Volkstag in Balsthal SO, 22. Dezember 1830. Lithografie von Joachim Senn.
Burgerbibliothek Bern (Ausschnitt)

«Die alte Herre müesse wäg! Mi nimmt se bi de Chräge.»

Bereits 1794 hatten die Stäfner gegen die Benachteiligung der Landschaft protestiert – erfolglos. Auch 1830 geht die Initiative in Zürich von Stäfa aus. Der zweite Anlauf gelingt, läuft 1832 aber aus dem Ruder.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

Was der Berner Karl Ludwig von Haller (1768–1854) in seinem Werk «Die Restauration der Staatswissenschaft» vertrat, muss einer liberalen Saftwurzel wie Martin Disteli (1802–1844) den Schweiss ausgetrieben haben. «Nicht Freiheit und Gleichheit sind der natürliche Zustand des Menschen, sondern Herrschaft und Dienstbarkeit durch die Ungleichheit der Kräfte begründet. Es ist ein Naturgesetz, dass der Mächtige herrscht, dass der Schwächere sich ihm anschliesst und unterwirft», schrieb der Vordenker des reaktionären Konservatismus. Disteli blieb Haller die Antwort nicht schuldig – mit dem Zeichenstift.

Aristokratenhosenlupf – Gleichberechtigung von Stadt und Land!

Der Bundesvertrag von 1815 sah zwar keine «Untertanenlande» mehr vor. Aber ohne Freiheitsrechte und Rechtsgleichheit, ohne Gleichberechtigung von Stadt und Land hatte diese Formel keinen Biss. Was den Liberalen vorschwebte, brachte Martin Disteli so zu Papier, dass es umgekehrt nun Haller den Schweiss austreiben musste.

Martin Disteli, Aristokratenhosenlupf, um 1839.
Kunstmuseum Olten

Kirchturm und Kuppel der St. Ursenkathedrale (klicken, um zu vergrössern) sowie das Ecktürmchen der Stadtmauer machen die sonst nur umrisshaft skizzierte Stadt zum unverkennbaren Ort. Der ungleiche Kampf findet vor den Toren von Solothurn statt. Er ist entschieden, bevor er begonnen hat. Hier der kraftvolle Landschäftler, dort der zerbrechliche Aristokrat, der eben Hut und Perücke verliert, dazu den Degen. Wehren kann er sich nicht mehr. Den Boden hat er ohnehin unter den Füssen verloren, im wahren und im übertragenen Sinn des Worts. Die Stadtmauer, während Jahrhunderten gemäss Haller die Grenze zwischen «Herrschaft und Dienstbarkeit», zwischen «den Mächtigen und den Schwächeren», ist eingerissen, bedeutungslos geworden. Den Weg in die Stadt ebnen Schriftrollen. Disteli braucht diese überdimensionierten Rollen nicht zu beschreiben, weil damals alle wissen, was für Postulate sie enthalten müssten, nicht allein in Solothurn, sondern in der ganzen Schweiz: Neue Kantonsverfassungen! Volkssouveränität! Direktes (teils indirektes) Wahlrecht! Repräsentative Demokratie mit starken Parlamenten! Trennung der Gewalten! Öffentlichkeit der Verwaltung! Rechtsgleichheit! Volksbildung! Freiheitsrechte, konkret bezogen auf Presse, Vereine, Petitionen, Religion, Niederlassung, Handel und Gewerbe!

Vor den Toren der privilegierten tonangebenden Städte

Die liberale Erneuerung der Schweiz, die sogenannte Regeneration, erhielt im Sommer 1830 zusätzlichen Schub von der Julirevolution in Frankreich. Als König Karl X. den Adel wieder stärken und im Gegenzug das Parlament auflösen wollte, wurde die Bourbonenherrschaft endgültig gestürzt. In einer liberalen Monarchie übernahm das Bürgertum die Macht.

