Die Liberalen waren Mitarchitekten der direkten Demokratie, welche die Schweiz bis heute einzigartig macht. Landsgemeinde Glarus, um 1919.
Die Liberalen waren Mitarchitekten der direkten Demokratie, welche die Schweiz bis heute einzigartig macht. Landsgemeinde Glarus, um 1919. ETH Bibliothek Zürich

Zwischen persön­li­cher Freiheit und Allgemeinwohl

Die Liberalen haben mitgeholfen, die Schweizer Demokratie zu aufzubauen. Dabei mussten sie auch innere Differenzen ausgleichen.

René Roca

René Roca

René Roca ist promovierter Historiker, Gymnasiallehrer und leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie fidd.ch.

Der Begriff «Liberalismus» ist als politischer Begriff der postrevolutionären Epoche nach 1789 zuzuordnen. Die «Liberalen» einte die Ablehnung des Ancien Régimes und die Zustimmung zum politischen Wandel. Speziell wurde die Freiheit des Individuums und des Gewissens betont und schon früh wurde vor den Gefahren der Gleichheit gewarnt. Die Ziele der meisten Liberalen waren eine Verfassung mit der Anerkennung individueller Rechte, die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip, basierend auf der Grundlage eines Repräsentativsystems. Die Wahlen sollten aber einem Zensus-System unterworfen sein, das heisst der Beschränkung des Wahlrechts auf gebildete und besitzende Schichten. Eine Abstimmung gab es allenfalls nur zur Sanktion der Verfassung, ansonsten waren keine Abstimmungen mittels direktdemokratischer Volksrechte vorgesehen. Der Liberalismus gründet allgemein im modernen Naturrecht und taucht als politischer Begriff  1812 anlässlich der Kämpfe um die spanische Verfassung und 1817 in Frankreich während der Restauration auf («idées libérales»).

Der Weg zur Demokratie

In der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das entscheidende Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. Entscheidend zu dieser Demokratie beigetragen haben drei politische Bewegungen: die Katholisch-Konservativen, die Liberalen und die Frühsozialisten. Ihre Bedeutung wird in einer Mini-Serie beleuchtet.
Die liberale Bewegung in der Schweiz war kurz vor und besonders nach der Juli-Revolution von 1830 in Frankreich erfolgreich. In 12 von 22 Kantonen fanden Umwälzungen statt, die zu liberal-demokratischen Verfassungen führten und mehrheitlich liberale Kräfte in exekutive und legislative Gewalten brachten. Nach 1830 zerfiel die siegreiche liberale Bewegung rasch und liberale Exponenten entwickelten radikale Strömungen, die teilweise auch Revolution und Gewaltanwendung befürworteten (Jakobinismus), sich jedenfalls aber für tiefgreifende Veränderungen der bestehenden Verhältnisse einsetzten. Allerdings radikalisierten sich in der Schweiz schon vor 1830 Teile der liberalen Bewegung (Liberal-Radikale wie beispielsweise Ludwig Snell oder Kasimir Pfyffer) und grenzten sich schärfer von den Frühliberalen und nur moderaten Reformen ab. Die Liberal-Radikalen profilierten sich während der Regeneration (1830–1848) als Vorkämpfer einer grundlegenden Erneuerung der politischen Institutionen.
Kasimir Pfyffer auf einem Visitkartenporträt, um 1850.
Herrenporträt von Kasimir Pfyffer, um 1850. Schweizerisches Nationalmuseum
Der eigentliche schweizerische Radikalismus, der in der Westschweiz stärker vertreten war, verfügte nie über eine einheitliche politische Theorie; was die verschiedenen Richtungen einte, war das Ziel der nationalen Einigung und die Errichtung eines starken Zentralstaates. Nach 1848 entstand aus radikalen Strömungen der Frühsozialismus, der pointierter egalitäre und etatistische Züge trug, aber auch konsequenter das Prinzip der Volkssouveränität vertrat und sich für mehr direkte Demokratie einsetzte (Demokratische Bewegung der 1860er-Jahre).

