Die ersten sieben Bundesräte aus der Waadt waren juristisch tätig. Illustration von Marco Heer.
Die ersten sieben Bundesräte aus der Waadt waren juristisch tätig. Illustration von Marco Heer.

Juristi­sches Zeitalter in der Waadt

Sieben der ersten 36 Bundesräte stammten aus der Waadt. Und alle waren sie Anwälte. Das verwundert nicht, denn die Juristerei hatte im Westen der Schweiz einen hohen Stellenwert.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

Die zunehmende Macht der Savoyer ab 1247 und die gräfliche Einführung einer Verwaltung durch Land- und Burgvögte sowie Steuereintreiber, die oft schriftliche Befehle befolgten, vermischten sich auf dem Gebiet des Waadtlands mit einer bereits komplexen mündlichen Rechtsprechung der verschiedenen Herrschaften. Erschwerend kam hinzu, dass nicht überall das gleiche Recht galt und es teilweise sogar zur Konkurrenz zwischen den verschiedenen Rechtswesen kam. Die nach römischem Recht in weit entfernten Universitäten ausgebildeten Anwälte waren damals die Ausnahme: Nach germanischem Usus früherer Zeiten wurde für die Vertretung vor einem Gericht ein «ziviler» Fürsprecher bevorzugt. In den historischen Quellen werden diese Fürsprecher als «Vorsprecher» bezeichnet.
Im 14. Jahrhundert kam es dann zu einem Bruch. Zu dieser Zeit zogen Rechtsgelehrte, die bestens mit den geschriebenen Recht vertraut waren, aus südlichen Städten in die Waadt. Das traf sich gut, denn durch die Pest drohte ein enormer Verlust von mündlichem Wissen. Die grosse Pestwelle breitete sich ab 1347 rhoneaufwärts aus und raffte Notare, Schreiber, Anwälte und Staatsanwälte hinweg. Der Lausanner Bischof Aymon de Cossonay liess 1368 das Gewohnheitsrecht niederschreiben, um das Stadtrecht zu bewahren und besser durchzusetzen. Sein Plaid Général, wie das Lausanner Stadtrecht genannt wurde, entstand mitten in einer Gesundheitskrise. Er ist eine wichtige Quelle für Westschweizer Mittelalterforschende, da er Bräuche aufführt, die oft sehr alt sind.
Siegel des Lausanner Bischofs Aymon de Cossonay.
Siegel des Lausanner Bischofs Aymon de Cossonay. e-periodica
Zwei Jahre später, am 15. Mai 1370, verabschiedete der Bischof zudem das Reglement der Bruderschaft Saint-Nicolas, dem Schutzheiligen aller Anwaltsgehilfen und Anwälte. Diese Bruderschaft vereinte nicht nur die Experten des Kirchenrechts, die für die Kirchenordnung Gesetzeskraft hatten, sondern auch die wenigen Juristen mit einem Anwaltstitel und die Schreiber des Gewohnheitsrechts. Diese erste Anwaltszunft entstand somit aus der Unterscheidung zwischen Vorsprechern und Anwälten. Die während der savoyischen Zeit noch seltenen Anwälte gewannen während der bernischen Herrschaft leicht an Ansehen. Die Vertreter der Aarestadt organisierten den heterogenen Korpus mit offiziellen Dokumenten und Gewohnheiten, welche dem Alltag der Waadtländerinnen und Waadtländern bis dahin Gestalt gab, ab 1536 fortlaufend. Aber erst mit dem Ende des Ancien Régime und der Errichtung des modernen Staats nach der napoleonischen Zeit gewann der Anwaltsberuf in der Waadt sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf politischer Ebene an Bedeutung.
Berner Truppen erobern die Waadt. Holzschnitt von Johannes Stumpf von 1548.
Berner Truppen erobern die Waadt. Holzschnitt von Johannes Stumpf von 1548. Zentralbibliothek Zurich
So wurde das 19. Jahrhundert für das Waadtland eine juristisch geprägte Zeit – eine Periode vieler grosser Ideen und einiger kleinerer Projekte. Der Gesetzeskorpus wuchs stetig an und vertiefte den Graben zwischen den Städten als Zentren des akademischen Wissens und als Heim der Experten für Dekrete und Absätze und dem Land, das noch weitgehend in den bewährten Traditionen verankert war. Diese juristische Fülle katapultierte aber auch zahlreiche Anwälte auf die politische Bühne, und zwar nicht nur kantonal sondern ab 1848 auch national. So hätte ein aufmerksamer Beobachter am Ende des Jahrhunderts wohl ohne grosses Erstaunen festgestellt, dass der Kanton Waadt mit Bundesräten wie Henri Druey, Louis Ruchonnet, Constant Fornerod und Victor Ruffy denn auch am häufigsten im Bundesrat vertreten war.
Henri Druey, hier in einer Darstellung von 1860, war Mitglied des ersten Bundesrats.
Bundesrat Henry Druey war Mitglied im ersten Bundesrat. Schweizerisches Nationalmuseum
Louis Ruchonnet war knapp zwölf Jahre in der Landesregierung. Er starb 1893 während einer Bundesratssitzung.
Louis Ruchonnet war knapp zwölf Jahre in der Landesregierung. Er starb 1893 während einer Bundesratssitzung. Schweizerisches Nationalmuseum