Auch in der Schweiz wurden beim «zweiten Anlauf» die Kräfteverhältnisse entscheidend verändert. In den Wintermonaten 1830/31 drehten die Landschäftler den Spiess um. Angeführt zum einen von Intellektuellen, von Juristen, Professoren, Ärzten, Philosophen, Publizisten, zum andern von Gewerblern, Kaufleuten und Unternehmern, strömten Tausende zu Volkstagen, die sich wie ein Lauffeuer entzündeten: von Weinfelden TG nach Wohlenschwil AG, Sursee LU und Uster ZH, von Wattwil und Altstätten SG nach Balsthal SO und Münsingen BE.

Volkstage im Winter 1830/31, Übergang von der konservativen Restauration 1815–1830 zur liberalen Regeneration 1830–1848.

Die grosse Volksversammlung in Balsthal

Ob der Oltener Disteli mit dabei war, als sich die Solothurner Liberalen am 22. Dezember 1830 in Balsthal versammelten, bleibt offen. Zweifellos hätte er hierher gepasst. Im Jahr zuvor hatte ihm die konservative Regierung die Ernennung zum Zeichenlehrer verwehrt. Kurz vor Weihnacht muss es in Balsthal hoch zu und hergegangen sein, wie eine lebendige Bildquelle aus jenen Jahren festhält.

Volkstag in Balsthal SO am 22. Dezember 1830. Der spätere Bundesrat Joseph Munzinger (1791–1855) spricht zu den Versammelten von der Treppe des Gasthauses Rössli, unter ihnen eine Abordnung aus dem Schwarzbubenland mit Fahne. Das Papier, das Munzinger in der Hand hält, hat dieselbe Funktion wie die Schriftrollen auf der Karikatur «Aristokratenhosenlupf» von Martin Disteli.
Lithografie von Joachim Senn (1810–1847), Burgerbibliothek Bern

Das Gasthaus Rössli in Balsthal heute. Ohne Volksversammlung kommt der vornehm gestaltete Eingang mit der repräsentativen Treppe zur Strasse hin noch besser zur Geltung.
Foto: wikimedia/CH-info.ch

Die Aufbruchstimmung in Balsthal animierte vermutlich den Leinenweber und Musikanten Johann Lüthy (1800–1869) aus Oberbuchsiten zu einem Liedtext. Lüthy ist auch der Dichter des populären Rigi-Lieds «Vo Lozärn gäge Weggis zue». In Balsthal hiess die Parole: «Dirlumdei, und so muess‘s sei!»

2. Strophe

Zwöitusig stöh nes do parat;
jede meint, er chöm zu spat.
Der Munzinger uf der Stäge:
«Die alte Herre müesse wäg!
Mi nimmt se bi de Chräge.»
Dirlumdei, und so muess‘s sei!

8. Strophe

Die Liberale sölle läbe,
vo unde-n a bis obe-n uf!
Si sy gar tapferi Helde,
und d Oligarchie wei mer nit –
si sy die füülste Schelme.
Dirlumdei, und so muess's sei!

Weise und Text aus: Anderi Lieder. Von den geringen Leuten, ihren Legenden und Träumen, ihrer Not und ihren Aufständen, zusammengestellt und kommentiert von Urs Hostettler, illustriert von Stephan Bundi. Bern 1992, Seite 124f., hier gesungen von Stefan Christen, Luzern, www.frank-trio.ch

