Volksversammlung in Flawil SG am 7. August 1836.
Schweizerisches Nationalmuseum (Ausschnitt)

«Stehet auf, Eidgenos­sen, rettet das Vaterland!»

Die Volkstage forderten 1830/31 zwar keine Todesopfer, aber Gewalt und Drohgebärden gab es zuhauf. – Wo waren eigentlich in dieser ganzen Zeit die Frauen? Höchste Zeit für Katharina Morel. Sie hat das letzte Wort.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Zweifellos eine höchst respektable Leistung: An den Volkstagen wurden tiefgreifende politische Umwälzungen erzwungen, ohne dass Menschenleben zu beklagen waren. «All dies geschah ohne Blutvergiessen. Unser Volk hat wirklich Fortschritte gemacht», bilanzierte Ludwig Samuel Schnell, ein liberaler Anführer in Bern, 1830 mit berechtigtem Stolz. An seine Aussage hielt sich die Geschichtsschreibung noch lange. Heute hat die Fachgemeinschaft ein differenzierteres Bild.

«Stecklidonstig» und «Hemberger Donstig» – Rückgriff des Landvolks auf Protestrituale der frühen Neuzeit

Am 13. Januar 1831 kommt es im Grossen Rat von St. Gallen zu einer entscheidenden Abstimmung über das Veto des Volkes. Der Sitzungssaal befindet sich im Klosterbezirk. Von seiner Aura lassen sich 600 Männer aus dem Rheintal nicht abhalten, hier als murrender Chor Aufstellung zu nehmen, bewaffnet mit Rebstecken. Der Tag wird als «Stecklidonstig» in die Geschichte eingehen. Die massive Drohgebärde richtet sich nicht etwa gegen die alte konservative Regierung, sondern gegen das neue Parlament mit liberaler Mehrheit. Die Sitzungen sind öffentlich und werden vom Publikum mit Argwohn verfolgt. Die Rebstecken tun ihren Dienst. Tags darauf wird das Gesetzgebungsrecht des Volkes verankert. – Nach einem Monat, am «Hemberger Donstig», ein erneuter Tumult: 70 Männer aus Hemberg im Toggenburg machen sich auf der Tribüne des Sitzungssaals breit und randalieren: Zwischenrufe, Drohungen, Lärm. Das genügt. Rohe Gewalt wird nicht angewendet. Physische Präsenz und Utensilien wie Rebstöcke und Knüppel reichen. Keine Erfindung von 1830. Diese Widerstandsformen und Rituale weisen zurück in die frühe Neuzeit, ins Ancien Régime.

Der Bundesstaat, eine Herkulesaufgabe

Nach dem Wiener Kongress von 1815, in der Zeit der Restauration, stellten sich den liberalen Kräften zwei Hauptaufgaben, eine kantonale und eine landesweite. Die erste, die liberale Umgestaltung der politischen Verhältnisse in den Kantonen, gelang 1830, jedenfalls in den dominierenden Kantonen des Mittellandes. Die zweite, die Überwindung der kantonalen Souveränität im Sinne eines geeinten Bundesstaats, blieb hingegen Programm bis 1848. «Noch herrscht Kantonsgeist im Schweizerischen Vaterland. Noch hemmt er tausendfach das Erstarken des nationalen Volkslebens durch seine Eifersüchteleien. Doch niemals wird die alte rostige Herrschaft wieder zu der ehemaligen Ausdehnung gelangen; sie wird dahinschwinden vor dem Hauche des Volkslebens, wie der Schnee dahinschmilzt vor dem Hauche der Frühlingsluft», schrieb das Solothurner Blatt am 6. Mai 1837.

«Der Anfang der Schweiz, wie wir sie heute kennen»

Schon 1819 hatten liberale Studenten aus Bern und Zürich bei der Gründung ihrer schweizerischen Vereinigung «Zofingia» die Losung ausgegeben: «Es spreche keiner: ‹Ich bin ein Zürcher oder ein Berner oder Luzerner›, nein, er spreche: ‹Ich bin ein Schweizer!›» 1832 kam es zu überkantonalen Vereinigungen, aber sie gingen in die falsche Richtung. Mit dem «Siebnerkonkordat» garantierten sich die liberalen Kantone Zürich, Bern, Luzen, Solothurn, St. Gallen, Aargau und Thurgau gegenseitig ihre regenerierten Verfassungen. Da hatte eine Bundesrevision zugunsten einer neuen starken Schweiz einen schweren Stand, zumal sich kurz darauf Uri, Schwyz, Unterwalden, Baselstadt und Neuenburg im konservativen «Sarnernbund» zusammenschlossen, um mit vereinten Kräften gegen eine Revision anzukämpfen. Gleich zwei Sonderbünde – zwei zu viel.