Die freisin­ni­ge Grossfa­mi­lie und ihr Verhält­nis zur direkten Demokratie

Der Schweizer Historiker und Politologe Erich Gruner (1915–2001) spricht von der «freisinnigen Grossfamilie», wenn er die liberale Bewegung in der Schweiz für das 19. Jahrhundert absteckt. Drei wichtige Richtungen zeigen, abgesehen von allen Facetten und speziellen Färbungen, die Entwicklung des Liberalismus und sein Verhältnis zur direkten Demokratie auf: «Liberalismus», «Radikalismus» und «Demokratismus». Bevor Gruner die Unterschiede der jeweiligen Doktrin genauer erläutert, betont er die gemeinsamen Grundlagen: «Der gemeinsame geistige Grund liegt im Bekenntnis zur freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung, zur freien, geistigen Meinungsäusserung, kurz in den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution.» Der «schweizerische Liberalismus» als erste Richtung besass seine geistigen Wurzeln einerseits in der Zeit der Helvetischen Republik und andererseits in der Staats- und Gesellschaftslehre Benjamin Constants (1767–1830). Dessen Ansätze waren besonders in der Westschweiz verankert und so originelle Denker wie Alexandre Vinet, Charles Secrétan und Philippe Bridel haben seine Lehre weiterentwickelt. Constant war ähnlich wie John Locke (1632–1704) der Überzeugung, dass das Volk politisch nur durch die Volksvertretung handeln könne. Er befürwortete klar eine repräsentative Demokratie mit einem Wahlzensus und lehnte explizit die direkte Demokratie ab. In klarer Abgrenzung und in Opposition zu Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) formulierte Constant einen individualistischen Freiheitsbegriff, eingeschränkt auf eine schmale Oberschicht.
Druckgrafik von Benjamin Constant, um 1820.
Druckgrafik von Benjamin Constant, um 1820. Schweizerisches Nationalmuseum
Damit verliessen Constant und seine Nachfolger den Boden des Naturrechts und redeten einem utilitaristischen Ansatz das Wort, der letztlich zu einer Aristokratisierung der politischen Verhältnisse führt. Die Lehre Constants mündete in den Liberal-Konvervatismus beispielsweise von Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) und in liberal-radikale Lehren wie die für die schweizerische Regeneration einflussreiche von Ludwig Snell (1785–1854). Der «schweizerische Radikalismus» als zweite Richtung, der zwar auch in der Schweiz kein geschlossenes System entwickelte, aber das moderne Naturrecht befürwortete, nahm mit seiner Hauptforderung nach nationaler Einheit das Postulat einer revolutionären Umgestaltung der Schweiz auf und war damit mitunter treibende Kraft für den Sonderbundskrieg 1847 und die nachfolgende Bundesstaatsgründung. Eine zentrale Quelle des schweizerischen Radikalismus ist Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), der sich allerdings mit seinen wertkonservativen und religiösen Haltungen nicht einfach einordnen lässt, aber als radikaler Politiker und als Pädagoge des Aarauer Lehrvereins eine breite Wirkung zugunsten der Demokratisierung und der schweizerischen Bundesstaatsgründung erreichte.
Feuergefecht an der Reusse bei Lunnern 1847. Druckgrafik des Sonderbundkriegs.
Feuergefecht an der Reusse bei Lunnern 1847. Druckgrafik des Sonderbundkriegs. Schweizerisches Nationalmuseum
Gerade Troxler betont, dass die Nation nichts anderes sei als der Ausdruck des Volkes als einer natürlichen, urstaatlichen und urbildlichen Gegebenheit. Das eidgenössische Volk sei der eigentliche Souverän, der über allen Gesetzen und Verträgen throne. Konsequenterweise war es Troxler, der ab den 1840er-Jahren zusammen mit anderen Radikalen die liberale Vorstellung der repräsentativen Demokratie weiter entwickelte und mit den Forderungen nach Veto, Referendum und Initiative sowie der Wahl möglichst aller Behörden die Volkssouveränität konkretisierte. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie, der Ausbau also der bestehenden Demokratie zur «reinen» Demokratie, zeigte am deutlichsten die dritte Richtung, nämlich der sogenannte «Demokratismus». Die demokratische Bewegung der 1860er-Jahre nahm das Postulat der direkten Demokratie auf und förderte in verschiedenen Kantonen vor allem der Nordwest- und der Ostschweiz gegen das im Freisinn repräsentierte, etablierte Bürgertum (im Kanton Zürich das «System Escher») das Ideal einer sozialen Demokratie. Hier werden Übergänge zum «Frühsozialismus» deutlich. Besonders Karl Bürkli (1823–1901) setzte frühsozialistische Akzente mit der Unterstützung der Genossenschaftsbewegung und weiteren wirtschaftspolitischen Forderungen, die demokratische Bewegung nährte sich aber auch aus konservativen Quellen. Was nämlich vor 1848 bereits den Katholisch-Konservativen in einzelnen Kantonen mit der Einführung des Gesetzesvetos respektive des Referendums gelang, das versuchen nun auch die «Demokraten». Sie verfolgten das Ziel, die Gegensätze in der Industriegesellschaft auszugleichen und die repräsentative Demokratie zu ersetzen; der direkten Demokratie sprachen sie dabei eine gemeinschaftsbildende Kraft zu.
Ignaz Vital Troxler, um 1840.
Ignaz Vital Troxler, um 1840. Schweizerisches Nationalmuseum
Die drei politischen Richtungen des Liberalismus, Radikalismus und Demokratismus einte, wie gezeigt, das Bekenntnis zum nationalen, freiheitlichen Bundesstaat. Die Vertreter des «Liberalismus» waren lange Zeit der Meinung, die politische Macht sollte einer «natürlichen Aristokratie» und nicht der «ungebildeten Masse» zukommen, ansonsten drohten Anarchie und Ochlokratie. Erst nach 1848 sind bei den Liberalen – auch dank praktischer Erfahrungen mit radikalen und demokratischen Ansätzen – Lernprozesse festzustellen, die den Wert der direkten Demokratie als politisches Instrument mehr gewichten. Die Liberalen sahen ein, dass die Volksrechte für eine nachhaltige soziale Integration der Bürger in einen Nationalstaat sorgen.

Und heute?

Die «Freisinnig-demokratischen Partei» (FDP) wurde 1894 gegründet und hatte wie vorher das ständige Problem, unterschiedliche Teilbewegungen und divergierende Meinungen integrieren zu müssen. Studiert man die Geschichte des Liberalismus in der Schweiz, so kann zweifellos festgestellt werden, dass die Bewegung mithalf, die beschriebenen Errungenschaften zu entwickeln. Hinsichtlich des Förderalismus befürworteten die meisten Liberalen allerdings noch lange das helvetische Muster zentralisierter Strukturen. Erst mit dem Widerstand der Katholisch-Konservativen und durch den Sonderbundskrieg 1847 wurde 1848 als Kompromiss eine bundesstaatliche, föderalistische Lösung möglich.

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