Vom Stäfner Handel zum Volkstag von Uster

Den Aufstand der Stäfner hatte die Zürcher Obrigkeit 1794 noch mit Truppen niederschlagen können. Lebenslange Freiheitsstrafen sollten die Anführer und allfällige Gesinnungsfreude abhalten, je wieder aufzubegehren. Doch «sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke. – Die Gedanken sind frei!» Am 19. November 1830 beschlossen mehr als 100 Bürger aus der ganzen Zürcher Landschaft, wiederum in Stäfa, in der Krone, in Uster sei eine Volksversammlung abzuhalten. Drei Tage später war es so weit. 12‘000 Mann marschierten auf, um vorerst Freiheitsrechte zu verlangen, dazu eine Zwei-Drittel-Vertretung der Landschaft im Grossen Rat. Der «zweite Anlauf» führte zum Ziel. Nach weniger als sechs Monaten waren die wichtigsten Anliegen erfüllt – zumindest die politischen. Zu den Hauptrednern in Uster gehörte, wen wundert’s, der Arzt und spätere Regierungsrat Johannes Hegetschweiler (1789–1839) von Stäfa.

Volkstag in Uster, 22. November 1830.
Schweizerisches Nationalmuseum

Gleicher Ort, gleiches Datum, zwei Jahre danach: Maschinensturm von Uster, 1832.
Schweizerisches Nationalmuseum

Spitzelberichte sind oft Rosinenquellen. Rein quellenkritisch bieten sie Multiperspektivität pur. Damit wird ihnen allerdings nicht unbesehen Sachlichkeit attestiert. Oft sind solche Berichte in jenem willfährigen Ton gehalten, quasi in vorauseilendem Gehorsam, den die Auftraggeber erwarten. Das mag auch bei jenem Spitzel der Fall gewesen sein, der sich am 22. November 1830 in Uster im Auftrag der Regierung unter die Versammelten mischte. «lch schaue hin, um den Mann zu entdecken, der es wagt, als Opponent gegen die Regierung aufzutreten. Es ist – Gujer von Bauma. Soll ich diesen Mann näher bezeichnen?» fragt der Berichterstatter überheblich und fährt fort: «Ich wüsste nichts von ihm zu sagen, als: er ist der Sohn eines Landmüllers, der die Kunst reich zu werden, vollkommen innehat.» Bei aller Geringschätzung breitet sich dann doch halbwegs Bewunderung aus: «Eine der schönen Tugenden dieser Sekte ist, dass sie sich, selbst bis zum Ärmsten hinunter, in schriftlicher Mitteilung ihrer Gedanken vorzüglich üben; sie bringen es hierin unstreitig auch so weit, wie man es ohne Schulunterricht kaum für möglich halten würde. Dies und Zeit und Musse haben bei unserem Volksredner diejenige Bildung bewirkt, mit der er nun glänzt.» Einem weiteren Redner sei es gelungen, «sich durch schlagenden Witz denjenigen Applaus zu verschaffen, der von dem grössten Teil einer solchen Zuhörerschaft zu erwarten stand». Das musste der Regierung zwar gefallen. Beruhigen aber konnte es sie nicht.

«Lassen Sie sich nicht theuschen: Das Volk ist keine Puppe»

Ein Aufmarsch von 12‘000 Mann, wollten die alle dasselbe? Das glaubt kein Mann. Der Spitzel erkannte zwar, dass sich eine politische Bewegung anbahnte, die das Zeug dazu hatte, die Karten grundlegend neu zu mischen. Was der Beobachter aber nicht differenziert erfasste: dass es der ländlichen Wirtschafts- und Bildungselite nicht um dasselbe ging wie den Kleinbauern, Handwerkern und Heimarbeitern. Für die Elite standen Freiheitsrechte, «Proporz» und Verfassung im Zentrum, für die Mittel- und Unterschicht waren es materielle Forderungen. Verlangt wurden eine Zinssenkung, eine Vermögenssteuer für die Reichen, der Schutz der Heimarbeit und schliesslich ein Verbot der eben neu eingeführten mechanischen Webmaschinen. Auf den Punkt gebracht: Den einen ging es um Politik, den andern um Existenz. Eine unlösbare Gemengelage, wie Rolf Graber in «Demokratie und Revolten» (2017) darlegt: Für die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen waren die liberalen Führer auf die Massen angewiesen. Diese liessen sich denn auch mobilisieren. Aber vielen dieser Menschen war das Hemd näher als der Rock. «Glauben sie denn, dieses Volk lasse mit sich wie mit einer Puppe spielen. Dann würden sie sich sehr theuschen», musste sich die liberale Elite sagen lassen.