Juristi­sches Zeitalter in der Waadt

So prägte die Waadt im 19. Jahrhundert den Bundesrat. Noch vor Zürich oder Bern. Von den 36 im 19. Jahrhundert gewählten Regierungsmitgliedern stammten sieben aus dem Waadtland. Und alle arbeiteten als Anwalt. Dieser Waadtländer Einfluss auf Bundesebene ist alles in allem ein logisches Resultat der intensiven Aktivität der Gründerväter des Kantons und ihrer Nachfolger im Verlauf des Jahrhunderts, die den neuen Staat in eine riesige Rechtswerkstatt verwandelten. Das Strafrecht, Grundrechte, die durch die aufeinanderfolgenden Verfassungen sichergestellt wurden, Steuerrecht, Flurrecht, Wirtschaftsrecht, Verwaltungsrecht – alle Aspekte des Rechts wurden während des langen politischen Duells, das sich die Liberalen und Radikalen über Jahrzehnte lieferten, mehrfach überdacht, debattiert, bekräftigt und angefochten. Wenig überraschend waren die Anwälte dabei die grössten Verfechter der neuen Gesetze. Die symbolische Krönung für die Waadtländer Exzellenz im Bereich des Rechts war die Niederlassung des Bundesgerichts in Lausanne gestützt auf die Bundesverfassung von 1874.
Das Bundesgericht in Lausanne auf einem Bild von 1898.
Das Bundesgericht in Lausanne auf einem Bild von 1898. Schweizerisches Nationalmuseum
Am 25. November 1880 wurde über eine Vorlage für die Anwaltsordnung abgestimmt, die laut der Überlieferung sehr weit von den Debatten der beiden politischen Lager des Kantons entfernt war. Fünf Jahre später folgte die Waadtländer Verfassung, die das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat übernahm, um den Bestimmungen der Bundesverfassung von 1874 zu entsprechen.