«Stehet auf, Eidgenossen, wie wir, benutzet die gegenwärtige Volksentrüstung zur Rettung des Vaterlandes, zur Schaffung einer neuen gerechten Bundesverfassung!
Aus dem Aufruf der Volksversammlung zu Flawÿl vom 7. August 1836».
Schweizerisches Nationalmuseum

Nach vier Jahren ein erneuter Versuch, die lose, zerstrittene Eidgenossenschaft zu einem starken Bund zu formen. Auf der Weidegg in Flawil SG kamen am 7. August 1836 rund 8‘000 Mann zusammen. «Der Wunsch nach einem festgefügten Bundesstaat und einer einheitlichen schweizerischen Verfassung war das Credo der Flawiler Volksversammlung», ist in der bemerkenswerten Festschrift zur 150-Jahr-Feier von 1986 nachzulesen, wo mit berechtigtem Stolz auf die Signalwirkung dieser Volkstags hingewiesen wird: «Die kraftvolle Demonstration [von 1836] erregte viel Aufsehen im In- und Ausland. Das Wort ‹Flawylisieren› wurde bei den Aristokraten zum Synonym für Rebellieren. Die Versammlung wurde aber auch zum Vorbild für ähnliche Kundgebungen in der ganzen Schweiz.»

Es muss an jenem 7. August auf der Weidegg in Flawil wie aus Kübeln gegossen haben. 8‘000 Mann und wohl ebenso viele Schirme, die nur deshalb nicht alle mit aufs Bild kamen, weil der unbekannte Maler dadurch nicht sämtliche Teilnehmer verdecken wollte. Auch die Festwirtschaften blieben leer. Aber selbst eine Sintflut hätte der Schweizerfahne nichts anhaben können. Sie triumphierte in hellsten Farben über der Versammlung. «Es war der Anfang der Schweiz, wie wir sie heute kennen», schrieb das St. Galler Tagblatt 2015 dazu. Man zitiert diese Aussage zwar lieber, als dass man sie selber vertritt. Aber gern lässt man sie so stehen.

Zum Gedenken an die Flawiler Volksversammlung vom 7. August 1836, Denkmal auf der Weidegg, errichtet 1986 im Rahmen der 150-Jahr-Feier. Der Zufall half mit: Im Frühjahr 1986 war in einer nahen Baugrube ein 12 Tonnen schwerer Findling aus dem Splügengebiet gefunden worden. Mit seiner wuchtigen Erscheinung und seinem ehrwürdigen Alter kam er den Verantwortlichen gerade recht.
Foto: Alexander Rechsteiner

Eine Frau verkörpert ein Jahrhundert

Studenten, Sänger, Schützen, Turner – wo bleiben die Frauen? Die Quellenlage ist einseitig. Man kennt das, «Männer machen Geschichte», wie so oft: der Blick in die Vergangenheit mit nur einem Auge. Deshalb ist die Freude nicht zu knapp, wenigstens die Biografie einer Frau anführen zu können, die aufhorchen lässt, ob Frau oder Mann.

Fotografie von Katharina Morel, um 1870.
Fotografie von Katharina Morel, um 1870 (Rückseite).

Katharina Morel (1790–1876): Kann ein Leben bewegter sein? Auf der Rückseite steht: «Madame Morel in erster Ehe Frau Peyer – die ihren Gatten nach Russland begleitete mit Napoleon I.»
ZHB Luzern Sondersammlung (Eigentum Korporation)

Katharina Morel wird 1790 in Luzern geboren. Ihr Vater ist Wirt in der «Krone», wo sie bereits als junges Mädchen mithilft, wenn sie nicht in der Töchterschule der Ursulinen ist, oben, in der Nähe der Museggmauer. Nach dem frühen Tod der Mutter fällt die Familie auseinander. Katharina kommt zu einer Tante und erlernt das Schneiderhandwerk. Mit 16 Jahren Heirat: Heinrich Peyer, von Beruf Sattler, Sohn des Schultheissen von Willisau, eine gute Partie. In den folgenden zehn Jahren durchquert sie mit ihm zusammen Europa, als Marketenderin. Wenn’s gut geht auf einem Karren oder Pferd, sonst eben zu Fuss. Von Luzern nach Moskau sind es rund 2‘500 Kilometer, etwa 500 Marschstunden. Auf dem Rückweg nochmals gleich viel, macht zusammen 5‘000 Kilometer, also rund 1‘000 Stunden, bei Schnee und Eis wohl wesentlich mehr. Ab 1810 begibt sich Katharina Morel für drei Jahre in französische Dienste. 1812/13 nimmt sie am Russlandfeldzug Napoleons teil und ist auch ab 1815 für sechs Jahre wieder für die Versorgung von Offizieren tätig, diesmal in holländischen Diensten. Nach der Rückkehr, ab 1822, führt sie mit ihrem Mann zusammen 15 Jahre lang verschiedene Gastbetriebe. 1837 stirbt ihr Gatte Heinrich Peyer. – Katharina Morel ist eine Frau der Tat. Noch im gleichen Jahr heiratet sie Joseph Morel, einen Tuchhändler in Luzern, wird Handelsfrau und führt mit ihm zusammen acht Jahre lang die Tuchhandlung. Ihr ganzes Vermögen hat sie in ihr gemeinsames Geschäft gesteckt, was ihr zum Verhängnis wird. 1846 stirbt ihr zweiter Mann, und Katharina verliert ihr ganzes eingebrachtes Frauengut. Aber sie müsste nicht eine Morel sein! Umgehend übernimmt sie den Nachlass des liquidierten Handelsgeschäfts und ist danach als Tuchhändlerin im ganzen Land unterwegs. Als Witwe hat sie zivilrechtlich im 19. Jahrhundert Vorteile gegenüber einer Ehefrau. Anders als eine verheiratete Frau kann sie über ihr Vermögen selber bestimmen und selbständig einen Prozess führen.

