Jahrzehnte nach der französischen Revolution sind von entsprechenden Rückzugsgefechten geprägt. Die Kirche versucht noch, ihre Herrschaft über die Zeit zu wahren – steht aber ab Mitte des 19. Jahrhundert als Verliererin da.
Glocke des Marienheiligtums Ziteil.
Lange war die Kirche die «Herrin der Zeit». Museum für Kommunikation Bern
Reiseuhr von Napoleon, hergestellt von Abraham-Louis Breguet, 1796.
Mit dem Aufkommen von mechanischen Uhren im 19. Jahrhundert verlor die Kirche diesen Herrschaftsanspruch. Schweizerisches Nationalmuseum

Eisenbahn und Telegrafie

Die beiden grosstechnischen Systeme Telegrafie und Eisenbahn lassen sich kaum mit unterschiedlichen lokalen Zeitsystemen betreiben. Um ein schweizerisches Raum-Zeit-Delirium zu verhindern, verfügt der Bundesrat 1853 für den Post- und Telegrafieverkehr die Lokalzeit von Bern als Einheitszeit. Auch der Betrieb der Eisenbahnen richtet sich nach Bern. Es ist damit die Telegrafie, welche hierzulande die Einheitszeit vorwärtstreibt. Die staatliche Post- und Telegrafenverwaltung, die spätere PTT, übernimmt in der Eidgenossenschaft die Kontrolle über die Einheitszeit.

Auf internationaler Ebene bestehen ähnliche Probleme – die zunehmend globalisierte Welt braucht Takt, Takt, Takt. Die Konferenz von Washington einigt sich 1884 auf den Nullmeridian von Greenwich und bereitet so die weltweite Einführung der Stundenzonenzeit vor. In der Folge führt der Bundesrat 1894 die mitteleuropäische Zeit ein und die ganze Schweiz richtet sich erstmals nach einem einheitlichen Zeitsystem.

Neuenburg gibt den Takt an

Grundsätzlich gilt es aber zuerst einmal, die genaue Zeit zu bestimmen. Dafür ist der Blick ans Firmament nötig. Mit dem Teleskop werden Meridiandurchgänge gewisser Sterne beobachtet. Ab 1860 ist die Bestimmung der genauen Zeit die Kernkompetenz des Observatoriums Neuenburg. Hier werden hochpräzise Pendeluhren nach dem Gang der Sterne und der Erdrotation gerichtet. Die kantonale Sternwarte in Neuenburg entsteht aus dem Bedürfnis der Uhrenindustrie im Jurabogen und macht eine Art Standortförderung.

