Das Quartier Plainpalais in Genf ist Anfang des 20. Jahrhunderts ein Zentrum der russischen Emigration. Foto: Jullien Frères, Centre d‘iconographie de la Bibliothèque de Genève.

Die Schweiz als politi­sches Asyl

Peter Collmer

Peter Collmer

Historiker an der Universität Zürich mit Schwerpunkt Osteuropa.

Die Grossmächte hatten der Schweiz eine klare Rolle zugewiesen, als sie 1814/15 die politische Landschaft Europas auf dem Wiener Kongress neu ordneten: Das kleine Alpenland sollte eine fried­liche Mitte bilden und als Puffer die Beziehungen zwischen den umliegenden Monarchien stabili­sieren. Als die Eidgenossenschaft 1847/48 eigen­mächtig ihre Staatsform veränderte und sich in einen liberalen Bundesstaat umwandelte, erschien dies den Wiener Signatarmächten als Affront und Verstoss gegen geltende Prinzipien. St. Petersburg suspendierte bis 1855 den diplomatischen Kontakt. Die ideologische Differenz zwischen der zaristischen Autokratie und der schweizeri­schen Republik verschärfte sich, und gerade in der Asylfrage prallten die unterschiedlichen politi­schen Kulturen fortan immer wieder aufeinander.

Schon vor 1848 war die Schweiz ein attraktiver Zufluchtsort für politisch Verfolgte gewesen. Zentrale Lage und Neutralität trugen dazu ebenso bei wie die Verfestigung einer liberalen natio­nalen Identität seit den 1830er Jahren. Nicht nur das Bekenntnis zu Demokratie und Freihandel, sondern auch der Widerstand gegen Despoten und die verklärte Vorstellung einer bis ins Mittel­alter zurückreichenden Asyltradition prägten zu­nehmend das politische Selbstverständnis der Schweiz. Als sich der junge Bundesstaat gegen äussere Widerstände zu behaupten hatte, er­schien das Recht, Asyl zu gewähren, als ein Prüf­stein intakter schweizerischer Souveränität. Das Zarenregime begegnete all dem mit Unverständ­nis. Auf strikte Untertanenkontrolle bedacht, hatte es im Verbund mit Österreich und Preussen die schweizerische Tagsatzung bereits 1823 zu restriktiven fremdenpolizeilichen Massnahmen im Rahmen des Presse- und Fremdenkonklusums genötigt. In der Schweiz von 1848 erblickte die Zarenregierung einen gefährlichen Revolutions­herd. Sie liess ihre geflohenen Landsleute bespit­zeln, und vereinzelt verübten russische Geheim­polizisten auch Anschläge gegen die Infrastruktur der politischen Emigration.

Pjotr Kropotkin, undatiert. Foto: Nadar. International Institute of Social History, Amsterdam.

Der Bundesrat bemühte sich um Schadensbe­grenzung. Er unterzeichnete 1873 einen bilateralen Auslieferungsvertrag und bot – etwa im Fall des zwielichtigen Revolutionärs Sergej Netscha­jew – Hand dazu, angeblich politische Taten auf ihre kriminellen Aspekte hin zu untersuchen. Mehr­fach wurden Anarchisten des Landes verwiesen, so 1881 Pjotr Kropotkin, der seit 1879 in Genf die Zeitschrift Le Révolté herausgegeben hatte. Gleich mehrere Personen mussten das Land ver­lassen, nachdem sich auf dem Zürichberg 1889 zwei Untertanen des Zaren beim Hantieren mit einer selbstgebastelten Bombe verletzt hatten. Im gleichen Jahr wurde die Stelle eines ständigen Bundesanwalts geschaffen.

Die restriktive Tendenz in der schweizerischen Asylpraxis verstärkte sich während des Ersten Weltkriegs und gipfelte nach der Oktoberrevolution in der Einrichtung einer eidgenössischen Zentralstelle für Fremdenpolizei. Das alles ändert aber nichts daran, dass Flüchtlinge, die sich ruhig verhielten, im 19. und frühen 20. Jahrhundert von den Schweizer Behörden wenig behelligt wur­den. Ein formalisiertes Asylverfahren gab es noch nicht, und namentlich die Auslieferung an eine fremde Regierung aufgrund politisch motivierter Taten blieb weitgehend ein Tabu.

Michail Bakunin um 1860. International Institute of Social History, Amsterdam.

Kolokol (Glocke), Zeitschrift, Genf 1866, Nachdruck von 1964. Universitätsbibliothek Basel.

Georgi Plechanow, undatiert. International Institute of Social History, Amsterdam.