Hotel Schweizerhof, Luzern um 1850.
Hotel Schweizerhof

Hotel Schweizerhof, Luzern 1850, wo Katharina Morel zeitweise arbeitete; noch steht der letzte Teil der Hofbrücke, abgebrochen 1853, rechts die Hofkirche.
Hotel Schweizerhof

Gewerbe und Handel, aber doch nicht Politik? Weit gefehlt. Als langjährige Gastwirtin weiss und versteht Katharina Morel von Politik vielleicht mehr als die Männer, von denen so viel die Rede ist. Der Umschwung von 1841 brachte die Konservativen wieder ans Ruder. Über die beiden Freischarenzüge der liberalen Luzerner Landschäftler gegen die Romtreuen, die «Ultramontanen», ist Katharina bestens im Bild. Als der Freischarenführer Jakob Robert Steiger verhaftet wird, schliesst sie sich den «Pfefferfrauen» an, die dessen Befreiung vorbereiten und seine Flucht nach Zürich ermöglichen.

Nach 1848 leitet sie ein kleines Haus für Touristen auf der Rigi, wechselt dann in den Schweizerhof nach Luzern, bevor sie am linken Seeufer eine eigene Pension eröffnet. Noch mit 80 Jahren erhält sie ein Angebot des Luzerner Grand-Hotel National, als Hausdame zu arbeiten. Sie nimmt es an – und versieht diese Aufgabe noch sechs Jahre bis zu ihrem Tode 1876. Am Berner Münster steht, in Stein gemeisselt: «mach’s na».

1830 – Der zweite Anlauf

In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.

Das historische Thema dieser Woche: Der liberale Umschwung zwischen Wienerkongress und Bundesstaat, die Zeit der Regeneration um 1830.

Montag:
1819 Maulkörbe, doch «die Gedanken sind frei!»
Nach der Franzosenzeit gewannen ab 1813 wieder reaktionäre Kräfte die Oberhand in Europa und der Schweiz, doch die Liberalen hielten dagegen. In der Biedermeierzeit gab es neben Wohlstand bittere Armut, dazu eine drakonische Justiz.

Dienstag:
«Aufruf zur Freyheit ist Rebellion und Meüterey»
Wie viel Sprengkraft die liberalen Freiheitsrechte hatten, zeigt die Schärfe, mit der sie von den Konservativen bekämpft wurden. Karikaturen jener Zeit berichten von listigen Volksverführern und schauerlichen Ungeheuern.

Mittwoch:
Studenten, Sänger, Schützen, Turner
Nach 1815 waren die Kantone wieder unabhängige Staaten. Als einigende Kraft über die Grenzen hinweg erwiesen sich die Vereine. Die Festhütten von Studenten, Sängern, Schützen und Turnern wurden zu Kathedralen der Idee Schweiz.

Donnerstag:
«Die alte Herre müesse wäg! Mi nimmt se bi de Chräge.»
Die liberale Erneuerung der Schweiz nahm im Sommer 1830 Fahrt auf. Tausende strömten zu Volkstagen, die sich wie ein Lauffeuer entzündeten: von Weinfelden nach Wohlenschwil, Sursee und Uster, von Wattwil und Altstätten SG nach Balsthal und Münsingen.

Freitag:
«Stehet auf, Eidgenossen, rettet das Vaterland!»
Die Volkstage von 1830/31 brachten liberale Kantonsverfassungen hervor, aber noch keinen starken Bund. Das verlangte eine Volksversammlung 1836 in Flawil. – Das letzte Wort hat eine Frau, Katharina Morel, und wie!

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