1832 installierten die Spinnereifabrikanten Corrodi und Pfister in ihrer Fabrik in Oberuster Webstühle. Das führte zu einer explosiven Lage, die sich beim Maschinensturm von Uster entlud. Bezeichnend, dass es ausgerechnet an der Feier zum Gedenken an die Kundgebung von 1830 zum Eklat kam, genau zwei Jahre danach, erneut am 22. November. «Eigenthümer und Abgeordnete» versuchten die aufgebrachten Heimarbeiter zu beschwichtigen, rieten ihnen von Gewalt ab, empfahlen den gesetzlichen Weg, mit Petitionen. «Wollt ihr den Tag von Uster schänden?» wurden die Aufgebrachten ultimativ gefragt. Jener Tag damals hatte aber der Elite geholfen, nicht den Heimwebern. «Wir leiden keine solche Maschinen, das sagen wir euch. Wir sind Meister, der Kaib [Maschine] muss hinab.» Die Obrigkeit bestrafte die Anführer der brotlos gewordenen Kleinverleger und Heimarbeiter mit fürchterlicher Härte. Der Hauptbeschuldigte wurde zu 24 Jahren Kettenstrafe verurteilt, fünf weitere Angeklagte erhielten 14 bis 18 Jahre. Geschichte ist nie nur politische Geschichte, sondern immer auch Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Um die zutreffende Kategorie kümmerten sich die Verurteilten von 1832 nicht.

→ Lesen sie morgen, dass die alte Geschichtsschreibung überholt ist, wonach 1830/31 alles friedlich verlaufen sei. Sie lernen «flawilisieren» - und das letzte Wort hat eine bemerkenswerte Frau.

1830 – Der zweite Anlauf

In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.

Das historische Thema dieser Woche: Der liberale Umschwung zwischen Wienerkongress und Bundesstaat, die Zeit der Regeneration um 1830.

Montag:
1819 Maulkörbe, doch «die Gedanken sind frei!»
Nach der Franzosenzeit gewannen ab 1813 wieder reaktionäre Kräfte die Oberhand in Europa und der Schweiz, doch die Liberalen hielten dagegen. In der Biedermeierzeit gab es neben Wohlstand bittere Armut, dazu eine drakonische Justiz.

Dienstag:
«Aufruf zur Freyheit ist Rebellion und Meüterey»
Wie viel Sprengkraft die liberalen Freiheitsrechte hatten, zeigt die Schärfe, mit der sie von den Konservativen bekämpft wurden. Karikaturen jener Zeit berichten von listigen Volksverführern und schauerlichen Ungeheuern.

Mittwoch:
Studenten, Sänger, Schützen, Turner
Nach 1815 waren die Kantone wieder unabhängige Staaten. Als einigende Kraft über die Grenzen hinweg erwiesen sich die Vereine. Die Festhütten von Studenten, Sängern, Schützen und Turnern wurden zu Kathedralen der Idee Schweiz.

Donnerstag:
«Die alte Herre müesse wäg! Mi nimmt se bi de Chräge.»
Die liberale Erneuerung der Schweiz nahm im Sommer 1830 Fahrt auf. Tausende strömten zu Volkstagen, die sich wie ein Lauffeuer entzündeten: von Weinfelden nach Wohlenschwil, Sursee und Uster, von Wattwil und Altstätten SG nach Balsthal und Münsingen.

Freitag:
«Stehet auf, Eidgenossen, rettet das Vaterland!»
Die Volkstage von 1830/31 brachten liberale Kantonsverfassungen hervor, aber noch keinen starken Bund. Das verlangte eine Volksversammlung 1836 in Flawil. – Das letzte Wort hat eine Frau, Katharina Morel, und wie!

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