Neben Frankreich und England gehörte die Schweiz zu den wichtigsten Gastländern der revolutionä­ren Emigranten aus dem Zarenreich. Drei Kategorien von politischen Flüchtlingen lassen sich im Wesentlichen unterscheiden. Eine erste Gruppe bildeten die nationalen Freiheitskämpfer, die sich auf dem Gebiet der vormaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik gegen die russische Fremdherrschaft erhoben hatten. In zwei Wellen, nach den gescheiterten Aufständen von 1830/31 und 1863/64, strömten Tausende von polnischen Flüchtlingen nach Westen – nach 1863 auch über 2 000 in die Schweiz. Hier erfuhren die Verfolg­ten besonders aus liberalen und demokratischen Kreisen viel Sympathie. Nach dem Januaraufstand von 1863/64 wurden über 20 kantonale Polenkomitees gegründet, 1870 entstand im Schloss Rapperswil ein polnisches Nationalmuseum.

Eine zweite Kategorie von Politemigranten umfasste individuelle Dissidenten, die das Schweizer Exil schon früh als Ort der freien Meinungsäusserung und der Publikation politischer Schriften nutzten. Prominentester Vertreter dieser Gruppe war der Schriftsteller Alexander Herzen, der 1849 vor der französischen Polizei in die Schweiz flüch­tete und zwei Jahre später das Bürgerrecht von Châtel (Burg) bei Murten erhielt. Zusammen mit Nikolai Ogarjow gab Herzen die revolutionäre Zei­tung Kolokol (Glocke) heraus, die ab 1865 in Genf gedruckt wurde. Herzen verkörperte eine ältere Generation der politischen Emigration, die den Anschluss an die Entwicklungen in Russland all­mählich verlor. Ganz anders der Anarchist Michail Bakunin, der seit den 1840er Jahren ebenfalls immer wieder in der Schweiz lebte: Er begeisterte sich für den revolutionären Elan der Jungen und scharte bis zu seinem Tod selber zahlreiche An­hänger um sich.

Damit sind wir bei der dritten und wichtigsten Kategorie angelangt – eben bei jener neuen Generation von Revolutionären, die sich seit den 1860er Jahren in steigender Zahl in der Schweiz niederliessen. In Russland waren diese Personen oftmals an Studentenunruhen oder sozialrevolutionären Agitationen beteiligt gewesen. Nicht nationale Freiheit stand auf ihren Fahnen, sondern die radikale Umgestaltung der Gesellschaftsordnung. Stärker als die frühen Exildissidenten blieben sie den subversiven Netzwerken der Heimat verbunden, konsequenter ging bei ihnen die abstrakte Reflexion mit einem – oft auch gewalt­bereiten – Pragmatismus einher. Dabei sind viele Untergruppen zu verzeichnen, die sich unter an­derem in ihrer Haltung zum Terror unterschieden.

Die Anhänger der Kampfformation Narodnaja Wolja (Volkswille), die 1881 ein erfolgreiches Attentat auf Zar Alexander II. verübt hatte, gaben 1883 bis 1886 in Genf ihren Westnik Narodnoj Woli (Bote des Volkswillens) heraus; ihnen folgten spä­ter die Vertreter der terrorbereiten Untergrundpartei der Sozialrevolutionäre. 1906 kam es gar zu einem Anschlag auf Schweizer Boden, als die junge Russin Tatjana Leontjewa im Grandhotel Jungfrau in Interlaken einen Rentner erschoss – in der irrigen Meinung, es handle sich um einen vormaligen russischen Innenminister. Demgegenüber hatte sich bereits in Russland 1879 ein Kreis von Terrorgegnern um Georgi Plechanow, Pawel Axelrod und Wera Sassulitsch formiert. Aus diesem Lager heraus entstand 1883 in Genf die marxistische Gruppe Oswoboschdenie Truda (Befreiung der Arbeit), die wiederum zu den Vorläufern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands zählte. Letztere publizierte ihre Zeitschrift Iskra (Funke) zeitweilig ebenfalls in Genf.

Insgesamt boten sich auch den Politemigranten dieser dritten Kategorie vorteilhafte Bedingun­gen in der Eidgenossenschaft. Im Gegensatz zu den polnischen Freiheitskämpfern konnten sie zwar nicht mehr mit einer grossen Solidarität der Schweizer Bevölkerung rechnen. Doch auch sie profitierten von den Freiheiten ihres Gastlandes und fanden hier eine bereits gut organisierte Kolonie kritisch gesinnter Landsleute vor.

Iskra (Funke), Nummer 18 vom März 1902. Universitätsbibliothek Bern.

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