Übermittelt wird das Zeitzeichen via Telegrafenleitung über Mittag, da um diese Zeit die Nachfrage beim Telegrammverkehr gering ist. Die Uhrmacherschulen und die Uhrenfabriken bezahlen für die genaue Zeit aus Neuenburg einen bescheidenen Betrag. Die PTT nutzt das Zeitsignal kostenlos und verrechnet dem Observatorium Neuenburg jährlich ein paar hundert Franken für die Nutzung der Leitungen – obwohl sie selbst auch Nutzniesserin der genauen Zeit aus Neuenburg ist.
Das Observatorium in Neuenburg auf einer (beschädigten) Fotoplatte aus Glas. Die Aufnahme stammt von 1935.
Das Observatorium in Neuenburg auf einer (beschädigten) Fotoplatte aus Glas. Die Aufnahme stammt von 1935. Memobase / Bildsammlung swisstopo
Nach dem elektrischen Zeitsignal aus Neuenburg, das in Echtzeit durch die Telegrafenleitungen fliesst, werden in Poststellen, Telegrafenämtern und Bahnhöfen die Mutteruhren gerichtet. Diese bilden das Herz der lokalen Uhrenanlagen. Während die Genauigkeit des Observatoriums Neuenburg bereits im Bereich von Hundertstelsekunden liegt, dürften die über die ganze Schweiz verteilten Mutteruhren eine Präzision von wenigen Sekunden erreicht haben. Grössere elektrische Uhrenanlagen richten sich selbstständig nach dem elektrischen Signal des Telegrafen. Durch komplexe Mechanismen wird das Vor- oder Nachgehen korrigiert.
Bahnhofshalle von La Chaux-de-Fonds mit grosser Uhr um 1900.
Bahnhofshalle von La Chaux-de-Fonds mit grosser Uhr um 1900. Schweizerisches Nationalmuseum
Nach dem Ersten Weltkrieg werden Taschen- und Armbanduhren sowie Wecker zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Deren mechanische Uhrwerke laufen noch nicht sehr präzise und müssen ab und an gerichtet werden. Dafür bietet die PTT ab 1935 einen Service Public der Genauigkeit an. Über die Dienstnummer 16 (später 161) kann die «Sprechende Uhr» konsultiert werden – die genauen Zeitangaben fliessen durch die kupfernen Telefonleitungen der PTT. Die Zeitansage startet jeweils mit «Beim nächsten Ton ist es…».
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Die sprechende Uhr. Aufnahme aus den 1950er-Jahren. Schweizerische Nationalphonothek
Die 1933 im Pariser Telefonnetz eingeführte Erfindung basiert auf dem Tonfilmprinzip – dabei lesen Fotozellen die gespeicherten Tonaufnahmen von Stunden, Minuten und Sekunden ab. Zwischen 1935 und 1956 sind drei Uhren des Herstellers Brillié im Einsatz. Die erste sprechende Uhr der Schweiz steht in Genf und spricht französisch. Noch 1935 kommt eine deutschsprechende Uhr in Bern dazu. Die Tessinerinnen und Tessiner müssen sich bis 1942 gedulden. Und erst 1987 beherrscht die sprechende Uhr auch die vierte Landessprache Rätoromanisch. Die sprechende Uhr bleibt lange sehr populär. Noch für das Jahr 1992 vermeldet die NZZ über 22 Millionen Anrufe! Einen Nachfragehöhepunkt dürften ab 1981 jeweils die Winter- und Sommerzeit Umstellungen ausgelöst haben.
Reportage über die Einführung der sprechenden Uhr für das Tessin. SRF
Ein besonderes Angebot hat die PTT seit den späten 1920er-Jahren im Angebot. Über die Auskunft mit der Nummer 11 (später 111) können sich Morgenmuffel vom Staatsbetrieb aus dem Bett läuten lassen. 1941 kostet dieser Dienst 20 Rappen pro Weckanruf oder im Monatsabo zwei Franken. 1965 bekommt der Weckdienst mit der Dienstnummer 166 eine eigene Nummer und der Service wird zunehmend automatisiert. Wird der Anruf nicht beantwortet, so folgen zwei weitere Weckversuche. Die PTT betreibt hier also eine Art Snooze-System lange bevor das Wort überhaupt bekannt war.
Bis tief in die 1960er-Jahre hinein wird man gegen Bezahlung persönlich von einer PTT-Telefonistin geweckt.
Bis tief in die 1960er-Jahre hinein wird man gegen Bezahlung persönlich von einer PTT-Telefonistin geweckt. Museum für Kommunikation Bern, PRO_02061. © Ernst Albrecht Heiniger / Fotostiftung Schweiz
Der mit Abstand beliebteste Uhrzeit-Service Public ist aber das über die Radiosender ausgestrahlte Zeitzeichen. In der Schweiz beginnt das Radiozeitalter 1910 mit dem Empfang des vom Eiffelturm ausgestrahlten Zeitzeichens der Pariser Sternwarte. Die erste Zulassung für einen Zeitzeichenempfänger-Radio erhält Paul-Louis Mercanton, Professor für Physik und Elektrizitätslehre an der Universität Lausanne. Die zweite Konzession geht an die Uhrmacherschule in La Chaux-de-Fonds. Durch die Konzentration auf das Zeitzeichen des Eiffelturms, wurde der Standort Neuenburg vorübergehend fast bedeutungslos.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschlagnahmt die Telegraphenverwaltung alle vorhandenen Radioempfänger. 1916 führt sie als Zeitzeichen-Ersatz einen telefonischen Dienst ein, der ebenfalls auf dem Zeitsignal des Eifelturms beruht. Zwischen 10:56 und 11 Uhr wird über das Telefon eine Serie von Signalen übertragen.

In den 1920er-Jahren erobert sich die exakte Zeit aus Neuenburg jedoch ihren Platz im Äther. Wie ein Blick in die Zeitungs-Radioprogramme zeigt, gehört beispielsweise bei Radio Bern ab 1926 das «Zeitzeichen der Sternwarte Neuenburg» zum fixen Sendeplan. In den 1930ern übernehmen die drei Landessender Beromünster, Sottens und Monte Ceneri diese Tradition und senden jeweils um 12:30 und 16:00 die genaue Zeit als getaktetes Tonsignal.
Radiobeitrag über die Geschichte des Zeitzeichens. SRF
Im Observatorium Neuenburg bleibt man auf dem neusten Stand der Technik. Ende der 1940er-Jahre lösen Quarzuhren die bisherigen Highend-Pendeluhren als Mutteruhr ab. Nachdem sie 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel gezeigt wurde, bestimmt eine in Neuenburg entwickelte Atomuhr nun die genaue Zeit mit. Im Zeitraum zwischen 1958 und 2011 wird über den Zeitzeichensender Prangins die genaue Uhrzeit über Langwellen verbreitet.

Seit 1982 ist in der Schweiz das heutige Eidgenössische Institut für Metrologie für die genaue Zeitmessung zuständig. Das Observatorium Neuenburg stellt seine Dienste 2007 ein. Mit der Liberalisierung des Staatsbetriebs PTT verlieren die Nachfolger Post und Swisscom die Macht über die Zeitvermittlung. Das letzte Zeitzeichen am Radio geht am 14. Dezember 2012 um 12:30 über die Sender. Die neue digitale Radiotechnologie mit DAB+ macht eine Übertragung in Echtzeit unmöglich...
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog des Museums für Kommunikation erschienen. Dort ist er in einer noch ausführlicheren Version zu lesen.

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