Schick­sals­jahr 1898

18 Jahre später wurde in der ganzen Welt Geschichte geschrieben. Anfang Jahr veröffentlichte Zola seinen offenen Brief «J’accuse...!», der Frankreich spalten sollte; am 10. September wurde die Kaiserin Elisabeth von Österreich in Genf ermordet und am Samstag, 10. Dezember 1898, endete der Spanisch-Amerikanische Krieg mit dem Pariser Frieden. Am Tag, an dem die amerikanischen und spanischen Diplomaten den Vertrag unterzeichneten, der die Spanier aus der neuen Welt vertrieb und den USA ein Kolonialreich gab, gründeten die 40 Anwälte der Waadt einen repräsentativen Berufsverband, um im neu gegründeten Schweizerischen Anwaltsverband vertreten zu sein.
Die Ermordung von Sisi 1898 in Genf erschütterte die Welt. Wikimedia
Der aus Zürcher, Berner, Luzerner, Basler und Genfer Gesellschaften bestehende Verband hatte sich im Oktober 1898 zum Ziel gesetzt, in jenen Kantonen die Gründung von kantonalen Sektionen herbeizuführen, in denen sich die Anwaltskanzleien noch nicht organisiert hatten. Angeführt von Auguste Dupraz (1832–1906) und Louis Berdez (1839–1905), den dienstältesten Waadtländer Anwälten, die von ihren Kollegen als Koryphäen angesehen wurden, wurde am 10. Dezember 1898 also offiziell die Waadtländer Anwaltskammer gegründet. Sie war auch der Startschuss für eine Modernisierung der Aufsicht über den Beruf. Auguste Dupraz wurde zum ersten Präsidenten ernannt: Präsident und nicht Vorsitzender! Dies war der Wunsch der Gründer gewesen, den sie in Artikel 4 der Statuten der Kammer ausdrückt hatten. Sie zogen die Vereins- zweifellos der Zunftterminologie vor. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nährte die zunehmende Konkurrenz zwischen Anwälten und anderen Rechtspraktikern sowohl auf Waadtländer als auch auf Bundesebene das Gefühl der Verteidigung des Berufs, was zu einer elitäreren Haltung der Kammer führte. Die internen Debatten drehten sich so wiederholt sowohl um die Bezeichnung des Vorsitzenden als auch um die Kleidervorschriften der Anwälte bei den Plädoyers, denn die «Tradition» war im 20. Jahrhundert nicht weniger wichtig als in den Jahrhunderten zuvor.
Anwälte im Gespräch. Gemälde von Honoré Daumier, 1840er-Jahre.
Anwälte im Gespräch. Gemälde von Honoré Daumier, 1840er-Jahre. Wikimedia
Trotz Diskussionen über Titel und Kleidervorschriften vergassen die Waadtländer auch eine andere Tradition nicht, den Humanismus. Während des Ersten Weltkriegs griff die Kammer mehrfach inoffiziell zugunsten belgischer Flüchtlinge in der Schweiz ein, was Proteste von einigen Mitgliedern auslöste, die sich auf die Einhaltung der Neutralität beriefen. Diese wurden aber im Keim erstickt. Im März 1917 setzte sich der frühere Vorsitzende Aloïs de Meuron (1854–1934) sogar im Nationalrat, in dem er seit 1899 einen Sitz hatte, gegen die Deportation französischer und belgischer Zivilpersonen nach Deutschland ein. Er hielt eine flammende Rede, die im Geist an jene von André Malraux von 1964 erinnert, und es verdient hätte, in die Geschichte einzugehen: «Man muss wissen, wann moralische Interessen über materielle Interessen zu stellen sind. Und denjenigen, die Angst davor haben, entgegnen wir, dass man niemals zögern darf, eine moralische Pflicht des höheren Gewissens zu erfüllen, was auch immer die Konsequenzen sein mögen.» Dieser Geist sollte sich auch während des Zweiten Weltkriegs zeigen. Die Judenfrage sorgte in der Kammer für lebhafte Debatten, insbesondere zwischen Marcel Regamey, dem Gründer der Bewegung Renaissance Vaudoise, und dem früheren Vorsitzenden Charles Gorgerat. Die Kammer entschied sich schliesslich für einen passiven Widerstand gegen die Vorurteile, die damals von zahlreichen Personen mitgetragen wurden. Sie achtete aber sorgfältig darauf, sich nicht zu den von der Waadtländer Verwaltung ergriffenen Massnahmen zu äussern.

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